Schweitzer Fachinformationen
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Yere bakan, yürek yakan, denkt Huzur, während sie mit ihrem Gepäck die Ankunftshalle des Flughafens Tegel durchquert. Wer den Blick senkt, der zündet Herzen an. Der Refrain eines bekannten Songs von der Grande Dame des türkischen Pop. Aber hier schauen alle zu Boden. Entweder haben sie bereits alle Herzen gebrochen, oder sie verbinden die Augen, die die Spiegel des Herzens sind, nicht mit angezündeten Herzen und haben nicht das Bedürfnis, die Augen mit ihren Wimpern zu verschatten und auf den Boden zu blicken. Auch gut, denkt Huzur. Niemand schaut sie an, niemand wartet auf sie, das hat sie so gewollt. Sie ist sich gerade nicht sicher, ob sie das immer noch will.
Sie bleibt stehen, stellt ihren Koffer ab, streift die schwere Reisetasche von der Schulter und wühlt in der Handtasche nach ihrem Handy. Als sie es einschaltet, sieht sie, dass Raphael ihr kurz vor dem Abflug eine Nachricht geschickt hat. »Höre gerade >Le vent nous portera<. Denk an dich. Alles klar mit deinem Flug? Was ist mit dem Übergepäck passiert? Bisous.« Sie freut sich, antwortet aber nicht, sondern lässt das Handy wieder in die Tasche gleiten und setzt ihren Weg fort.
Kurz darauf steht sie in der Flughafentoilette und betrachtet ihr Spiegelbild. Mein Leben besteht mittlerweile nur aus Lügen, geht es ihr durch den Kopf. Tagelang habe ich meine Mutter angelogen und gesagt, dass ich zur Arbeit gehe, dass ich nicht so lange telefonieren kann, weil ich so viel zu tun habe, dass ich deswegen auch nicht samstags wie sonst immer zum Frühstück kommen kann. Ich bin in die Türkei geflüchtet und habe dort behauptet, alles läuft gut in Deutschland. Wenn mich hier jetzt jemand fragt, wie es in der Türkei war, werde ich behaupten, schön war es. Dabei habe ich mir dort den Kopf über mein Leben zerbrochen und weiß immer noch nicht weiter. Ich tue so, als wüsste ich, was ich mache, und wäre mir sicher, dass es das Richtige ist. Ich tue so, als käme ich mit jedem klar, dabei bin ich eine Einzelgängerin. Ich tue so, als hätte ich es geschafft. Dass ich nicht lache, was habe ich denn geschafft? Eher bin ich erschaffen in den Köpfen der Menschen.
Mit jedem Tag wird die Kugel aus Lügen größer, und das Ersparte für Notflüge in die Türkei, falls jemand aus der Familie im Sterben liegt, ist in den letzten Wochen geschrumpft. Zwar hat sie ihre Wohnung für einige Zeit untervermieten können, aber ein Flugticket in die Türkei, das sie nicht wie sonst lang im Voraus, sondern in letzter Minute buchen musste, war nicht im Budget eingeplant. Sie ist noch krankgeschrieben, aber die Schule wird sich in den nächsten Wochen bei ihr melden, da ist sie sicher, und sie wird sich zu dem Vorfall äußern müssen. Man wird eine Stellungnahme von ihr verlangen, da ist sie sicher, vielleicht sogar eine Entschuldigung. Kopftuchgate, nennt sie die Angelegenheit bei sich. In manchen Augenblicken hat sie in den letzten Wochen schon daran gedacht, alles hinzuschmeißen. Einfach aufzuhören mit dem Referendariat. Wie auch immer, noch mal flüchten kann sie nicht.
