Schweitzer Fachinformationen
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| MONTAG |
»Wenn du ein guter Fischer sein willst, musst du denken wie ein Fisch.«
Onkel Ivar schaut mich direkt an. Obwohl seine Stirn klatschnass geschwitzt ist, sitzt sein strenger Seitenscheitel perfekt. Wir stehen auf der Böschung neben dem Bootshaus. Der Storsenn-See erstreckt sich westlich von uns, und das viel weitläufiger, als ich es in Erinnerung hatte. Ivar blinzelt im herrlichsten Herbstwetter. Er trägt hohe Gummistiefel, eine Feldjacke, gestrickte Fäustlinge und einen Krempenhut mit Ohrenklappen. Wir sind zwar nur vier Kilometer vom Parkplatz gelaufen, aber für Ivar müssen es vier Meilen gewesen sein. Nach vorne gebeugt und keuchend kämpfte er sich hierher. Die Schwerkraft und seine schwer beanspruchten Lendenwirbel drückten ihn zu Boden. Zwei Mal stürzte er; zuerst, als er einen falschen Schritt setzte, woraufhin er seitwärts fiel. Sein Rucksack und er lagen ineinander verkeilt in ein paar jungen Bäumen. Er zischte wie eine Kreuzotter, als ich ihn nach oben hievte. Kurz darauf fiel er auf dem Trampelpfad einfach nach hinten und klemmte seinen Hintern zwischen zwei Steinen ein. Als ich ihm zu Hilfe eilte, drosch er mit seinem Stock auf mich ein. Er befreite sich auf eigene Faust, indem er vor- und zurückschaukelte. Danach hinkte er mit dem rechten Fuß.
Ich dachte bei mir, dass mein Onkel nicht mehr für so wilde Aktionen wie Herbstfischen in kalten Bergseen taugte. Sein Gleichgewichtssinn, sein Sehvermögen und sein Gehör waren inzwischen lausig, er fror ständig an den Händen und ginge ohne Frage unter wie ein Stein. Sein Mundwerk jedoch, das funktionierte immer noch einwandfrei. Seit ich ihn morgens abgeholt hatte, hatte er mir noch keine einzige Frage gestellt. Nicht der kleinste Anflug eines Dialogs, purer Monolog, keinen ganzen Satz hatte ich rausgebracht, nur: »ja«, »aha« und »mhm«. Ivar hingegen hatte durchgehend gesabbelt: »Hier war mal eine Hochebene. Hier gab es mal eine drei Kilo schwere Lachsforelle. Hier hatten wir mal im August Schnee. Hier beteten sie früher Feuer und Mond an. Hier standen mal zwei Fischerhütten, die ältere aus Stein und Erde. Hier lag immer das Boot, das früher mal ein Floß war. Hier stand mal die Milchkuh, die dein Großvater diesen einen Herbst dabeihatte, nachts wurde sie mit einer Decke zugedeckt, damit sie nicht fror, das Bootshaus war ihre Scheune - so sicherte dein Großvater sich Milch und Nahrung sowie Gesellschaft. Er patrouillierte am See mit einem Silberstab, der Griff diente als Revolver und der Stock als Gewehrlauf. So waren deine Vorfahren, Jon. Harte Kerle, bis in die achtzehnte uns bekannte vergangene Generation hinein.«
Es ist drei Uhr nachmittags. Der See liegt direkt unter tausend Metern, glitzert dunkelblau und verführerisch. Ivar windet sich aus seinem Rucksack. Er setzt sich an den Steintisch. Als er sich aufrichtet, verzieht sich sein Gesicht vor Schmerzen, dann holt er tief Luft und sagt:
»Ich möchte, dass du all das hier bekommst, Jon. Den See, das Boot, das Bootshaus, den Hof und alles Drumherum. Mir wäre wohler, wenn es jemand bekäme, der ein bisschen beherzter an die Arbeit geht. Leider hab ich aber geschworen, dass Storsenn in der Familie bleibt. Mein Leben lang hab ich gepredigt, dass Eigentum kommt und geht, dass es Leute gibt, aber nur sehr selten Menschen, dass wir Füße haben, keine Wurzeln. Das gilt aber nicht für Storsenn. Das muss in der Familie bleiben.«
Ich stand wie versteinert. Fand keine Worte.
