ERSTER TEIL
ERSTES KAPITEL
Von verschwimmenden violetten Flecken überzogen, flammte noch immer das Abendrot, doch am tiefblauen Himmel zeichnete sich unmittelbar über Kara-Wadi bereits ein kaum sichtbarer weißlicher Kreis ab, der einen Vollmond ankündigte. Es war, als wehe die Abenddämmerung aus der Steppe herüber. Sie verwischte die Umrisse der Duwale, und die Hauptstraße des Kischlaks war wie in Rauch getaucht.
Zwei Frauen verließen den Hof des Kolchos-Miraben Rachim Taschmatow. Ihre Gesichter waren in Parandshas gehüllt.
»Die Glückliche! Sie weint vor Freude«, sagte die eine.
»Kein Wunder«, meinte die andere, »wenn man von einem solchen Recken begehrt wird!«
»Du hast wohl recht. Doch auch Ai-Nor braucht sich nicht arm zu stellen: Eine wie sie hätte früher einen Platz am Emirhof bekommen und alle anderen Frauen ausgestochen. Unsere Burschen beneiden Taschpulat.«
»Ein prachtvolles Paar, niemand wird das bestreiten!«
Auf dem Pfad, der sich dicht an den Duwalen entlangschlängelte, erschien eine dritte, ebenfalls in eine Parandsha gemummte Gestalt. Es war Mariam Berdyjewa, die Freundin der Braut. Sie näherte sich der Pforte und entblößte die untere Gesichtshälfte.
Mariam und Ai-Nor wurden im Kischlak die Unzertrennlichen genannt. Immer, wenn man Mariam lachen hörte, konnte man sicher sein, dass im nächsten Augenblick auch Ai-Nors Lachen ertönen würde, und stimmte Ai-Nor einmal ein Lied an, dann fiel sofort auch Mariam mit ein. Gemeinsam gingen sie beim Morgengrauen aufs Feld, wo sie Schulter an Schulter arbeiteten, und ihre Unzertrennlichkeit ging so weit, dass sie sogar unter einer Decke schliefen - bald auf Ai-Nors Hof, bald bei Mariam. Und morgen sollte eine Hochzeit stattfinden, die wie ein Messer diese jungfräuliche Freundschaft zerschneiden musste - Taschpulat war stolz und würde Ai-Nor gewiss nur für sich haben wollen. Dieser heißblütige Dshigit! So einer bekommt es fertig, selbst auf die Sonne eifersüchtig zu sein, wenn sie sein Eheweib allzulange bewundert!
»Salem aleikum, Mariam! Wie ist dein Befinden?«
»Danke«, erwiderte Mariam dumpf und schlüpfte durch die Pforte.
Die beiden andern schüttelten mitfühlend den Kopf.
»Sie grämt sich, für sie ist es wirklich nicht leicht.«
»Ein wahres Wort. Doch strenggenommen ist es ihre eigene Schuld: Für unsereins gilt es doch geradezu als unanständig, sich dermaßen an ein anderes Weib zu hängen. Der Himmel hat uns Frauen ein besonderes Los zugeteilt.«
Auf dem Hof des Miraben rauschten die Pfirsich- und Granatbäume. Zwischen der hinteren Mauer und der Kibitka, die flach auf einem Sandhügel ruhte, wanden sich Weinreben um Reihen von Stangen und bildeten so einen grünen Korridor. Reben umrankten auch die Pfähle des Hauses und liefen zum Vordach hinauf, von dem sie wie wehende Krausbärte herunterhingen.
Unter diesem grünen Vordach war auf einem Teppich ein Dostarchan ausgebreitet. Um ihn herum saß der Herr des Hauses mit seinem alten Freund Tadshibai und dessen Schwiegersohn Muchitdin und mit sechs Greisen: zwei davon waren seine Nachbarn, die vier anderen wohnten in der weiteren Umgebung.
Der Schweiß rann über ihre braunen, wetterharten Gesichter, setzte sich in die Runzeln und Falten und nässte die grauen Bärte. Das kam jedoch nicht von dem heißen Koktee, sondern durch den Streit, der so erregt war, dass sie jede ihrem Alter angemessene Würde vergaßen und sich gegenseitig ungeniert ins Wort fielen. Jeder brüllte seine eigenen Gedanken einfach heraus, doch drei Worte wurden von allen Streitenden immer wieder ausgestoßen: Syr-Darja . Kara-Darja . Naryn .
