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Bücher vs. Leben: 1:0
Die fremde Frau in der Hauptstraße von Hope sah schon fast erschreckend alltäglich aus. Eine magere, nichtssagende Gestalt in einem Herbstmantel, der für diese Jahreszeit viel zu warm und grau war. Ein Rucksack lag zu ihren Füßen, und an einem der schlanken Beine lehnte eine riesige Reisetasche. Die Bewohner der Stadt, die zufällig ihre Ankunft gesehen hatten, fanden es im Grunde unhöflich, sich so wenig um das eigene Aussehen zu kümmern. Als ob diese Frau nicht das geringste Interesse daran hätte, einen guten Eindruck auf sie zu machen.
Ihre Haare waren von einem undefinierbaren Braun, weder richtig hell noch richtig dunkel. Sie wurden von einer achtlos befestigten Haarspange gehalten und fielen in unordentlichen Locken über ihre Schultern. Wo sich ihr Gesicht hätte befinden sollen, war stattdessen Louisa May Alcotts »Ein Mädchen aus der alten Schule« zu sehen.
Die Fremde schien sich offenbar wirklich nicht dafür zu interessieren, dass sie in Hope war. Als ob sie zufällig dort gelandet wäre, einfach so mit Buch und Gepäck und ungekämmten Haaren und allem, und ebenso gut in jeder anderen Stadt hätte sein können. Sie stand in einer der schönsten Straßen von Cedar County, vielleicht der schönsten in ganz Süd-Iowa, aber sie hatte für nichts anderes Augen als für dieses Buch.
Ganz uninteressiert konnte sie aber dennoch nicht sein. Ab und zu lugten zwei große graue Augen über den Rand des Buches, wie ein Präriehund, der den Kopf hebt und sich davon überzeugen will, dass keine Gefahr droht.
Das Buch wurde noch ein wenig gesenkt, und sie schaute zuerst nach links, um dann ihren Blick so weit nach rechts schweifen zu lassen, wie sie nur konnte, ohne den Kopf zu drehen. Dann hob sie das Buch wieder und schien sich abermals in die Geschichte zu vertiefen.
In Wirklichkeit hatte Sara sich inzwischen fast jedes Detail dieser Straße genau eingeprägt. Auch mit dem Buch vor dem Gesicht hätte sie beschreiben können, dass die letzten Strahlen der Abendsonne die blankpolierten Jeeps zum Leuchten brachten, dass sogar die Baumkronen ordentlich und sauber strukturiert wirkten und dass an dem Frisiersalon fünfzig Meter weiter ein in patriotischen rot-weiß-blauen Streifen gehaltenes Reklameschild aus laminiertem Kunststoff prangte. Über allem hing ein erstickender Duft von frischgebackenem Apfelkuchen. Der kam aus dem Café hinter ihrem Rücken, wo einige Frauen mittleren Alters sie mit offenem Missfallen beim Lesen betrachteten. Jedenfalls kam es Sara so vor. Immer, wenn sie von ihrem Buch aufblickte, runzelten die Frauen die Stirn und schüttelten leicht den Kopf, als ob sie eine ungeschriebene Benimmregel brach, wenn sie auf dem Bürgersteig las.
Sie zog noch einmal ihr Mobiltelefon aus der Tasche und rief die zuletzt gewählte Nummer an. Neun Klingeltöne, dann legte sie wieder auf.
Amy Harris verspätete sich also. Sicher gab es dafür eine plausible Erklärung. Eine Reifenpanne, vielleicht. Kein Benzin mehr. Es konnte leicht passieren, dass man sich um – sie schaute abermals auf das Display ihres Telefons – zwei Stunden und siebenunddreißig Minuten verspätete.
Sie war nicht nervös, noch nicht. Amy Harris schrieb richtige Briefe auf ganz echtem altmodischen Briefpapier, es war dick und sahnefarben. Es war einfach unmöglich, dass ein Mensch, der Briefe auf echtem sahnefarbenen Briefpapier schrieb, eine Freundin in einer fremden Stadt im Stich lassen könnte, oder sich als psychopathische Massenmörderin mit sadistischen sexuellen Neigungen erwies, ganz egal, was Saras Mutter gesagt hatte.
»Entschuldigung, meine Liebe.«
Eine fremde Frau war vor ihr stehen geblieben. Sie hatte die Art von falschem geduldigen Blick, den Menschen oft aufsetzten, wenn sie Sara mehrmals dieselbe Frage gestellt hatten.
»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«, fragte die Frau. Eine braune Papiertüte mit Lebensmitteln ruhte auf ihrer Hüfte, und eine Konservenbüchse mit Hunt’s Tomatensuppe wippte gefährlich nah am Rand.
»Nein, danke«, sagte Sara. »Ich warte auf jemanden.«
»Na so was.« Der Tonfall war belustigt und nachsichtig. Die Frauen im Straßencafé verfolgten das Gespräch voller Interesse. »Zum ersten Mal in Hope?«
»Ich bin unterwegs nach Broken Wheel.«
Vielleicht war es Einbildung, aber die Frau schien mit dieser Antwort durchaus nicht zufrieden zu sein. Die Konservenbüchse wippte gefährlich weiter auf und ab. Nach ungefähr einer Minute sagte die Frau: »Ich fürchte, dieser Ort ist nicht der Rede wert, Broken Wheel, meine ich. Kennen Sie da jemanden?«
»Ich werde bei Amy Harris wohnen.«
Schweigen.
»Ich bin sicher, dass sie auf dem Weg hierher ist«, sagte Sara.
