Editorial
Essen zwischen Genuss, Vielfalt und sozialer Verantwortung
Die Bedeutung des Essens als großes kulturelles und gesellschaftliches Thema belegen Bilder schon von Anbeginn der Menschheit - und das Interesse am Essen ist anhaltend groß, wovon die Beliebtheit von Kochbüchern, Kochshows, Foodblogs u. a. m. zeugt. Essen ist nach wie vor präsent in Literatur und Kunst, beliebtes Motiv in Filmen, Thema von Dokumentarfilmen. Es ist ein facettenreiches Thema, in das auch ethische, moralische, ökologische, ökonomische und politische Themen hineinspielen.
Essen und Ernährung sind in unserer Gesellschaft aber auch zu identitätsstiftenden Merkmalen geworden, insbesondere bei jungen Menschen. Man drückt seine Identität durch besondere Ernährungsformen (u. a. Veganismus, internationale Ernährungstrends), aber auch durch das Posten von Essen, den Austausch von Rezepten und Ernährungstipps aus.
Vielfältige Zugänge zum Thema Essen soll auch dieses ide-Heft bieten und spannt den Bogen der Beiträge von der Kultur des Essens zur Kultur des Kochens.
Aus soziologischer Sicht ist die alle Menschen verbindende Tatsache, unabhängig von sozialer oder regionaler Herkunft, dass sie essen und trinken müssen, um zu leben. Der Zugriff auf Nahrung war von Anfang an essenziell für das Überleben der Menschheit und bis heute werden Lebensmittel mehr oder weniger aufwändig produziert, verarbeitet und auch konserviert (siehe Kofahl i. d. H.). Aber nicht nur die Notwendigkeit des Essens verbindet die Menschen, sondern Essen stiftet auch Gemeinschaft: Bereits seit frühester Zeit kümmerte man sich in Gruppen um die Nahrungsbeschaffung, und auch der Verzehr der Nahrung erfolgt(e) zumeist gemeinschaftlich. Bis heute gibt es kaum einen festlichen Anlass - und zwar in allen Kulturen weltweit -, der ohne gemeinsame Mahlzeit denkbar wäre.
Mit dem Verbindenden und anderen grundlegenden Überlegungen einer Soziologie der Ernährung beschäftigt sich Daniel Kofahl in seinem einleitenden Beitrag. Dabei steht insbesondere die Frage, was Menschen für essbar und was für nicht-essbar halten, im Fokus. Mit großem Sachwissen erläutert er, wie sich im Laufe der Menschheitsgeschichte unterschiedliche Ernährungskulturen herausgebildet haben, »die in der Gegenwart als eine ökologische Ernährungskultur der Ernährungskulturen und vor allem auch des Ernährungskulturkontakts existieren«.
Die Fragen, wo unser Essen herkommt, was damit in einer Gesellschaft des Überflusses geschieht, welchen Einfluss menschliches Verhalten auf das ökologische Gleichgewicht hat und wie das soziale Gefüge durch Essensverweigerung zerrüttet werden kann, stehen im Zentrum des zweiten Abschnitts, der sich insbesondere mit der medialen Darstellung der Thematik auseinandersetzt.
Jan-René Schluchter beleuchtet eingangs die Vegan Literary & Media Studies näher und nimmt vor allem die in Literatur und Medien verhandelten gesellschaftlichen Diskurse über Tier-Mensch-Verhältnisse im Spannungsfeld von Veganismus und Karnismus in den Blick. Vegan Reading soll zur Analyse und Reflexion literarischer Werke und Medien und zu Empathie gegenüber Tieren anregen. Unsichtbares Tierleid soll mithilfe einer Sensibilisierung für die tierliche Perspektive sichtbar gemacht und die politische Dimension des Verhältnisses zwischen Tier und Mensch aufgedeckt und (be)greifbar werden. Für die Auseinandersetzung mit diesem wichtigen Thema im Unterricht stellt er den Animationsfilm Oink (Halberstad 2022) vor.
Ebenfalls zum kritischen Denken sollen die beiden von Dieter Merlin präsentierten Dokumentarfilme We Feed the world (Wagenhofer 2005) und Land des Honigs (Kotevska/Stefanov 2019), die sich dem Thema Nahrungsmittelproduktion widmen, anregen. Unter Bezugnahme auf die Dokumentarfilmtheorie Roger Odins (2012 [1984]) kann nicht nur das gängige Vorurteil widerlegt werden, Dokumentarfilme seien langweilig, sondern es werden auf ästhetisch anspruchsvolle Weise Themen von gesellschaftspolitischer Relevanz verhandelt. In We Feed the World werden die Folgen der Globalisierung anhand der Nahrungsmittelproduktion für die Europäische Union demonstriert. Die oft erschreckenden Wahrheiten - der Konsumbefriedigung einerseits und der schonungslosen Ausbeutung von Ressourcen andererseits - werden mithilfe von Experteninterviews und eindrucksvollen Bildern aufgezeigt. Land des Honigs führt ins ländliche Nordmazedonien, wo das harmonische Gleichgewicht zwischen Bienenvölkern und Imkerin durch das profitorientierte Handeln neuer Nachbarn gefährdet wird. Zwei unterschiedliche Filme, die jeweils die Fragilität des Gleichgewichts in der Natur sichtbar machen.
