Als Linn das Behandlungszimmer betrat, ahnte sie binnen Sekunden, dass diese Untersuchung sie einiges an Nerven kosten würde. Die Mutter der Patientin hielt die Hand ihrer Tochter, überprüfte alle zwei Sekunden die Stirntemperatur des Mädchens und fragte mindestens genauso häufig nach ihrem Befinden. Die Medizinerin machte sich durch ein Räuspern bemerkbar.
"Dr. Linn Sommerfeld mein Name. Weshalb sind Sie hier?", stellte sie sich vor und sah das kleine Mädchen an, das auf der Liege saß.
"Meine Tochter hustet seit drei Tagen, heute Mittag hat sie auch über Halsschmerzen geklagt und da wir nächste Woche in den Urlaub fahren, wollte ich abklären, dass es nichts Ernstes ist. Wenn es wirklich etwas Schlimmes wäre, wäre es mittlerweile ohnehin zu spät, so lange wie wir hier schon warten."
Linn bemühte sich um ein verständnisvolles Lächeln.
"Sie wissen aber, dass wir hier in der Notaufnahme sind und wir regelmäßig Patienten eingeliefert bekommen, bei denen es um Leben und Tod geht. Da muss ein länger andauernder Husten manchmal eben einige Zeit warten."
Währenddessen hatte sie bereits begonnen, die Lymphknoten des Mädchens abzutasten, um eine mögliche Schwellung zu finden und damit auf eine Entzündung schließen zu können. Dies war jedoch nicht der Fall. Ein kurzer Abruf ihrer Körpertemperatur der letzten Tage über den im Unterarm implantierten Chip lieferte ebenfalls keinen Grund zur Besorgnis.
"Kannst du mal dein T-Shirt hochheben, bitte?", fragte sie das kleine Mädchen, als die Mutter sich erneut zu Wort meldete.
"Wissen Sie, mein Mann hatte neulich einen bösartigen Tumor in der Lunge. Zum Glück hat man es rechtzeitig entdeckt, aber das hat damals auch mit einem leichten Husten angefangen." Linn nickte und dieses Mal war ihr Lächeln ehrlich gemeint.
"Das verstehe ich natürlich. Ich werde mir die Lunge Ihrer Tochter ganz genau anhören. Vorsicht, das könnte etwas kalt werden. Jetzt atme mal tief ein und wieder aus. Und jetzt einmal kräftig husten, bitte." Linn nickte und hängte sich das Stethoskop wieder um den Hals, bevor sie ihr Handy erneut über den Unterarm des Mädchens hielt und die App öffnete, um ihre DNA abzurufen.
"Ich höre bei Ihrer Tochter wirklich nichts, was mir Sorgen bereitet. Sie hat nur eine leichte Erkältung, das geht mit Tee, Wärme, einem Schleimlöser und Hustenbonbons schnell wieder weg. Solange der Urlaub nächste Woche nicht zu anstrengend wird, sehe ich da keinerlei Bedenken. Ich schaue mal eben, ob sie die Veranlagung zum Lungenkrebs von ihrem Vater geerbt haben könnte, aber wenn das nicht der Fall ist, ist sie auch keinem erhöhten Risiko ausgesetzt, daran zu erkranken."
"Mein Papa ist nicht mein leiblicher Vater", meldete sich plötzlich die kleine Patientin zu Wort und grinste stolz. "Weil mein Papa schon wusste, dass er krank wird, hat sich meine Mama die Samen von einem anderen Mann geholt, der gesund ist, und daraus bin ich geworden." Linn sah sie überrascht an.
"Na, wenn das so ist, hast du ja wirklich nichts zu befürchten. Wie alt bist du eigentlich? Ziemlich beeindruckend, dass du so etwas schon weißt." Das Mädchen nickte.