Als Junge war ich einmal hier gewesen. Mein Vater und Ivar hatten mich bei Sonne und bestem Sommerwetter auf einen Sonntagsausflug mitgenommen. Ivar wollte eine Runde mit mir rudern gehen, also schoben wir das Boot raus. Papa blieb beim Bootshaus sitzen. Als wir auf dem Wasser waren, packte mich die Angst, und ich weinte. Der See wirkte riesig, schwarz und tief. Wir hatten keine Schwimmwesten dabei, weder Ivar noch ich konnten schwimmen. »Schau niemals nach unten, wenn du dich fürchtest. Immer nach oben«, erklärte er mir. Ich legte mich im Boot auf den Boden, wurde nass am Rücken, weil das gute Stück an mehreren Stellen leckte, und beobachtete die Wolken und ihre rasch an mir vorbeiziehenden Formationen. Ich tat also das krasse Gegenteil von dem, was er mir geraten hatte, ließ meinen Blick schweifen und träumte mich in Papas sicheren Schoß an Land, bis ich aufhörte zu weinen.
Jetzt stehe ich hier, auf der kleinen Angelwiese, mit dem ausgemergelten und nach Luft schnappenden Ivar, der auf meine Reaktion wartet. Er hat mich schachmatt gesetzt, und das Einzige, was ich rausbringe, ist:
»Ich?«
»Genau, du. Unglaublich, nicht wahr?«, antwortet Ivar.
Mir war klar gewesen, dass Ivar etwas Wichtiges vorhatte. Schon damals, als er sich vor sechs Monaten bei mir meldete und wir den Ausflug vereinbarten. Als er anrief, befand ich mich gerade im Proberaum und wartete auf die anderen Bandmitglieder. Wir wollten ein paar alte Lieder aufpeppen, vielleicht sogar ein paar neue einstudieren; mit etwas Glück standen im Sommer ein paar Auftritte an. Es lief bei mir. Man konnte nicht gerade behaupten, dass ich im Alltag besonders vielen Herausforderungen begegnet wäre, aber es lief, und das war mir wichtig. Trotzdem versprach ich meinem Onkel, ihn in dieser Woche zu begleiten, und fand mich ganz schön großzügig, als ich zusagte. Für Ivar war es eine Selbstverständlichkeit. Als wir auf den Parkplatz einbogen, zeigte er auf eine bestimmte Stelle und sagte:
»Ich parke für gewöhnlich dort. Also machst du das nun auch.«
Obwohl niemand sonst auf diesem riesigen Parkplatz stand, parkte ich das Auto dort. In dem Augenblick, in dem die Handbremse gezogen war, war Ivar schon am Kofferraum, wo er bald darauf seinen Rucksack schulterte, seinen Gehstock aus Birke herausfummelte und wackelig, aber bereit auf mich wartete. Ich kramte meinen Rucksack voller Bettzeug, Wechselwäsche, Ausflugsproviant und Getränke raus. Da hatte ich ganz schön was zu schleppen. Zu guter Letzt hängte ich mir meine liebste Flohmarktgitarre quer über die Brust, und wir machten uns auf den Weg. Zweihundert Höhenmeter, vier Kilometer.
»Wir haben Füße, stimmt schon, aber ganz schön viele wünschen sich Wurzeln«, sagte ich.