Welche Auswirkungen das Auftauchen einer neuen, charismatischen Lehrperson auf das Leben einiger, zumeist im Überfluss lebender, privilegierter Jugendlicher in einem fiktiven Eliteinternat hat, zeigt Arno Rußegger anhand von Jessica Hausners bedrückendem Spielfilm Club Zero (2023). Auf subtile Art gelingt es Miss Novak, das Vertrauen ihrer Schüler:innen zu gewinnen, die mit ihrer Essensverweigerung auch gegen Eltern und Gesellschaft aufbegehren. Rußegger arbeitet in seinem Beitrag »Elemente von typischen Internatsund Comingof-Age-Geschichten« heraus und deckt intertextuelle Bezüge zur Sage über den Rattenfänger von Hameln nach den Brüdern Grimm auf. Darüber hinaus nimmt er die preisgekrönte Filmmusik von Markus Binder und das im Film eingesetzte Leitmotiv des MusikMärchens Peter und der Wolf von Sergei Prokofjew in den Blick.
Essen war und ist ein beliebtes Thema der Literatur, womit sich das dritte Kapitel beschäftigt. In literarischen Texten ist Essen oft mehr als Nahrung, es steht für Gemeinschaft, Gastfreundschaft oder auch soziale und kulturelle Unterschiede. Adalbert Stifter widmet dem Essen in seinen Werken, aber auch im realen Leben große Aufmerksamkeit. Während in Ersteren zumeist »Mäßigung« und »Einfachheit« leitende Begriffe sind, zeigt er im Alltag eher ein krankhaftes Ess- und Trinkverhalten, wie Christian Schacherreiter in seinem Beitrag kenntnisreich herausarbeitet. Die Bedeutung des Essens und gemeinsamer Mahlzeiten stellt er anhand des Romans Der Nachsommer und der Erzählung Kalkstein dar.
Einen besonderen Zugang zum Essen hat der polnisch-österreichische Schriftsteller Radek Knapp, der nicht nur in einigen seiner Werke Essbares im Titel führt, sondern auch auf einem Wiener Markt als Obstverkäufer tätig ist. Im Interview mit Helen Bito lässt er die Leser:innen an seinen Gedanken zum Essen und zur Literatur teilhaben, sinniert über Redewendungen und denkt über Essenstrends nach.
Auch im Werk der »Autorin und Köchin« Eva Rossmann gibt es eine enge Beziehung zwischen dem kulinarischen und dem literarischen Erleben. In einem sehr persönlichen Essay gewährt sie Einblicke in die Ursprünge dieser symbiotischen und befruchtenden Verbindung und erzählt, wie ihre Liebe zu dem »wunderbare[n] und manchmal mörderische[n] Küchenuniversum« entstanden ist und sie das Kochen zum Schreiben anregt. Als besonderes Gustostück hat sie uns den Abdruck ihres Kurzkrimis Ums Eck (veröffentlicht 2024 im Residenz Verlag, siehe Rezensionen) gestattet, der in die professionelle Küche einer ehemaligen Sterne-Köchin und ihres erbittertsten Kritikers führt.
Etwas weniger mörderisch, dafür umso bunter und vielfältiger ist das kulinarische Angebot in den Beiträgen für die bzw. aus der Unterrichtspraxis. Ein wahres Feuerwerk an Ideen für den Unterricht mit »kulinarischer Lyrik« unterbreitet Herbert Staud. Geordnet nach unterschiedlichen Themen präsentiert er alte und neue Gedichte - immer mit Bezug zum Essen oder einer mit Essen verbundenen Situation und angereichert um unterrichtliche Anregungen. Neben der Auseinandersetzung mit der literarischen Dimension der Gedichte lenkt Staud die Aufmerksamkeit auf Sprache und Sprachwitz, kulturelle und gesellschaftliche Aspekte, immer mit Blick auf Spielerisches und Kreatives, getreu dem Motto: »Mit dem Essen spielt man nicht - außer im Gedicht«.
»Essen als interkulturelle und verbindende Dimension im Kinderund Jugendsachbuch« präsentiert Alexandra Hofer und blickt dabei Über den Tellerrand (Segal 2019) und in den kulinarischen Alltag von 50 Kindern weltweit. Aber auch andere von ihr vorgestellte Sachbücher erlauben ein Eintauchen in unterschiedliche Geschmacksund Genusswelten quer durch Raum und Zeit. Einen weiteren vertiefenden Schwerpunkt stellen das höchst aktuelle Thema Lebensmittelherkunft und Fragen der Nachhaltigkeit dar. Didaktische Anregungen sollen den Einsatz der vorgestellten Sachbücher im Unterricht erleichtern.
Zum Abschluss verbindet Helen Bito in einem Unterrichtsprojekt an den Tourismusschulen MODUL in Wien alte Traditionen mit modernem Unterricht. Anhand eines handschriftlich in Kurrentschrift verfassten Rezepts aus dem Jahr 1914 für einen Gugelhupf gewinnen die Schülerinnen und Schüler nicht nur Einblicke in das Lesen alter Kochbücher, sondern lernen auch Grundkenntnisse der Kurrentschrift. Dabei kann...