Hastig hält Huzur im Waschbecken ihre Arme bis zum Ellenbogen unter den Wasserhahn, die Tränen landen im Waschbecken. Sie hofft, das kühle Wasser wird die Hitze löschen, die sie am ganzen Körper spürt. Im Spiegel bemerkt sie die Reinigungskraft. Ihre Blicke treffen sich. Huzur grüßt die Frau mit einem Kopfnicken und lächelt, sie hat das Gefühl, sie sei ihr was schuldig, wischt hinterher die Wassertropfen am Beckenrand weg und hebt fremde Papierklöpse vom Boden, die um den Eimer verstreut auf dem Boden liegen, um sie mit ihrem Papiertuch hineinzuwerfen.
Als sie an der Bushaltestelle steht, ist es kurz vor zehn. Die Luft ist frisch, und Huzur kramt in ihrer Reisetasche nach einem Pullover, sie muss sich nach jeder Reise an die Berliner Kälte gewöhnen, die man sich in Bucak nicht ausmalen kann, wenn man bei mehr als dreißig Grad im Warmen sitzt. Während sie zwischen Klamotten und Mitbringseln wühlt, sieht sie aus dem Augenwinkel den Bus eintreffen, hört das scharfe Zischen der Türen beim Öffnen, konzentriert sich wieder auf die Pulloversuche. Kurz darauf dringt eine empörte Männerstimme an ihr Ohr: »Raus mit dir, hörst du, jetzt ist Schluss mit Freifahrten. Raus.«
Den Pullover, nach dem sie gesucht hat, noch in einer Hand, blickt sie auf und sieht, wie der Busfahrer ein Mädchen buchstäblich auf die Straße setzt. »Glaubst du, ich hätte nicht gesehen, dass du dich versteckt hast? Entweder du kaufst eine Fahrkarte wie alle anderen oder du verschwindest! Verstanden?«
Das Mädchen blickt ihn verständnislos an, setzt sich auf den kalten Boden, mit dem Rücken gegen den Ticketautomaten gelehnt. Es zieht die Beine fest an die Brust und umschlingt sie mit den Armen. Huzurs Blick fällt auf die zerschlissenen Schuhe. Es ist das Erste, was sie von dem Kind bewusst wahrnimmt. Zwei zerschlissene Schuhe, aus denen die Füße herauswachsen. Zwei Schuhe, die älter aussehen als das Mädchen. Zwei Schuhe, die mitgenommen aussehen, wie das Mädchen. Dazu im Hintergrund noch immer die böse Stimme des Fahrers, der sich nur langsam beruhigt. Er sagt immer wieder, sie sollen zurückgehen, wo sie herkommen. Huzur kennt diese Anrede im Plural zu gut. Es ist nicht der Pluralis Majestatis. Sie weiß auch, der Fahrer weiß nicht, wo das Mädchen herkommt.
Das Mädchen kratzt sich heftig am Kopf und lässt ihn wieder auf die angewinkelten Knie sinken. Huzur sieht nur die kräftigen Haare, die an Glanz verloren haben.
»Jetzt halten Sie doch endlich Ihren Mund«, fährt sie den Fahrer an, der rauchend an der offenen Bustür steht. »Wir haben's alle gehört.«
Der Fahrer sieht sie verblüfft an, wirft mit einer heftigen Geste die halb gerauchte Zigarette zu Boden und steigt wieder in seinen Bus. Huzur wartet darauf, dass er den Motor anwirft. Sie wird auf den nächsten Bus warten, so viel ist sicher, mit diesem Typen fährt sie nicht. Aber der Fahrer hat sich nur hinter seinem Steuer verschanzt, er denkt gar nicht daran wegzufahren. Huzur überlegt kurz, ob sie durch die offene Tür ein paar Dinge klarstellen soll, aber dann lässt sie es sein und sieht wieder das Mädchen an, das immer noch auf dem Boden sitzt.