Eine offene Antwort, eine bessere fiel mir auf die Schnelle jedoch nicht ein. Sollte ich Storsenn als ein Geschenk betrachten? Dankend annehmen? Ich, der es liebte, unterwegs und frei zu sein. Hiermit würde ich mir Arbeit und Verantwortung aufbürden. Hätte ich nur jemanden gehabt, mit dem ich sie hätte teilen können, doch auch damit konnte ich nicht dienen. Ist es eigentlich möglich, allein Netzfischen zu gehen?
Ivar atmete tief ein, schüttelte den Kopf, schaute mich resigniert an und holte ein Brillenetui und ein nigelnagelneues blaues Notizbuch aus seinem Rucksack. Zwischen zwei Seiten lag ein Brief, den er mir vorlas:
»Ich, der Unterzeichnende Ivar Heldesson Aal, wohnhaft in Ål, übertrage hiermit meinem Neffen, dem Sohn meines Bruders, Jon Aslesson Aal, wohnhaft in Ål, meine Fischereirechte im See Storsenn, Hofnr. 130, Gebäudenr. 2, in der Kommune Ål. Darin inbegriffen sind die dazugehörige Wohneinheit und das Bootshaus samt Inventar, 30 Fischernetze und ein Boot. Die Kaufsumme beträgt 200 000 NOK. Hinzu kommen bewegliche Güter im Wert von 50 000 NOK. Nebenkosten des Verkaufes werden vom Käufer gedeckt. Jon Aslesson Aal übernimmt das Eigentum an Ort und Stelle. Am Eigentum lastet keine Grundschuld. Keine Konzession notwendig, da der Käufer der Neffe des Verkäufers ist.
Ål, 31. August 2013. Ivar Helgesson Aal.«
»Dem Amtsgericht in Hallingdal habe ich bereits eine Kopie hiervon übermittelt. Schließlich weiß man ja nie, wie lang man noch hat.«
Und schon streckte er mir das Notizbuch und einen Stift entgegen.
»Notier alles, was in den nächsten Tagen gesagt oder getan wird. Ich erkläre es dir nur ein einziges Mal. Nächstes Jahr musst du das alles selbst hinkriegen.«
Wir gehen zum Ufer. Zur Vorderseite des Bootshauses. Der Storsenn sieht von Land aus kristallklar aus. Wasser und Licht lassen seinen Grund grünlich scheinen. Kein Schlamm, keine Vegetation, nur Berge, kleine und große Felsen, die von Wind und Eis reingewaschen und an den ihnen zugedachten Platz befördert wurden. Ich sehe kein Leben, keine Fische.
»Reich mir diesen hier«, befiehlt Ivar, während er auf einen kleinen, flachen Stein zeigt, der im Wasser direkt vor mir liegt.
Ich hole ihn raus, und Ivar bittet mich, ihn umzudrehen.
»Hier siehst du den Futtertrog der hier heimischen Forelle.«
Er zeigt auf mehrere kleine Insekten, die an dem nassen Stein hängen, und setzt hastig seine Brille auf.
»Zwei Wasserkrebse, eine Schnecke, eine Linse, zwei Larvengehäuse. Wären wir zur Sommerzeit hier, sähen wir Frühlingsfliegen und fliegende Ameisen, über der gesamten Wasseroberfläche tummelten sich frisch geschlüpfte Eintagsfliegen, und bekannte und unbekannte Insekten wuselten herum, deren Namen es einfach zu lernen gilt, doch wie auch immer, alles zusammen Lachsforellenfutter.«
Ivar wirft den Stein wieder ins Wasser. Ich drehe mich Richtung Land. Dicht neben einer großen Fichte, fünfzig Meter hinter dem Bootshaus, steht das Klohäuschen. Seine graue Holzfront lässt es mit seiner Umgebung verschmelzen. Ein Wellblechdach und die Tür zur Landseite hin. Schließlich ging es nicht um einen idyllischen Ausblick, als die Sanitäranlage errichtet wurde. Auf die korrekte Abflusstechnik hingegen wurde penibel geachtet.
Ivar geht zur langen...
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