Schweitzer Fachinformationen
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Es war einmal eine Frau, die lebte in der Wüste, und ihr Name war Daisy Bates. Ich habe eine Reihe von Fotografien dieser Frau auf dem Tisch vor mir ausgelegt, wie Spielkarten vor einer Partie Patience. Ich betrachte die Bewegung von der Jugend zum Alter, einem außergewöhnlich hohen Alter, und trotz der wechselnden Masken der Zeit erkenne ich mühelos immer wieder dasselbe herausfordernde Gesicht, denselben kerzengeraden Körper.
Ein Ohrring hängt am kleinen rechten Ohrläppchen der jungen Frau, die mit blassen Augen seitwärts in die Ferne blickt. Wie alt mag sie sein, zwanzig vielleicht? In diesem Fall hat sie noch einundsiebzig Jahre ihres Lebens vor sich, all die Kämpfe, all das Anrennen gegen verschlossene Türen und die Macht der Umstände. Ich versuche von ihrem Gesicht abzulesen, ob sie so wohlhabend ist, wie sie es später behauptete, oder so arm, wie sie mit einiger Wahrscheinlichkeit gewesen sein könnte. Daisy Bates war eine Lügnerin, wenigstens da bin ich mir sicher; aber das Ausmaß und die genauen Einzelheiten ihrer Lügen bleiben unwegsames Gelände, für das es keine verlässlichen Karten mehr gibt.
Ich mache einen Zeitsprung, und das Subjekt meiner Nachforschungen ist nun mittleren Alters, steht, wie ich jetzt, an jenem Scheitelpunkt im Leben, wo sich Vergangenheit und Zukunft gerade noch die Waage halten. Ihre Hände, in weißen Handschuhen, hat sie im Schoß übereinandergelegt.; sie trägt einen schwarzen Rock, eine weiße Bluse mit hohem Kragen, eine schwarze Krawatte, einen schwarzen Turban von einem Hut, der aussieht, als eigne er sich auch gut als Teekannenwärmer, und eine schreckliche Brille mit runden dunklen Gläsern, die sie finster aussehen lässt, Furcht einflößend, stolz, gefährlich; in jeder Hinsicht so schwierig, wie eine Frau ihres Schlages nur sein konnte. Ich meine, durch das dunkel getönte Glas hindurch gerade noch ihre Augen zu erkennen, und wieder scheint sie ihren Blick von der Kamera fortzulenken, aber jetzt liegt etwas Hochmütiges in ihm; als möchte sie ihre Zeit nicht damit verschwenden, nach vorn zu sehen, wo es doch anderswo so viel wichtigere Dinge wahrzunehmen gilt.
Die nächste Aufnahme, die ich ausgewählt habe, könnte irgendwo auf der Nullarbor Plain entstanden sein, jener baumlosen Ebene im Süden Australiens. Man sieht, wie sich um sie herum das Land erstreckt, eine riesige konturenlose Fläche, die sich ohne die geringste Abwechslung, einen kleinen Busch etwa oder eine kleine Erhebung, in der Unendlichkeit verliert. Daisy Bates sitzt auf einem Stuhl, inmitten dieser Ausdehnung, ihr Rücken so steif und gerade wie immer, und ich kann nirgends ihr Zeh entdecken. Neben ihr auf der Erde steht eine kleine Teekiste und ein wenig weiter weg, links von ihr, ein großer, nicht identifizierbarer Gegenstand unter einem Leintuch; sie ist vielleicht gerade dabei, ihr Lager zu verlegen - dann wären diese Dinge ein Teil ihrer Habe, verpackt und bereit zum Aufbruch. Sie trägt eine elegante, schwarz und weiß gestreifte Jacke, nicht zugeknöpft, und einen weichen Hut von unbestimmter Form tief über den Kopf gezogen - sie sieht traurig aus und ernst, aber sehr schön. In ihrem Schoß hat sie ein weißes Tuch ausgebreitet, darauf liegt ein menschlicher Schädel ohne Unterkiefer. Möglicherweise wurde das Foto gemacht, um zu illustrieren, dass ihrer Ansicht nach die Aborigines eine vom Untergang bedrohte Rasse seien, dass diese Menschen bald alle tot und vom Erdboden verschwunden sein würden, ohne dass dies irgendjemanden außer Daisy Bates kümmern würde, ohne dass irgendjemand außer Daisy Bates Zeugnis ablegen würde von ihrem Leben und ihrem Sterben; aber auch das lässt sich nicht mit Sicherheit sagen; es könnte sich ebenso gut um den Schädel eines weißen Mannes oder einer weißen Frau handeln.