"Ich bin sieben." In diesem Moment piepste Linns Handy, um anzuzeigen, dass es den Datenabgleich beendet hatte. Sie scrollte einmal kurz durch die Befundliste und gab dann bekannt: "Also, wie ich es vermutet hatte, hast du keinerlei Veranlagung für eine schwerere Lungenkrankheit. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen. Kuriere deine Erkältung aus und dann wünsche ich euch viel Spaß im Urlaub." Linn reichte erst dem Mädchen und dann seiner Mutter die Hand. Sie war schon beinahe aus der Tür, als das Mädchen plötzlich sagte: "Wenn ich groß bin, will ich auch Ärztin werden."
Linn blieb auf der Stelle stehen und betrachtete die Auswertung ihrer DNA-Analyse, die sie noch auf dem Handy geöffnet hatte. Fein säuberlich aufgeschlüsselt waren hier sämtliche Charaktereigenschaften des Mädchens auf einer Skala von 1 bis 100 aufgelistet. Zwar war sie clever und liebevoll, doch mangelte es ihr an Disziplin und Ehrgeiz, weswegen das Programm ihr den Beruf Krankenschwester vorschlug.
"Einen Moment noch, bitte", sagte Linn und betrat erneut das Behandlungszimmer. Sie stützte ihre Arme auf den Knien ab, um auf Augenhöhe mit dem Mädchen zu sein. "Dir ist bestimmt klar, dass du später Krankenschwester wirst, oder? Deine Eltern haben dir das doch sicher erklärt. Jeder hier wird für einen anderen Beruf geboren. Die sind alle wichtig und es ist genauso wichtig, dass du dich von klein auf darauf vorbereitest. Ohne Krankenschwestern würde hier nichts laufen. Die Patienten würden ihre Medikamente nicht kriegen, sie hätten keinen, der ihnen hilft beim Anziehen oder beim aufs Klo gehen und keinen, der ihnen die Angst nimmt vor der Operation oder einer schwierigen Behandlung. Es ist wichtig, dass jemand diesen Job macht und du bist hervorragend dafür geeignet, Krankenschwester zu werden. Wer weiß, vielleicht arbeitest du eines Tages ja sogar in dieser Klinik und wir sehen uns wieder." Sie legte der Kleinen die Hand auf die Schulter. "Aber es ist wichtig zu wissen, wohin man gehört und was man werden wird. Es macht keinen Sinn, sich in Träumen zu verlieren, nur um später ernüchtert aufzuwachen und festzustellen, dass es doch nichts wird und alle Mühen umsonst waren." Linn warf der Mutter einen scharfen Blick zu. "Und es ist von entscheidender Bedeutung, dass Sie als Eltern Ihr Kind vor diesem bösen Erwachen bewahren, indem Sie jegliche Träumereien unterbinden."
"Es tut mir leid", antwortete das Mädchen statt der Mutter und sah kleinlaut zu Boden.
Die Ärztin nahm etwas Süßes aus der Dose neben der Tür.
"Das ist nicht weiter schlimm. Irgendwann gewöhnst du dich an den Gedanken und glaube mir, dann wird dir der Job viel Freude bereiten", versprach sie und reichte dem Mädchen die Süßigkeit. "Bis dahin, gute Besserung und viel Spaß im Urlaub."
Linn war gedanklich noch immer bei ihrer kleinen Patientin, als sie beinahe mit Nabholz zusammenstieß, der in seinem üblichen Tempo um die Ecke gestürmt kam.
"Guten Morgen", stammelte Linn, der jedes Mal das Herz bis zum Hals schlug, wenn sie ihrem Chef über den Weg lief, auch wenn sie wusste, dass es dafür keinen Grund gab. Doch der Zwei-Meter-Mann mit Händen, die größer waren als ihr ganzer Kopf, versetzte sie regelmäßig in Angstzustände.
"Ah, Frau Sommerfeld, zu Ihnen wollte ich."
