Schweitzer Fachinformationen
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Im Traum habe ich keine Vorausahnung dessen, was bald geschehen wird. Es ist ein fast glücklicher Traum, belanglos und ungefährlich. Ich träume von Emma, die neben mir liegt. Es ist ein Traum ohne Stress, ohne Tränen und Mutlosigkeit, ohne Schule und Hausaufgaben und zu frühe Morgen. Wir sind an einem Strand, vielleicht an dem Strand auf Lanzarote, wo wir alle zusammen waren, vor zwei Jahren, ehe Hanne beschloss, in den Norden zu ziehen. Hanne hält meine Hand. Wir stehen im Sonnenuntergang und sehen Emma auf einem Pferdchen reiten. Das ist so klein, dass wir es fast nicht glauben können. Und dann kann es reden, genau wie die Tiere in den Animationsfilmen, die Emma liebt. Das Pferd hat den gleichen Mund wie das Zebra in »Madagascar«. Es spricht Spanisch, aber wir verstehen trotzdem, was es sagt. Und dann prusten wir los. Es sagt so viele komische Dinge. Wörter, die nur im Traum verständlich sind, nicht aber in wachem Zustand. Es läuft mit Emma auf dem Rücken umher und macht plötzlich Luftsprünge. Nun lacht Emma noch mehr. Sie lacht so, wie sie vor zwei Jahren gelacht hat. Das fröhliche Lachen, das nur sieben Jahre alte Mädchen haben können, kein Babylachen, kein Erwachsenenlachen, sondern genau dieses Mädchenlachen. Der Besitzer des Pferdes ist alt, aber freundlich. Er heißt José Saramago. Wir stecken ihm einen Euroschein zu. Er verbeugt sich tief, fast übertrieben. Und ich merke am Blick, den Hanne mir zuwirft, dass wir beide erleichtert sind, unsäglich erleichtert, jedenfalls für den Moment. Weil wir an einem goldenen Strand sind. Weil es in dieser Landschaft keine Jade gibt. Weil Emma lacht.
Als ich aufwache, fällt mein Blick sofort auf den digitalen Wecker, und ich höre die allerfrühesten Morgennachrichten im Radio. Es ist früh, viel zu früh, und Emma schläft. Das traurige Gefühl hat mich durch die Nacht begleitet, die Gewissheit, dass heute die Herbstferien beginnen und dass ich sie zu Hanne bringen werde, den ganzen Weg nach Sandnessjøen, ich werde sie abliefern und den Flughafen nicht einmal verlassen, sondern mit demselben Flugzeug zurückfliegen, denn so steht es jetzt zwischen Hanne und mir. Was Emma denkt, weiß ich nicht. Sie schläft noch, schläft wie aus Trotz, als ich jetzt das Radio lauter drehe, zum Klassiksender des NRK wechsle, nachdem ich mit einem Gefühl der Hoffnung registriert habe, dass es auf Gardermoen Nebel gibt und Flugreisende mit Verspätungen rechnen müssen. Aus dem Radio dröhnt eine Symphonie von Honegger. Aber die wütenden Bläser und die kreischenden Violinen können Emma nichts anhaben. Ich muss sie schütteln und sagen, jetzt, meine Kleine, jetzt fliegen wir bald, bis nach oben zu Mama.
Mama?, fragt sie, öffnet die Augen als Zeichen dafür, dass sie noch weiß, dass Ferien sind und sie nicht in die Schule muss. Freust du dich, mein Schatz? Ja, ich freu mich, Papa, sagt sie solidarisch, denn sie weiß, dass Hanne und ich das von ihr hören wollen, obwohl sie auch weiß, dass ich es eigentlich überhaupt nicht hören will.
Alles ist fertig gepackt. Ich merke sogar nach dem eiskalten Wasser, mit dem ich meine Morgendusche immer abschließe, dass ich am Vorabend zu lange aufgeblieben bin. Wegen der Arbeit, die ich immer mit nach Hause nehme. Tuvas Manuskript mit den letzten Korrekturen. Tuva Skrede. Die seit mehreren Jahren eine Freundin ist. Die langen Essen mit einem Buchmanuskript zwischen uns. Sie trinkt zu viel. Wir trinken zu viel, alle beide. Die vielen Geständnisse. Ihre Art, zuzuhören. Als wäre sie zugänglich, wenn ich wollte. Ein gefährlicher Gedanke. Ein hochmütiger Gedanke. Sie hat es doch geschafft, sich von ihrem Mann zu trennen, sich eine eigene Wohnung zu suchen, einen tragbaren Alarm zu bekommen.
Danach das Packen und die ewigen Überraschungen. Ich hatte vergessen, die Wollunterwäsche zu waschen, obwohl das ganz oben auf der Emma-Merkliste stand. Also muss ich es Hanne sagen, ihrer Mutter, dass Emmas hellblauer Koffer mit dem Tiger-Aufkleber aus »Pu der Bär« nicht vollständig ist, dass es gewisse Mängel gibt, die sie sofort bemerken und bei nächster Gelegenheit gegen mich verwenden wird, auch wenn die Situation unklar ist und es durchaus nicht feststeht, dass Emma im nächsten Jahr in den Norden ziehen wird.
