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Als der Große Komet in einer Aprilnacht des Jahres 1811 der Erde zum ersten Mal so nahe kam, dass er mit bloßem Auge am Himmel zu erkennen war, verschlief fast die gesamte medizinische Elite Europas dieses Ereignis. Die berühmtesten Ärzte jener Zeit waren auf Einladung Napoleons aus Leipzig, Pavia, London, Wien, Berlin, Bologna, Dublin und anderen Universitätsstädten nach Paris gereist, um ihr Wissen in theoretischen und praktischen Bereichen auszutauschen. Am zweiten Kongresstag begannen sich die Mediziner in den kaiserlichen Sälen jedoch so heftig zu streiten, dass die Vorträge auf die Abendstunden verlegt wurden; am dritten und vierten Kongressnachmittag kam man sich über die Viersäftetheorie, Chirurgie und Diätetik in die Haare, die weiteren Nächte im Pariser Schloss setzte man sich nicht mehr nur fachlich auseinander, sondern beleidigte sich auch persönlich. Der stämmige Engländer Edward Jenner wurde schließlich handgreiflich, packte seinen Landsmann John Brown am Backenbart und stieß ihn gegen die Tür. Der in Berlin lehrende Christoph Wilhelm Hufeland ergriff Partei - und einen silbernen Kerzenständer - für Jenner, sein Weimarer Gegenspieler Johann Christian Stark setzte sich mit einem Faustschlag für Brown ein; der schmächtige Franzose Joseph-Ignace Guillotin und der vollbärtige Ire James Parkinson versuchten die Männer zu trennen, brachten damit aber den päpstlichen Leibarzt gegen sich auf, und aus der Rangelei einiger wurde eine Prügelei fast aller, die mit vielen Hämatomen, einigen Frakturen und mehreren Platzwunden endete.
Napoleon, der zu einem »ärztlich-neutralen Kongress« geladen hatte, sich von den Akademikern aber grundlegende Erkenntnisse im Hinblick auf die Kriegsmedizin erhofft hatte, fluchte »merde« und befahl eine Zuwendung an die von den Gelehrten verachtete Zunft der Wundärzte sowie die Einrichtung einer Akademie zu deren raschen Ausbildung. Warum zum Teufel hatte er nicht gleich die Praktiker der Chirurgie zu einem Treffen gebeten? Sein Leibarzt und sein Privatsekretär, auf deren Vorschlag hin sich die Akademiker versammelt hatten, bemühten sich um Schadensbegrenzung, und die medizinischen Koryphäen einigten sich daraufhin, sich in dieser Angelegenheit an ihre ärztliche Schweigepflicht zu halten und für den französischen Kaiser noch vor ihrer Abreise eine schriftliche Stellungnahme zu verfassen. Würde erst das niedere Geschäft der Wundärzte von Napoleon gefördert, wäre einer höheren Anerkennung von Badern, Quacksalbern und Hebammen in ganz Europa Tür und Tor geöffnet. Ohnehin zog es das gemeine Volk viel zu sehr zu den Heilern, die ohne jegliches Studium praktizierten.
So saßen die berühmtesten Ärzte jener Zeit drei Tage und Nächte in der französischen Hauptstadt an ihren Schreibtischen, um die Ehre ihres Berufsstandes ins rechte Licht zu rücken, der niederen Chirurgie nicht Vorschub zu leisten und um ihre Einkünfte zu sichern.
Seit dem Altertum, so führte der weltweit führende Theoretiker des Jahres 1811, John Brown, in seinem Schreiben an Napoleon aus, existiere die Viersäftetheorie, derzufolge der Mensch aus Blut, Schleim, schwarzer und gelber Galle bestehe. Nur wenn das Säftegemisch im Körper ausgewogen ist, sei man gesund. Wolle man die Alten plötzlich verachten? Brown wolle sich an dieser Stelle nicht darüber auslassen, dass auch Wasser, Luft, Erde und Feuer sowie Lebensalter und das Temperament der Menschen eine Rolle spiele - vehement wolle er hingegen die neueren Theorien eines Edward Jenner abstreiten, der glaube, ohne die innere Medizin und ohne Beachtung der Seele, Krankheiten bekämpfen zu können.
Edward Jenner, der in England vor einigen Jahren durch Experimente eine Behandlungsmethode gegen Pocken gefunden hatte, bezichtigte Brown der »akademischen Scharlatanerie«. Keiner könne die Viersäftelehre beweisen, sie sei ein reines Konstrukt. Sein Verfahren der Immunisierung durch Impfung hingegen ließe sich experimentell bestätigen, und dieser Beweisbarkeit gehöre die Zukunft. Sogar der Papst habe mittlerweile den Erfolg seiner Methode anerkannt, im Staate Bayern habe man die Impfung bereits verpflichtend eingeführt, und er sei sich sicher, weitere Länder würden diesem Beispiel folgen; mehr noch: das Grundprinzip des Verfahrens ließe sich sicherlich auch auf andere Krankheiten übertragen.