"Zu ... mir?" Linn räusperte sich, in der Hoffnung, ihre Stimme wieder unter Kontrolle zu bekommen. "Wieso? Was gibt es denn?" Ihr Chef legte ihr beinahe kameradschaftlich den Arm um die Schulter und drehte sie um, sodass sie wieder in die Richtung liefen, aus der Linn gerade gekommen war.
"Wissen Sie, heute ist das Interview mit dieser Zeitung. Was Menschen bewegt oder wie die gleich heißt. Eigentlich wollte Herr Ebelt das übernehmen, aber der ist kurzfristig ausgefallen und da dachte ich, die einzige Person, die spontan und kreativ genug ist, dieses Gespräch an seiner Stelle zu führen, sind Sie."
"W...W...Welches Interview denn?" Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
"Na das anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der F1-Generation." Anscheinend sah Nabholz ihr an, dass sie mit dieser Information immer noch nichts anfangen konnte, denn nach einer kurzen Pause fuhr er fort: "Die von der Zeitung wollen die Meinung eines Experten, dem sie vertrauen können. Die meisten Wissenschaftler schaffen es nicht, ihre Erkenntnisse so zu formulieren, dass man sie auch ohne den jeweiligen Hintergrund verstehen kann. Hinzu kommt, dass wir ein freundliches Gesicht brauchen, deswegen wollten wir einen jungen Arzt an die Front schicken oder jetzt eben eine junge Ärztin." Linn nickte, noch immer nicht fähig, in ganzen Sätzen zu sprechen. Sollte sie sich geehrt fühlen? Oder die Panik überhandnehmen lassen, die sie in sich aufsteigen spürte? Ihre 17 Punkte, die sie in Mut hatte, standen ihr vor Augen. 17 Punkte von 100 möglichen. Sie war ein elendiger Feigling und seit der Veröffentlichung der DNA-Sequenzen aller öffentlichen Personen vor einigen Monaten, wusste das auch jeder andere.
"Um Zwölf im Konferenzraum geht es los."
"Meinen Sie denn, ich kriege das hin? So ganz ohne Vorbereitung meine ich", fragte sie. Ihr Chef klopfte ihr auf die Schultern und wandte sich zum Gehen.
"Sonst hätte ich Sie nicht gefragt", erwiderte er und ließ sie stehen.
In der nächsten halben Stunde versuchte sie, sich emotional auf das Interview vorzubereiten. Vor Aufregung bekam sie ihr Mittagessen nicht herunter. Stattdessen probte sie verschiedene Sitzpositionen, um herauszufinden, in welcher sie sich am wohlsten fühlte. Im Abstand von fünf Minuten überprüfte sie, ob ihr auch keine Strähne aus dem Pferdeschwanz entflohen war und ihr Make-up die Augenringe einigermaßen verbarg. Kurz vor Zwölf machte sie sich auf den Weg. Ihre Beine zitterten und ihre Hände waren schwitzig. Linn wischte sie an ihrer Hose ab. Dann holte sie tief Luft und öffnete die Tür.
"Guten Tag, Sie müssen Frau Sommerfeld sein", begrüßte sie eine etwas ältere Frau, die ihre Haare zu einem grauen Dutt zusammengebunden hatte. Linn räusperte sich.
"Die bin ich."
"Ich bin Johanna Pfaff, Journalistin der Online-Zeitung Was Menschen bewegt", stellte die Redakteurin sich vor und reichte der Ärztin die Hand. "Der Mann hinter der Kamera ist Ben Habel. Er wird einige Fotos machen während des Interviews und das Beste für den Artikel verwenden." Sie deutete nach links, wo plötzlich ein Gesicht hinter einem Monster von Kamera hervorblickte und lächelte.
