Schweitzer Fachinformationen
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Magalie
Wie konnte ich es nur so weit kommen lassen?
Es ist Viertel vor acht am Abend, heute war Charlottes erster Schultag, aber statt bei meiner Tochter zu sein und mir von ihrem spannenden Tag erzählen zu lassen, sitze ich im Wartesaal der Klinik und höre dem Fettleibigen drei Stuhlreihen vor mir beim Husten zu. Die Arzthelferin mit dem Lockenkopf, die mich kurz zuvor aufgenommen hat, sitzt hinter einer schlierig schimmernden Scheibe am Empfangsschalter der Anmeldung und starrt stur auf das Display ihres Smartphones, dessen bonbonrosa Hülle der einzige Farbklecks in diesem eintönigen beige und grauen Raum ist. Mit einem Lächeln tippt sie fieberhaft auf ihrem Display herum, was ich wahrscheinlich genauso tun würde, wäre ich noch einmal fünfundzwanzig und wollte mich gleich nach der Arbeit mit Freunden in einer Bar oder einem Restaurant verabreden. Vielleicht chattet sie aber auch gerade mit einem Unbekannten, den die Algorithmen einer App ihr präsentiert haben und dessen Foto ihr gefallen hat. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten; das Leben dieser jungen Frau ist sicher voller Überraschungen, so lässig und verrückt wie ihr Lockenkopf. Mit anderen Worten: Uns trennt nicht nur diese Scheibe, sondern eine Mauer aus Beton. Wenn ich daran denke, welchen logistischen Einsatz ich bringen musste, um diesen Arzttermin wahrnehmen zu können. Ich musste meine Mutter anrufen und sie fragen, ob sie sich am Abend ein paar Stunden freinehmen könnte, um auf Charlotte aufzupassen, weil Mathieu ein Abendessen mit Klienten geplant hat: »Aber sicher doch, mein Schatz, kein Problem!« Dann musste ich, weil das Auto meiner Mutter bis tags darauf zur Überholung in der Werkstatt war, Mathieu bitten, mir sein Auto dazulassen, damit ich Charlotte nach meinem Arbeitstag bei Penture in der Schule abholen konnte: »Kein Problem, dann nehme ich die Metro.« Aber um sicherzugehen, dass ich auch spätestens um Punkt fünf aus dem Büro komme und nicht von sich endlos hinziehenden Gesprächen mit unentschlossenen Kunden, die am anderen Ende der Stadt wohnen, daran gehindert werde, musste ich daran denken, gleich morgens das für den Nachmittag angesetzte Treffen bei unserem Klienten in der Rue Notre-Dame, der jedes Mal sämtliche bereits getroffenen Entscheidungen wieder in Frage stellt, sobald er eine neue trifft, zu verschieben: »Einverstanden, Madame Breton, ich erwarte Sie dann um zehn statt um vierzehn Uhr. Danke, dass Sie mir Bescheid gegeben haben. Übrigens bin ich mir jetzt doch nicht mehr so sicher, wo ich meine Mikrowelle hinstellen soll. Wenn ich sie im Küchenschrank verstecke, wie Sie es vorgeschlagen haben, dann ist das zwar hübscher, aber so habe ich weniger Stauraum. Vielleicht sollte ich doch besser anstelle des Rauchfangs Schränke über meinem Herd anbringen, was meinen Sie?« Außerdem durfte ich nicht vergessen, im Supermarkt ein paar Fertiggerichte zu kaufen, damit ich nicht selbst kochen muss und stattdessen Zeit habe, Charlotte zu baden, bevor ich sie mit meiner Mutter alleine lasse, die seit Kurzem eine Sehnenscheidenentzündung hat und mir diese Aufgabe deshalb nicht abnehmen kann. Kurz und gut, eine einfache Zeitplanänderung hätte sofort zahlreiche Anpassungen zur Folge, ich müsste wieder nachfragen und andere Leute einspannen, sodass ich am Ende fast schon vergessen hätte, was eigentlich der Grund für das ganze Tamtam ist.
»Also, was führt dich heute zu mir, Magalie«, fragt mich Frau Dr. Bédard, sobald ich vor ihr sitze.
Ihre Stimme ist einfühlsam und vertrauenerweckend. Sie kneift die Augen zusammen, während sie mit der Lesebrille auf den Bildschirm starrt, auf dem sie meine Patientendaten aufgerufen hat. Dr. Bédard geht bestimmt schon auf die sechzig zu. Vor rund fünfzehn Jahren wurde sie meine Hausärztin, als meine Eltern, die damals ihre Patienten waren, sie baten, mich in ihren Patientenstamm aufzunehmen. Ich fühle mich ihr auf sehr besondere Weise verbunden, denn von den Ärzten, die meinen kranken Vater begleiteten, hat Frau Dr. Bédard zwar klinisch nicht das meiste geleistet, was sich von selbst versteht, schließlich ist sie keine Gastroonkologin, trotzdem hat sie ihm - und uns - das meiste Mitgefühl entgegengebracht. Als bei meinem Vater die ersten Symptome seiner Krankheit auftraten, ging er zu Frau Dr. Bédard, um meine Mutter zu beruhigen. Sie hatte den Erklärungen meines Vaters gelauscht, der seine Bauchschmerzen mit dem Stress durch die bevorstehende Rente erklärte, aber nachdem sie ihm den Unterleib abgetastet hatte, überwies sie ihn unverzüglich für ein paar Tests zu einem MRT-Spezialisten. Während der Krankheit meines Vaters wussten wir, dass wir Dr. Bédard zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen konnten, falls die Spezialisten im Krankenhaus nicht zu erreichen waren, um seine Medikamente anzupassen oder ihm Entzündungshemmer oder Schmerzmittel zu verschreiben. Als offensichtlich wurde, dass die Behandlung versagt hatte, ermunterte sie meinen Vater zur Teilnahme an einer Forschungsstudie - nur für alle Fälle, man könne ja nie wissen, ein medizinischer Durchbruch, ein Wunder; sie hatte Hoffnung, genau wie wir. Rückblickend scheint mir, dass diese enge Beziehung uns sehr geholfen hat, auch wenn sie sein Leben nicht retten konnte. Wenige Tage nach der Beerdigung hatte Frau Dr. Bédard meine Mutter angerufen, um ihr Beileid auszusprechen und sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Ist sie bei ihren anderen Patienten auch so engagiert? Ich weiß es nicht. Ich glaube jedenfalls, dass sie mich duzt, zeigt, wie besonders unsere Beziehung ist. Frau Dr. Bédard fährt sich mit einer Hand durchs kurze graumelierte Haar und liest die letzten Eintragungen in meiner Akte.