Hufeland betonte in seinem Schreiben die große Bedeutung der Diätetik und der von ihm weiterentwickelten Makrobiotik, derzufolge eine gute Gesundheit ganz wesentlich vom Organismus selbst geregelt würde, vorausgesetzt man ernähre sich gesund, bewege sich maßvoll und nutze die Heilkräfte der Natur. Auch Hufeland berief sich auf die Tradition des Altertums und zitierte Hippokrates, wonach ein tüchtiger Arzt ein guter Vorausseher sei. Durch Hufelands Unterstützung sei diese Theorie von einem gewissen Hahnemann weiterentwickelt worden, so dass als Behandlungsmöglichkeiten nun sogar Medizin in Form von kleinen Kügelchen, genannt Globuli, zur Verfügung stünde. Entschieden ablehnen würde er jedoch die Auffassung, wonach ein Mensch nur nach biologischen und physiologischen Mechanismen funktioniere, denn ohne einen eigenen Energiekern ließe sich das Leben nicht erklären.
Johann Stark, der Hufeland aus seiner Weimarer Führungsposition vertrieben hatte, spottete in seiner schriftlichen Darlegung über die Makrobiotik und beschrieb ausführlich, wie nach dieser Lehre ernährte Kinder schlecht heranwuchsen. Die »abstrusen Praktiken« - womit er auf Hahnemanns Homöopathie zielte - würde er nicht einmal in einem Nebensatz weiter ausführen, um den Kaiser damit nicht zu langweilen. Denn auch im Allgemeinen begrüße er Napoleons Regime, das den Klerikalen endlich die Macht beschnitt. Stark plädierte er in einer langen Fußnote ausführlich dafür, Papst Pius VII. weiter festzusetzen, um der Wissenschaft und Kunst auch künftig die nötigen Freiheiten einzuräumen, die sie dringend bräuchten. In einer anderen Fußnote warnte er Napoleon vor den Argumenten des päpstlichen Leibarztes. Dieser würde sicherlich wieder mit den allgemein menschlichen Ängsten und einer unausrottbaren Moral spielen und auf Krankheiten als Strafe Gottes hinweisen.
Der päpstliche Leibarzt Luigi Novesanto eröffnete seinen Bericht mit einer ausführlichen Erörterung der von Gott vorgesehenen Krankheiten als Strafen für sündiges Verhalten. In einem alphabetischen Katalog verzeichnete er die gängigsten Krankheiten und ordnete sie den Kategorien »Behandlungswürdig« oder »Gottesstrafe« zu. Eindringlich wies der päpstliche Vertraute außerdem darauf hin, den Wundärzten, Badern und Hebammen das Handwerk zu legen, da ihre Gottesferne nach Einstellung der Hexenprozesse ein neues, ungeahntes Ausmaß entfalte, das Volk diesen Scharlatanen vertraue und die jeweiligen Zünfte weit weniger Kontrolle über ihre Mitglieder ausüben könnten als akademische Reglementierungen.
»Merde«, rief Napoleon erneut aus, als er die ersten Schreiben überflogen hatte, jeder Feldscher könne ihm da mehr erklären! Sein Sekretär hatte die Stellungnahmen nach Ansehen der Ärzte sortiert und sie dem Kaiser in einer Mappe an den privaten Schreibtisch gebracht. Der kleingewachsene Feldherr schleuderte die Schreiben in eine Ecke, fragte: »Was soll das heißen?«, wartete keine Antwort ab und ergänzte: »Keiner weiß was, die streiten sich nur!« Der Sekretär, den jede Theorie - soweit er sie hatte verstehen können - für sich überzeugte, nickte mehrmals. Gab es eine Zunft oder einen anderen Berufsstand, in dem sich die Koryphäen derart widersprachen? War es denkbar, dass ein Feldherr den Nutzen der Kavallerie bezweifelte, ein anderer aber ausschließlich auf diese baute?
Der Privatsekretär sammelte die Blätter wieder auf, der französische Kaiser schüttelte den Kopf und sah für einen Moment ratlos und fragend drein. Der Bedienstete wich dem ungewohnten Blick aus, bis ihm die erlösende Bemerkung eines Arztes, die er zufällig auf dem Flur aufgeschnappt hatte, einfiel. Er schlug vor, die medizinische Elite zur Abreise zu veranlassen, man müsse sich nicht sofort für den einen oder anderen entscheiden, die Sachlage erfordere im Gegensatz zu militärischen oder politischen Fragen nicht sogleich ein Urteil. Womöglich könne man dieses sogar dem Lauf der Zeit überlassen, denn für den Kaiser seien vor allem die praktischen Kenntnisse der Wundärzte entscheidend. Napoleon nickte, der Sekretär wechselte schnell das Thema und verwies darauf, dass vor der kaiserlichen Tür die Erfinder warteten, für die man einen Wettbewerb zur Herstellung haltbarer Lebensmittel ausgelobt hatte.
Napoleon gab eine Geldanweisung für die sofortige Einrichtung einer Akademie für Wundärzte heraus, besprach mit zwei Generälen seinen nächsten Feldzug, ließ nach einer Mätresse schicken und die Erfinder vorsprechen. Einem von ihnen war es gelungen, Gemüse in Gläsern zu konservieren, und er erhielt das Preisgeld. Die Behälter stellten sich jedoch als kriegsuntauglich heraus, da sie zu schwer zu transportieren waren, und Napoleon besann sich wieder in allen Belangen auf seine alten Maximen. Die hießen, dass der Krieg den Krieg zu ernähren hatte, Ärzte allesamt Idioten seien und er nur seinem Instinkt vertrauen könne. »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit« waren schließlich nicht auf alle menschlichen Bereiche anwendbar.
Als der Große Komet schließlich mit bloßem Auge am nächtlichen Himmel sichtbar wurde, schliefen alle Mediziner zum ersten Mal seit vielen Tagen und Nächten endlich...
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