"Bitte nehmen Sie doch hier Platz." Die Journalistin deutete mit einer Selbstverständlichkeit auf den Stuhl ihr gegenüber, als wäre es ihr eigenes Büro. "Die Herren waren so nett, uns Wasser und einige Kekse zur Verfügung zu stellen. Bedienen Sie sich ruhig." Mit einem Kopfschütteln lehnte Linn die dargereichten Kekse ab, goss sich aber ein Glas Wasser ein. Obwohl Pfaff es nett zu meinen schien, führte ihr selbstbewusstes Auftreten verstärkt dazu, dass sich Linn wie ein Fremdkörper in dem Raum vorkam.
"Sie sind vermutlich ziemlich aufgeregt", fuhr Pfaff fort und Linn nickte, während sie sich fragte, ob man ihr das trotz ihrer Bemühungen ansah oder ob die Journalistin über sie recherchiert hatte.
"Entschuldigung, ich habe erst vor dreißig Minuten erfahren, dass ich meinen Kollegen ersetzen soll. Das hat mir nicht so viel Vorbereitungszeit gelassen." Sie zwang sich zu einem Lächeln.
"Verstehe. Dann fangen wir einfach an und im Laufe des Gesprächs gibt sich das sicher. Wir werden Ihre Antworten ohnehin manuell übertragen und zusammenschneiden, somit sind Startschwierigkeiten kein Problem."
"Danke."
Johanna Pfaff lächelte sie an.
"Dann fangen wir mal an. Wir führen dieses Gespräch anlässlich des 10. Jahrestag der F1-Generation, der ja gleichzeitig auch die goldene Mitte darstellt, bevor wir zur F2-Generation kommen. Können Sie für unsere Leser noch einmal zusammenfassen, was es mit der F1-Generation auf sich hat? Am besten beginnen wir mit den Grundlagen der menschlichen Biologie."
"Gerne. Der gesamte Mensch entsteht zunächst aus einer einzigen Zelle, welche sich aus der Eizelle der Mutter und dem Spermium des Vaters zusammensetzt. Wenn diese beiden Zellen verschmelzen, haben wir eine befruchtete Eizelle und in dieser Eizelle ist bereits alles an Information enthalten, um einen vollständigen Menschen daraus entstehen zu lassen. Wie wir mittlerweile wissen, ist in dieser Zelle auch schon die komplette Persönlichkeit des Menschen festgelegt. Resultierend aus verschiedenen Genen, die für manche Charaktereigenschaften über das ganze Genom verteilt sind, lassen sich ziemlich präzise Vorhersagen über die einzelnen Eigenschaften des Menschen treffen, die auf einer Skala von 1 bis 100 aufgetragen werden können. Anhand des Gesamtprofils aller Eigenschaften lässt sich dadurch bereits im Embryo vorhersagen, für welche Berufe sich der spätere Mensch eignet, sodass man schon im frühkindlichen Alter die richtige Förderung beginnen kann."
Noch während sie sprach, fiel Linn auf, dass ihre Sätze viel zu auswendig gelernt klangen und dass ihre Antworten mit der eigentlich gestellten Frage immer weniger zu tun hatten.
"Entschuldigen Sie", begann sie, aber die Journalistin lächelte sie weiterhin an und nickte ihr zu.
"Also, der Hauptunterschied zwischen der F1- und der F0-Generation ist folgender: Wir haben mittlerweile für die meisten Erkrankungen genetische Komponenten feststellen können. Darüber hinaus sind wir in der Lage, innerhalb von wenigen Stunden das komplette Genom sequenzieren zu lassen, also praktisch den Programmcode des Menschen sichtbar zu machen. Dadurch lässt sich für die F0-Generation genau vorhersagen, welche Krankheit mit welcher Wahrscheinlichkeit bei dem jeweiligen Menschen auftritt, sodass er weiß, welche Vorsorgeuntersuchungen regelmäßig besucht werden müssen und worauf besonders zu achten ist. Dadurch kann man eine Krebserkrankung zwar in einem früheren Stadium erwischen, man kann jedoch nicht die erblich bedingte Wahrscheinlichkeit ändern, dass der Patient im Laufe seines Lebens Krebs entwickelt. Daher hat man in der F1-Generation versucht, bekannte Risikofaktoren, welche in den Genen entdeckt wurden, zu eliminieren."