Und hier schließlich Daisy Bates gegen Ende ihres Lebens, eine Frau in den hohen Achtzigern, die Haut am Hals schlaff, reptilartig; die Linien ihres Gesichts sind so tief gefurcht, dass ihr Kinn weit hinten an Scharnieren zu hängen scheint, wie bei einer Bauchrednerpuppe; aber auch die senkrechten Fältchen in ihren Wangen und die waagrechten, die ihre Stirn durchqueren, wären wohl für Hände zu spüren, die im Dunkeln behutsam nach ihnen tasteten. Der englische Gesellschaftsfotograf Douglas Glass hat die Aufnahme gemacht. Er hielt sich 1948 einige Tage in Adelaide auf, wo er auf das Schiff zurück nach England wartete, und er begann bei dieser Gelegenheit, sich nach Daisy Bates zu erkundigen. Er hatte ihr Buch The Passing of the Aborigines gelesen und muss damals wohl schon eine ganze Menge von ihr gehört haben, denn sie war inzwischen so etwas wie eine Legende geworden, vor allem in diesem Teil Südaustraliens. Alle, die er fragte, behaupteten, sie sei gestorben; vor einigen Jahren, in einem Krankenhaus; erst vor Kurzem, in Streaky Bay, nein, in Yuria Waters, weiter unten an der Küste. Es hieß, sie sei sehr traurig gewesen, geistig verwirrt, in die Irre geleitet, ein guter Mensch, tapfer, schlecht; die Eingeborenen hätten sie einfach verlassen - Bettler und Trinker und Syphilitiker -, nein, die Eingeborenen seien bei ihr geblieben, bis zum Ende, große Trauer. Endlich fand er ihre Spur. Sie lebte in einem kleinen Vorortbungalow gleich außerhalb von Adelaide, wo sich eine befreundete Dame um sie kümmerte, von der sie allerdings nicht viel zu halten schien. Der Besuch des Fotografen bereitete ihr ganz offensichtlich großes Vergnügen. Sie zog das Kostüm an, das sie 1905 in Perth hatte anfertigen lassen, ihr bestes, nahm ihren Schirm fest in die eine Hand, die Handtasche in die andere und setzte sich auf der Veranda für ein Foto in Pose: eine betagte Kaiserin auf ihrem Thron. Im Garten blühten Gänseblümchen. Sie pflückte ein paar daisies, hielt sie zwischen Finger und Daumen und blickte gedankenversunken auf die Blumen, denen sie ihren Vornamen verdankte. Dann ging sie in ihr kleines Zimmer, setzte sich, wobei die Sonne durch ihre weißen Haarsträhnen hindurchleuchtete, und gab sich den Anschein, als lese sie gerade mit dem Vergrößerungsglas in ihren Aufzeichnungen. Sie führte Mr Glass hinaus in den briefmarkengroßen Garten und zeigte ihm, dass sie immer noch imstande war, mit den Fingerspitzen ihre Zehen zu berühren, die Arme wirbeln zu lassen wie die Flügel einer Windmühle, und wie sie immer noch hüpfen konnte: auf, und hoch, und noch einmal. »Schauen Sie nur, Mr Glass, schauen Sie!« Mrs Bates, neunundachtzig Jahre alt, hüpfend in einem Feld von Gänseblümchen - oder doch wenigstens am Rand eines Blumenbeets, in dem ein paar Büschel Gänseblümchen blühen. Sie lacht: »Nun, Mr Glass. Die Aufnahmen müssen Sie an die Zeitungen schicken. Das wird den Leuten zeigen, dass ich noch keineswegs tot bin - und auch noch gar nicht daran denke, es gibt noch so viel zu tun.«
Ich stelle mir vor, Mrs Bates hat Mr Glass alles über ihr Leben erzählt, besonders über die Zeit, nachdem sie ihre Aufgabe in der Wüste gefunden hatte. Ihre Stimme war tief, weich und klar, auch noch im hohen Alter, und auch im hohen Alter noch nahm sie selbstverständlich an, dass jeder Mann, der ihr gefiel, nichts lieber tun würde, als sie in seine Arme zu schließen - wenn sie es nur zuließe. Ich stelle mir vor, wie sie stundenlang ohne Unterbrechung redete, der Monolog eines isolierten Menschen, der die Fäden seiner privaten Gedanken hier und da in Briefen und Gesprächen durchschimmern lässt, selbst in Gesprächen mit Fremden. Aber vielleicht ist sie jetzt viel zu alt, um so zu reden, und sitzt stattdessen auf der Veranda, trinkt Tee, lächelt und lässt es bei winzigen Schnipseln von Information bewenden, die in der Luft schweben wie Rauch.
Könnte ich den Text diktieren, könnte ich ihre Gedanken, so wie ich sie mir vorstelle, in die Sprache umsetzen, die dieser Vorstellung entspricht, dann würde sie das Gespräch etwa so begonnen haben: »Ich war einmal sehr schön, Mr Glass, aber nun bin ich stattdessen sehr alt, wie Sie sehen« - hier würde Sie eine kleine Pause machen, ihm Gelegenheit geben, sie anzusehen, sie anzulächeln mit der verständnisvollen Vertrautheit dessen, der nicht lange bleiben wird, ihn ermutigen, die Bürde des Alters von ihren Schultern zu streifen. Sie verschweigt ihm, dass sie sich immer noch jeden Morgen nackt vor den Spiegel stellt, dass ihr aus diesem Spiegel - ihre Augen sind trüb geworden vom ewigen Sand - wieder die rosige, zarte Erscheinung eines jugendlichen Körpers entgegenschimmert. Sie verschweigt es ihm, aber sie schaut in seine Augen, und einen flüchtigen Augenblick lang kann sie sich darin sehen, so, wie sie einmal war.
Eine alte Dame spricht mit einem jungen Mann, bestrebt, ihn zu bezaubern, ihn mit der komplexen Einzigartigkeit ihrer Geschichte zu beeindrucken, sodass er etwas davon mitnimmt, wenn er geht, ihr hilft, sich selbst zu überleben. So entsteht sie vor mir, indem sie spricht, und wenn sie gelegentlich vielleicht mehr sagt, als sie jemals in einem tatsächlichen Gespräch gesagt hätte - hätte sagen können -, so liegt es daran, dass ich ihr erlaube, ihren Gedanken so viel Ton zu geben wie ihrer Stimme.
»Ich habe beinahe dreißig Jahre lang in der Wüste gelebt«, sagt sie, »deshalb ist mein Gesicht so zerfurcht. Sehen Sie, die Sonne hat dunkle Flecken auf die Flaut meiner Hände, meines Gesichts, meines Halses gebrannt - trotz Handschuhen und Hüten mit langen Schleiern. Meine Augen sind so müde, Mr Glass, und manchmal frühmorgens habe ich beim Aufwachen das Gefühl, als öffnete ich meine Augen in einen Sturm von Hitze...
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