»Mir scheint, Sie sind hier Ihrem Schicksal überlassen worden, meine Liebe.« Die Frau schaute Sara erwartungsvoll an. »Aber rufen Sie sie doch an.«
Sara zog widerwillig ein weiteres Mal ihr Telefon hervor und versuchte, nicht auszuweichen, als die fremde Frau ihre Wange gegen Saras Ohr drückte, um den Klingelzeichen lauschen zu können.
»Sie antwortet offenbar nicht.« Sara steckte das Telefon wieder in die Tasche, und die Frau lehnte sich ein wenig zurück. »Was wollen Sie denn da?«
»Ich habe Urlaub. Ich möchte ein Zimmer mieten.«
»Und jetzt sind Sie hier im Stich gelassen worden. Was für ein schöner Anfang. Ich hoffe, Sie haben nicht im Voraus bezahlt.« Die Frau nahm ihre Einkaufstüte in die andere Hand und schnippte mit den Fingern in Richtung Straßencafé. »Hank«, sagte sie laut zu dem einen Mann. »Du bringst das Mädel nach Broken Wheel, okay?«
»Ich hab meinen Kaffee noch nicht ausgetrunken.«
»Dann nimm ihn doch mit.«
Der Mann grunzte unwillig, erhob sich dann gehorsam und verschwand im Lokal.
»Ich an Ihrer Stelle«, sagte die Frau zu Sara, »würde nicht sofort bezahlen. Ich würde warten, bis ich nach Hause fahre. Und ich würde das Geld solange an einer sicheren Stelle verstecken.« Sie nickte so energisch, dass die Büchse mit der Tomatensuppe abermals hochhüpfte. »Ich sage ja nicht, dass alle in Broken Wheel Diebe sind«, fügte sie sicherheitshalber hinzu. »Aber wie wir sind sie dort nicht.«
Hank kam mit einem neuen Pappbecher voll Kaffee zurück, und Saras Tasche und Rucksack wurden auf die Rückbank seines Autos gewuchtet. Sara wurde freundlich, aber energisch auf dem Vordersitz untergebracht.
»Fahr sie hin, Hank«, sagte die Frau und klopfte mit ihrer freien Hand zweimal auf das Wagendach. Sie beugte sich zu dem offenen Fenster vor.
»Wenn Sie es sich anders überlegen, können Sie jederzeit hierher zurückkommen.«
»Broken Wheel also«, sagte Hank gleichgültig.
Sara faltete die Hände über ihrem Buch und versuchte, entspannt auszusehen. Im Wagen roch es nach billigem Rasierwasser und teurem, dunkel gerösteten Kaffee.
»Was wollen Sie denn da?«
»Lesen.«
Er schüttelte den Kopf.
»Als Urlaub«, erklärte sie.
»Wir werden ja sehen«, erwiderte Hank.
Die Aussicht aus dem Autofenster veränderte sich vor Saras Augen. Grüne Wiesen wurden zu Feldern, die glitzernden Autos verschwanden, und die adretten Häuschen wurden abgelöst von einer massiven Wand aus Mais, die sich auf beiden Straßenseiten erhob. Die Straße führte in betäubender Gleichförmigkeit stets geradeaus. Hier und dort wurde sie von anderen, ebenso geraden Straßen gekreuzt, so, als ob irgendwann einmal irgendwer durch die gewaltige Ebene geschritten wäre und die Straßen mit einem Lineal gezogen hätte. Gar keine so schlechte Methode, dachte Sara. Aber je weiter sie fuhren, umso seltener wurden die anderen Straßen, bis Sara das Gefühl hatte, Kilometer um Kilometer nur noch von Mais umgeben zu sein.
»Kann ja nicht mehr viel von übrig sein«, sagte Hank. »Ein Freund von mir ist da aufgewachsen. Verkauft jetzt in Des Moines Versicherungen.«
Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. »Wie schön«, murmelte sie zaghaft.
»Dem geht es gut«, sagte der Mann zustimmend. »Viel besser, als zu versuchen, in Broken Wheel den Hof der Familie zu betreiben, das steht mal fest.«
Danach sagte er nichts mehr.
Sara beugte sich zum Wagenfenster vor, wie um nach der Stadt aus Amys Briefen Ausschau zu halten. Sie hatte so viel über Broken Wheel gehört, dass sie fast das Gefühl hatte, Miss Annie könne jederzeit auf ihrem Moped angefahren kommen, oder Jimmy könne plötzlich am Straßenrand stehen und die neueste Ausgabe seiner Zeitung schwenken. Für einen Moment konnte sie die beiden fast vor sich sehen, aber dann verschwamm alles und löste sich im Staub hinter ihnen auf. Eine Scheune tauchte auf und verschwand dann wieder hinter Mais, als ob es sie niemals gegeben hätte. Sie war das einzige Gebäude, das sie in der letzten Viertelstunde gesehen hatte.
Ob die Stadt wohl so aussehen würde, wie sie sich das vorgestellt hatte? Sara vergaß sogar ihre Unruhe darüber, dass Amy sich am Telefon nicht meldete, jetzt, da sie Broken Wheel endlich sehen würde.
Aber als sie dann dort ankamen, hätte sie den Ort durchaus verpassen können, wenn Hank nicht langsamer gefahren wäre. Er tauchte plötzlich neben der breiten, fast dreispurigen Straße auf. Mehrere Läden hatten zerbrochene oder mit Brettern zugenagelte Fenster. Die Häuser waren so niedrig, dass sie in den Asphalt zu kriechen schienen.
»Was haben Sie also vor?«, fragte Hank gleichgültig. »Soll ich Sie zurückfahren?«
Sie schaute sich um. Der Diner...
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