"Wie kann man denn Gene eliminieren?", fragte Pfaff.
"Dafür wird das sogenannte CRISPR Cas9 System verwendet. Hier kann man einen Anfangs- und einen Endpunkt festlegen und den Bereich dazwischen durch eine vorgegebene Sequenz ersetzen. Das ist besonders dann gut möglich, wenn man nur ein kleines Stück der DNA ersetzen muss."
"Woher weiß man denn, welche Erkrankungen das zukünftige Baby haben wird oder entwickeln könnte?", hakte die Journalistin nach.
"Das ist eine gute Frage. Wir kennen ja die Genomdaten der Eltern, somit können wir ausrechnen, welche Krankheiten das Kind mit welcher Wahrscheinlichkeit erben wird. Wir nehmen also Eizelle und Spermium der Eltern und führen eine in vitro Fertilisation durch, das heißt wir befruchten die Eizelle in unserem Labor. Anschließend nutzen wir das Wissen über die genetischen Schwachstellen der Eltern und versuchen, diese mittels CRISPR Cas9 auszumerzen, ohne natürlich zu wissen, ob genau diese Zelle die Krankheit hätte. Nur müssen wir das im Ein-Zell-Stadium machen, um sicher zu sein, dass später auch alle Zellen repariert sind. Daraufhin lassen wir die befruchtete Eizelle sich teilen und entnehmen dem Embryo später, wenn er schon aus mehreren Zellen besteht, einzelne Zellen und sequenzieren diese komplett. Im Idealfall, wenn das System funktioniert hat, sind dann alle Zellen komplett gesund. Aber das entspricht leider nicht der Realität, sodass wir trotzdem einige kranke Embryos haben, die wir dann natürlich nicht der Mutter einsetzen, sondern wir arbeiten nur mit den gesunden weiter."
"Aber ein Kind erbt ja nicht immer nur Krankheiten von seinen Eltern, sondern kann eventuell auch neue Krankheiten entwickeln. Wie weiß man denn bereits im Eizellenstadium, welche Krankheiten zufällig in genau dieser Eizelle entstanden sind?", fragte die Journalistin.
"Das stimmt und das wissen wir natürlich nicht. Wir sequenzieren allerdings die Embryos, bevor wir sie der Mutter einsetzen und sollten wir da eine neue Mutation finden, wird der Embryo natürlich ebenfalls aussortiert."
"Ich verstehe", erwiderte die Journalistin. "Was mich jetzt noch interessieren würde, ist: Wieso benötigen wir dazu das CRISPR Cas9 System? Wenn ich mich recht an meinen Biologiekurs in der Schule erinnere, erbt man ja die Hälfte von der Mutter und die Hälfte vom Vater. Eine Krankheit, die nur die Mutter hat, würde folglich also nur in der Hälfte aller Embryos vorkommen, wenn nicht sogar weniger. Dann würde es doch ausreichen, diejenigen Embryos auszusortieren, die diese Krankheit oder die Veranlagung dazu aufweisen, oder nicht?" Linn nickte.