Erst jetzt bemerkt sie die bloßen Arme, die aus einem T-Shirt herausschauen, das mal weiß war. Der Kleinen ist kalt, deswegen sitzt sie so zusammengekauert da. Wahrscheinlich hat sie auch deswegen ein paar Runden im Bus gedreht, um sich aufzuwärmen. Sie lässt ihren Blick an der Bushaltestelle streifen, an der außer ihr und dem Mädchen noch zwei Leute warten, die auf ihre Handys schauen. Regentropfen glitzern im gelben Schein der Straßenbeleuchtung, dahinter ist es düster, der Sommer ist weit weg. Vielleicht sind die Eltern des Kindes in der Nähe, und sie hat sie nur nicht bemerkt, vielleicht waren sie auch im Bus, sind früher ausgestiegen und kommen jeden Augenblick atemlos angelaufen. Sie dreht sich um, in Richtung der Drehtür zur Flughafenhalle, schaut weiter zum Currywurststand. Da ist niemand, der sucht. Dann geht sie auf das Mädchen zu. Erst stellt Huzur keine Fragen. Doch Münder sind keine Säcke, die man zubinden kann. Sie weiß selber nicht, wer sie ist: Ich bin die, die nicht von hier und nicht von dort ist. Ich spreize meine Beine zu einem Spagat zwischen zwei Stühlen und versuche, die Stühle auf diese Weise näher zu rücken, bis ich gerade auf ihnen stehen kann.
Meine Antworten füllen meinen Mund, reizen meine Stimmbänder, ich schlucke sie wie Mundwasser und manchmal spucke ich sie zu einem Spiegel für mein Gegenüber aus. Ich bin die, deren Fragen weitere Fragen nach sich ziehen und die ihre Augen offenhalten muss. Schließe ich sie, wird mir schlecht vor dem Spiegel, öffne ich sie, wird der Anblick der Welt mir zum Übel. Ich bin die, die gebären soll und bereut, geboren worden zu sein.
Das kleine Mädchen macht um das Fragen eine Kurve wie um einen Unfall auf der Autobahn. Sie hat Angst vor dem, was Huzur ihr sagen könnte und noch viel mehr Angst hat sie, dass Huzur sie fragen könnte: Wer bist du? Ich bin die, auf die man herunterblickt. Ich brauche eine Hand, um meine Hand zu geben. Ich weiß nichts, ich ahne alles. Ich bin die, von der man sich trennt, weil man mich liebt. Denn die schönste Liebe ist aus der Ferne. Ich, das Kind, stecke in allen Köpfen ungeboren als Punkt eines Fragezeichens. Ich lebe, seit ich meine Heimat namens Gebärmutter verlassen habe, im Exil.
»Ist dir kalt?« Keine Reaktion. Der Kopf ruht weiter auf den Knien, und sie kann das Gesicht nicht sehen. Ihr ist kalt, merkt Huzur, und zieht sich ihren Pullover über.
»Verstehst du mich?« Huzur beugt sich zu dem Kind. Eine kleine Hand kratzt wieder ausgiebig im Nacken und hinter den Ohren. Läuse, fährt es Huzur durch den Kopf, die Kleine hat Läuse.
Als wieder keine Antwort kommt, übersetzt sie ihre Frage auf Englisch, dann auf Französisch, schließlich stellt sie sie auf Türkisch.
»Üsüdünmü?« In Berlin kommt man mit Türkisch eigentlich weiter als mit Französisch, und trotzdem ist ihr die Muttersprache als Letztes eingefallen. Schade, denkt sie und beißt sich auf die Zunge.
Bingo. Das Mädchen blickt kurz auf und nickt. Huzur schaut sekundenlang in ein kleines Gesicht mit Augen, in denen nichts zu lesen ist. Nicht Angst, Trauer, Verzweiflung, Einsamkeit, Abweisung, Hass. Einfach nichts. Als hätten die Augen mit dem Leben abgeschlossen, hätten alles gesehen, was es zu sehen gibt, und das war's. Ein versiegter Blick. Huzur ist darüber so erschrocken, dass ihr nicht sofort ein nächster Satz einfällt.
Dann stellt sie die...
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