Wir frühstücken in aller Eile. Emma protestiert nicht mehr, sie ist erst einmal mit dabei. Die grenzenlose Traurigkeit, die sie so oft streift, wenn sie zur Schule muss, ist an diesem Morgen verschwunden. Emma ist stets dann weniger einsam, wenn sie weiß, dass sie den ganzen Tag mit uns zusammensein wird und nicht die lange große Pause hindurch auf dem Schulhof herumirren muss ohne eine einzige Spielkameradin, was noch immer unerträglich ist und wogegen etwas unternommen werden muss, gegen das aber weder ich, noch die Lehrerin oder die anderen Eltern etwas unternehmen können. Die Ohnmacht, Aslak Timbereid zu sein, ein überarbeiteter Verlagslektor Mitte vierzig, zeitweise alleinerziehender Vater eines Mädchens, das mehr Hilfe und Unterstützung braucht als normal.
Und was ist normal?, überlege ich, während ich sie überrede, ihre Milch zu trinken, extra viel Marmelade ins Müsli rühre und sage, dass wir jetzt zum Flughafenzug müssen, weil das Auto in der Werkstatt ist und außerdem Nebel in Gardermoen.
Auch in Oslo ein nebliger Oktobermorgen, offenbar Verspätungen im Nahverkehr, überall in der Stadt heruntergefallene Oberleitungen. Die Freude darüber, dass immerhin der Flughafenzug fährt, da Hanne und ich nun einmal diesen Entschluss gefasst haben, die Freude darüber, dass ich mir noch immer die Wohnung in der Sorgenfrigate leisten kann, von der aus alles zu Fuß erreichbar ist. Emma ist von Kopf bis Fuß neu eingekleidet, eine wandelnde Reklame für Hennes & Mauritz, abgesehen von den Schuhen, die ich in einem Augenblick der Schwäche bei Agnar Hagen gekauft habe. Sie ist reizend, ohne das selbst zu wissen, hat noch nicht dieses Bewusstsein, das viele andere Mädchen aus ihrer Klasse bereits haben, wenn sie sich verstohlen auf dem Schulhof umschauen und in einer Gemeinschaft zueinander streben, zu der Emma keinen Zutritt hat, aus welchem Grund auch immer. Ihre feste Hand in meiner, stehen wir auf der Rolltreppe hinunter zum Bahnhof Nationaltheatret, ihr mittelgroßer Koffer mit den vielen Winterkleidern, auch wenn die bestimmt zu warm sind. Der kleine hellblaue Rucksack mit den Blümchenaufklebern. Finden Sie fünf Fehler. Nein, finden Sie nur einen: Papa hat seinen eigenen Koffer nicht gepackt, um mit ihr gemeinsam zu reisen.
Aber er lässt sich nichts anmerken. Natürlich gebe ich ihr das Gefühl, das hier wäre gewollt, auch meinerseits. Sie darf auf keinen Fall durchschauen, wie es mir davor graust, sie herzugeben, wie ich Angst habe, wenn ich an Hannes wilde Einfälle denke. Bergtouren auf einen Gipfel der Sieben Schwestern? Steile Hänge, bei denen es Spaß macht, nach unten zu schauen? Ich habe mich nie auf sie verlassen. Deshalb vielleicht . Deshalb was? Ist sie gegangen? Das alles ist jetzt Vergangenheit. Auch an diesem Morgen, als ich hier mit meiner Tochter im Flughafenzug sitze, innerlich ganz krank, eine übertriebene Verzweiflung, alle diese Jahre mit dem Wein haben mein Nervensystem geschwächt, ich sehe das Schwere, ehe ich das Leichte sehe, so bin ich erzogen worden, es ist zudem meine Arbeit, die Schwächen zu finden, zu korrigieren. Finden Sie noch einmal fünf Fehler. Ich finde viel mehr. Und einer davon ist, dass ich, seit Emma da ist, nicht mehr allein sein kann. Wie soll diese Woche werden?, denke ich, als ich da im Zug sitze und die englischen Floskeln übersetze, die dauernd in ihrem Nintendo-Spiel auftauchen. Früher wäre eine Woche allein wie ein Traum gewesen. Später Abend im Verlag, Licht in einem einzigen Fenster, nur ich und der Nachtwächter, dann ein Abstecher ins Arcimboldo, der Treffpunkt von damals, ein Gespräch mit einem Autor, ein Rat, von dem ich weiß, dass er gut ist, die Wohnung für mich allein, das Notwendigste im Kühlschrank, vielleicht einige neue Versuche an dem Roman, der einmal erscheinen wird, der erscheinen muss. Aber jetzt? Ich werde sie jede Stunde des Tages vermissen. Werde sie physisch vermissen, ohne die Möglichkeit, hinter einem Pfosten bei der Schule zu stehen, sie zu beobachten und dafür zu sorgen, dass das Mobbing gegen sie nicht vom passiven und doch so aktiven Ausschluss in körperliche Bestrafungen umschlägt. Der bloße Gedanke ist eine Erinnerung daran, dass ich um ein Gespräch mit ihrer Klassenlehrerin bitten muss, um ihr zu erklären, dass gerade die Höflichkeit, die sie den Kindern einzuprägen versucht, Emma zu einer hilflosen Fragerin macht, die immer nur nein hört: Darf ich mitspielen? Bitte! Darf ich mitspielen? Das darf sie nie.
Sie starrt auf ihr Nintendo und merkt erst, als alle im Wagen aufstehen, dass wir am Flughafen angekommen sind. Der massive Morgenandrang. Der Schlafgeruch der Körper, die dich anstoßen, die auf der Rolltreppe zwei Stufen auf einmal nehmen müssen. Wir lassen uns treiben, Emma und ich. Sie mit der Hand fest in meiner. Warum passt das so gut zusammen, eine kleine Hand und eine große? Ihre dünnen, starken Finger. Wo ist das Flugzeug,...
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