"Diese Überlegung ist richtig, wenn wir von einer einzigen Krankheit sprechen. Und tatsächlich tun wir das in manchen Fällen, wenn die Wahrscheinlichkeit eines gesunden Embryos groß genug ist. Wenn wir das jedoch für mehrere Krankheiten oder Veranlagungen überlegen, wird die Wahrscheinlichkeit, einen solchen Embryo zu finden, ziemlich schnell ziemlich klein. Nehmen wir zum Beispiel an, wir haben zwei Krankheiten, die jeweils mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% an das Kind vererbt werden. Wenn wir jetzt einen Embryo suchen, der keine der beiden Krankheiten hat, liegt die Wahrscheinlichkeit schon nur noch bei 25%. Wenn wir das Ganze aber für drei oder gar fünf Krankheiten machen, sinkt die Wahrscheinlichkeit auf etwa 13% beziehungsweise 3%. Hin und wieder machen wir das sogar mit noch deutlich mehr Veranlagungen, die wir beseitigen möchten, da reden wir von Wahrscheinlichkeiten von weit unter einem Prozent. Ganz zu schweigen von Veranlagungen, die beide Elternteile haben.
Jetzt setzen wir aber meistens zwei oder drei Embryos in die Gebärmutter ein, somit bräuchten wir auch zwei oder drei komplett gesunde Embryos. Zusätzlich zu den eben richtig erwähnten neu dazu kommenden Mutationen, wird das sehr unwahrscheinlich, weswegen wir uns Labormethoden zunutze machen, um die Chance auf ein gesundes Kind zu maximieren."
"Ich verstehe. Wie kommt es dann, dass wir noch keine perfekten Menschen haben?"
"Zum einen ist das System sehr ineffizient. Man kann zwar einige Stellen ersetzen, doch das funktioniert nicht immer und je mehr genetische Fehler beseitigt werden müssen, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das für alle funktioniert. Außerdem weiß man auch jetzt noch nicht von allen Krankheiten den genauen Ursprung im Genom."
"Bisher wurde also nur versucht, gängige Krankheiten zu vermeiden?" Linn nickte.
"Ganz genau. Gängige Krankheiten, bei denen wir die genetische Ursache kennen", ergänzte sie.
"Und könnten Sie sich vorstellen, dass man eines Tages auch die Charaktereigenschaften eines Menschen ändern könnte?" Die Ärztin schwieg für einen Moment. Sie ahnte, in welche Richtung die nächsten Fragen gehen würden.
"Theoretisch schon, auch wenn bis dahin noch viel Zeit vergehen wird, da man wohl zuerst die Krankheiten verhindern wird."
Die Redakteurin beugte sich ein wenig vor und sah Linn genau in die Augen, als sie die nächste Frage stellte: "Also haben wir tatsächlich Chancen, uns den Menschen so zu schaffen, wie wir ihn wollen oder brauchen? Könnten wir ein Supergenie erzeugen oder einen Supersportler, wenn wir wollten?"
Linn holte tief Luft und nahm sich Zeit, ihre nächste Antwort zu formulieren.
"Ja, das könnte vielleicht in einigen Jahrzehnten möglich sein. Aber ..." - "Macht Ihnen das keine Angst", unterbrach sie die Redakteurin und ihre Augen funkelten. Sie hatte Linn genau da, wo sie wollte und sie ließ sie es auch spüren. Die Ärztin erwiderte den Blick. Es gab wenig, was sie so sehr hasste, wie die Erkenntnis, von jemandem manipuliert worden zu sein.
"Nein, das macht mir keine Angst. Zu wissen, dass ein Supergenie an der künstlichen Intelligenz arbeitet, dass der Mensch, der mich untersucht und ärztlich behandelt, sich alle Symptome jeder jemals existenten Krankheit merken kann, nimmt mir sogar viele meiner Sorgen." Der Blickaustausch hielt stand und Pfaff schien herausfinden zu wollen, ob sie das ernst meinte. Doch Linn war wütend und hatte nicht vor, der aufdringlichen Journalistin mehr Futter für ihre Story zu liefern. Pfaff gab zuerst nach.
"Kommen wir zurück zum Jahrestag. Wie nehmen Sie als Ärztin das Projekt denn wahr? Kommen Menschen der F1-Generation seltener zu Ihnen? Sind die Beschwerden harmloser? Ich weiß, Sie haben die F0-Generation niemals als Kinder erlebt, da Sie ja selbst dazu gehören, aber sicher bespricht man so etwas mit älteren Kollegen in der Pause, oder nicht?"