»Ist das Gerstenkorn, wegen dem du Anfang des Sommers zu mir gekommen bist, wieder gut verheilt?«
»Ja, ich habe die Creme aufgetragen, die Sie mir verschrieben hatten.«
Zufrieden tippt sie etwas in die Tastatur. Ich nutze den Augenblick, in dem sie ihren Blick abwendet, um ihr zu verkünden, dass ich mich auf sexuell übertragbare Krankheiten testen lassen möchte. Sie blickt vom Bildschirm auf, wirkt überrascht, doch ihr Tonfall bleibt sehr sachlich.
»Hast du irgendwelche Symptome?«
Plötzlich bedauere ich es, gekommen zu sein. Hätte ich nicht in der Tat, bevor ich mir Sorgen mache, erst einmal abwarten können, ob es mich irgendwo zwickt? Sollte Olivier irgendeinen bösen Virus in sich tragen, müsste Isabelle ihn ja auch haben, und das erscheint mir unvorstellbar: Diese Frau ist zu vollkommen, als dass ihr Körper irgendetwas derart Abscheuliches beherbergen könnte. Aber wenn Olivier mir die Wahrheit gesagt und seit über einem Jahr nicht mehr mit Isabelle geschlafen hat, dann kann es sehr gut sein, dass Olivier mich, obwohl sie nichts hat, trotzdem angesteckt haben könnte. Und woher will ich eigentlich wissen, dass er nicht auch noch mit einer anderen Frau was hatte? Das ist alles ziemlich kompliziert.
»Rötungen, wunde Stellen?«, versucht Dr. Bédard mich zu ermuntern.
»Ich hatte einen anderen Partner.«
»Aha, verstehe«, sagt sie, und während sie weiter auf ihrer Tastatur herumtippt, runzelt sie ein wenig die Brauen. »Ist es nur einmal zum Sex gekommen?«
»Eher öfter . Vielleicht ein Dutzend Mal? Wir haben uns immer geschützt, nur beim letzten Mal nicht, das ist jetzt ein paar Tage her. Ich will nur sichergehen, dass ich mir nichts eingefangen habe. Um mich selbst zu beruhigen, aber auch, um Mathieu nicht anzustecken.«
Frau Dr. Bédard nickt nachdenklich. Als ich Mathieu kennenlernte, wurde er auch schnell zu einem ihrer Patienten. Dr. Bédard hat uns sogar schon einmal zusammen gesehen, die ganze Familie, vor weniger als einem Jahr. Charlottes Kinderärztin war damals im Urlaub, und Frau Dr. Bédard hatte sich bereit erklärt, meine Tochter zu untersuchen, die eine üble Magen-Darm-Grippe hatte.
»Besteht durch den Lebenswandel deines anderen Partners der Verdacht, er könnte dich angesteckt haben? Ist er beispielsweise süchtig?«
»Oh, nein! Es handelt sich um meinen Geschäftspartner.«
Frau Dr. Bédard reißt die Augen auf. Im Hinblick auf mögliche Krankheitserreger dürfte mein Geschäftspartner vertrauenerweckender sein als ein Junkie. Aber vermutlich denkt sie eher, dass Geschichten wie diese, in der Arbeit und Sex vermischt werden, nie gut ausgehen, und macht sich vielmehr in anderer Hinsicht Sorgen. Dass ich zum Beispiel meine berufliche Karriere aufs Spiel setzen könnte.
Ich versichere ihr: »Es ist wirklich vorbei.«
»Gut, ich verstehe«, sagt sie leise. »Dann wollen wir uns das mal ansehen.«
Sie steht auf, legt ein frisches Papier auf den Untersuchungstisch, dann geht sie zu ihrem Schreibtisch zurück und bittet mich, hinter den Vorhang zu gehen. Ich schlüpfe aus meinen Ballerinas, schiebe den Rock bis zur Taille hoch, ziehe mir die Unterhose aus, wickle das grüne Jäckchen um meine Hüfte und lege mich hin. Das Papier raschelt unter dem Gewicht meines Körpers. Ich betrachte die farbige Decke, in der Risse zu erkennen sind, und sehe uns vor mir, Olivier und mich, letzten Freitag, als wir uns aus dem Ausstellungssaal von Penture hinausschlichen. Dort fand gerade die exklusive Präsentationsveranstaltung für Isabelles Rezeptbuch mit dem Titel Bissfreuden statt, und ihre Assistentin Romane lief mit einem Stapel von Exemplaren auf dem Arm ständig zwischen meinen verschiedenen Küchenmodellen hin und her. »Das muss aufhören, Maggy«, hatte Olivier gejammert, während er die Hose herunterließ, sobald wir in meinem Büro waren. »Ich kann das nicht mehr.« Wir hatten viel Alkohol getrunken. »Ich...
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