"Ja, wir reden darüber. Tatsächlich ist unsere Kinderonkologiestation inzwischen fast leer. Die Familien kommen zwar immer noch regelmäßig zum Arzt, aber statt der Diagnose Leukämie oder Lungenentzündung ist es mittlerweile häufig nur eine harmlose Erkältung."
"Also ist das Projekt F1-Generation geglückt?" Linn kniff die Augen zusammen.
"Was bedeutet geglückt? Bei Ihnen klingt es, als wäre es ein wissenschaftliches Experiment."
"Ist es das nicht?"
"Nein. Es wäre gegen jeden wissenschaftlichen Kodex, an Menschen Versuche durchzuführen. Das hat einzig und allein den Zweck, die Lebensqualität der Menschen zu erhöhen. Ebenso wie damals die Entdeckung von Antibiotika."
"Wie steht das dann in Einklang mit der Bestimmung der Charaktereigenschaften? Inwieweit trägt es zur Erhöhung der Lebensqualität bei, wenn man als kleines Kind schon weiß, dass man Probleme mit seiner Sturheit haben wird oder zu undiszipliniert ist, um jemals gute Noten zu schreiben?" Linn trank einen Schluck Wasser. Sie nahm sich Zeit, bis sie das Gefühl hatte, wieder die Kontrolle über ihre Gedanken zu erlangen.
"Früher gab es viele junge Menschen, die in ihrem Streben auf Schulen gegangen sind, die nicht ihren Fähigkeiten entsprochen haben. Sei es, weil sie sich gelangweilt haben, weil sie die Fächer nicht interessiert haben oder weil es ihnen an Lernbereitschaft gefehlt hat. Viele Schüler haben die Schulen gewechselt oder später die Ausbildung abgebrochen. Es gab sogar Erwachsene, die nach Jahrzehnten im gleichen Beruf plötzlich beschlossen haben, doch etwas ganz anderes zu machen. Das zehrt an den Nerven, es bringt einen zum Straucheln und kann einen unglücklich machen. Da bietet es einen gewaltigen Vorteil, wenn sich von klein an alles auf deine tatsächlichen Fähigkeiten konzentriert."
Die Redakteurin nickte, aber der zweifelnde Gesichtsausdruck blieb.
"Und ökonomisch bringt es ganz nebenbei auch viele Vorteile." Sie betonte es so, als würde sie daran zweifeln, dass Ökonomie nur ein Nebeneffekt war und nicht etwa der Hauptgrund für das neue System. Linn entschied, diesen Unterton zu ignorieren.
"Ganz genau. Die Steuereinnahmen sind deutlich gestiegen, sodass wieder mehr Geld in die Bildung reinvestiert werden kann."
"Und in die Grenzsicherung", ergänzte Johanna Pfaff und Linn realisierte, dass sie erneut in eine Falle getappt war.
"Das ist ebenfalls ein wichtiger Punkt und es freut mich, dass Sie das anbringen", schwindelte Linn. "Die deutschen Grenzen sind keineswegs geschlossen, es gibt lediglich Grenzkontrollen. Hierbei werden sequenzierte Menschen meistens schnell durchgelassen, nur nicht Sequenzierte werden im Interesse aller, die in Deutschland leben, draußen gehalten oder zwangssequenziert." Die Medizinerin hatte diese Fragen oft genug debattiert während ihres Studiums, sodass sie sich auch in diesem doch eher politischen Bereich sicher fühlte.
"Inwiefern ist es im Interesse aller, die nicht Sequenzierten aus dem Land auszuschließen?" Auch auf diese Frage hatte Linn eine Antwort. Langsam gewann sie die Kontrolle über das Gespräch zurück und auch ihr Selbstvertrauen stieg.
"Für die Sequenzierung benötigt es nur einen Wangenabstrich und etwas Zeit. Die Kosten hierfür übernimmt der deutsche Staat bereitwillig und auch sonst bietet eine Sequenzierung ausschließlich Vorteile. Es gibt keinen logischen Grund, sich diesem Test zu verwehren, außer man hat etwas zu verbergen."
"Das da zum Beispiel wäre?"
"Man könnte an sich selbst zum Beispiel Jähzorn, eine gewisse Gewaltbereitschaft oder gar Empathielosigkeit festgestellt haben. Kurzum, Eigenschaften, die es wahrscheinlicher machen, dass man irgendwann der Gesellschaft schadet, häufig durch Körperverletzung bis hin zum Totschlag oder gar Mord." Die Redakteurin nickte zwar, doch Linn war sich nicht sicher, ob sie sie überzeugt hatte.
"Nun gut, kommen wir also zu einem Blick in die Zukunft. Wir läuten mit diesem Festtag die zweite Hälfte auf dem Weg in Richtung F2-Generation ein. Was bedeutet das? Was erwartet uns denn mit Beginn der F2-Generation? Was unterscheidet sie von der F1-Generation?" Der plötzliche Themenwechsel überraschte Linn, doch sie blinzelte einige Male und hatte sich dann wieder gefangen. Dies war ihr Fachgebiet, in welchem sie während ihres Studiums bereits zwei Debattierduelle gewonnen hatte.
"Grundsätzlich bleibt das Prinzip das Gleiche: Wir kennen die Krankheiten der Eltern und, falls nötig, reparieren wir diese in den Eizellen der Babys. Wenn es sich bei Eltern jedoch um Mitglieder der F1-Generation handelt, sollte dies jedoch nur noch sehr selten nötig sein, da wir ja bereits die Krankheiten bei ihnen ausgelöscht haben. Außerdem hat die Forschung in den zwanzig Jahren, die zwischen Beginn der F1- und der F2-Generation liegen, ausreichend Zeit, um die genetischen Grundlagen von weiteren Krankheiten zu erforschen, welche dann eliminiert werden können. Das wird selbstverständlich auch jetzt schon durchgeführt, sobald alle Tests absolviert sind und die Methode anerkannt ist. Natürlich ist der Übergang zwischen den verschiedenen Generationen dann fließend und wird im Laufe der Jahre auch immer weiter verwaschen, aber im Großen und Ganzen sind wir als Menschheit gerade auf einem guten Weg, erblich bedingte Krankheiten endlich hinter uns zu lassen."
"Also stehen Sie voll und ganz hinter dem Programm?" Ein Lächeln schlich sich auf Linns Lippen.
"Ja, ich halte es für eine der besten Entwicklungen in der Evolution der Menschheit. Ich würde ehrlich gesagt sogar noch einen Schritt weitergehen und Anreisende mittels eines Bluttests auf Virus- oder bakterielle Erkrankungen untersuchen, die logischerweise nicht von einer fehlerhaften DNA des Menschen abhängen. Meiner Meinung nach kann man nur so auf Dauer eine Welt erschaffen, die praktisch frei von Krankheiten ist."
"Das sind doch schöne Schlussworte finde ich. Ich bedanke mich für Ihre Zeit und werde Ihnen im Lauf der nächsten Tage meinen Artikel zukommen lassen, damit Sie ihn Korrektur lesen und sicher stellen können, dass meine Arbeit in Ihrem Sinn ist." Sie stand auf und reichte Linn die Hand.
"Gern geschehen. Auf Wiedersehen. Ich freue mich auf Ihren Artikel", sagte Linn und nahm sich einen Keks, bevor sie den Konferenzraum verließ. Zu ihrer eigenen Überraschung war sie tatsächlich gespannt darauf, zu lesen, was Pfaff aus ihrem Interview machen würde. Sie hatte sich besser geschlagen als zunächst vermutet.