Im Frühjahr hatten sich ungewöhnliche Dinge ereignet, eine so tolle und märchenhafte Zeit hatte es wohl kaum jemals gegeben! Ehe noch die Verwunderung abgeebt war, die die wuchtigen Hackenschläge der Ljagan-Helden hervorgerufen hatten, ging durch die Zeitungen eine neue, noch aufregendere Kunde: In den Ferganatälern, in den Bergen von Tadschikistan und in den kirgisischen Steppen sprächen bereits Tausende von Menschen von jener Gegend, in der die breite Syr-Darja den rasenden Naryn aufnahm und mit ihm zum Aralsee weiterströmte.
Wasser! Gab es etwas auf der Welt, das die Augen, die Ohren und das Herz der Dechkanen mehr erfreute als Wasser? Wo die Flüsse versiegen, versiegt auch das Leben - von dort müssen die Menschen fliehen, und alles, was nicht auf den Schultern getragen oder in Arbas mitgenommen werden kann, fällt dem Sande zum Opfer. Solche verlassenen Siedlungen werden von alters her tote Kischlaks oder schwarze Friedhöfe genannt. Reglos warten dort mit erloschenen Herdfeuern die Häuser auf die Stunde, da sie die Steppe verwehen wird mit ihrem heißen Sand; in der glühenden Luft knistern die Bäume mit ihren nackten Zweigen, die Obstgärten sterben, und über Gräbern von Menschengenerationen wachsen hohe Sandkurgane empor.
Wo viel Wasser ist, wächst und gedeiht alles Leben ohne Mühe. Wie schwer haben es dagegen die Kolchosen, wenn ihre durstigen Felder und Gärten den Launen der Sonne ausgesetzt sind, die das Tauen der fernen Gletscher entweder zurückhält oder zu solcher Eile antreibt, dass das Wasser im Frühjahr tagelang in brausenden Strömen über den Erdboden hinwegrinnt, ohne für den Sommer auch nur einen Tropfen übrigzulassen.
Doch auch unter den wasserärmsten Kischlaks findet man kaum einen dürftigeren als Kara-Wadi. Es hat schon guten Grund, dass er seinen Namen der Schwarzen Wüste verdankt, an deren Saum er sich festhält. Aber an dem Tag, an dem in dieser Wüste der Spiegel eines breiten Kanals aufblinkt, wird hier eine große Veränderung beginnen, und die wird andauern, bis auf jedem Hofe Wohlstand und Zufriedenheit eingekehrt sein werden.
Ein verlockender Gedanke, doch kaum glaubwürdig. Die Syr-Darja war weit und noch weiter der Naryn.
»Den Jungen könnte man's noch verzeihen, aber es gibt auch Greise, die ebenso gedankenlos sind wie die Grünschnäbel«, empörte sich Tadshibai. Er hatte hervorquellende, böse Augen, und seine grauen Brauen, sein Schnurrbart und sein außergewöhnlich dünner Bart sahen aus, als wären sie nicht echt, sondern in aller Eile an sein dunkles, zerfurchtes Gesicht angeklebt. »Wenn die Musik gut ist, tanzen sogar die Schlangen!«, fuhr er fort. »Und wenn man nach Wasser ruft, findet sich wohl keiner, der nicht sagt: Ich komme mit!« Nach einem flüchtigen Blick auf Mariam, die gerade in der Kibitkatür verschwand, kehrte er das Gesicht seinem Nachbar zu und stach mit dem ausgestreckten Zeigefinger in die Luft. »Doch wenn es sich um große Dinge handelt, dann wäre es schon ratsam, dem Herzen zu sagen: Sei still, du Dummes! Lass doch auch den Kopf mal zu Worte kommen! Und der Kopf, der meint: Ein hungriges Huhn träumt eben immerfort von Körnern.« Er lehnte sich mit seinem ganzen Oberkörper zurück und schlug sich aufs Knie: »Ich glaube nicht an das Wasser des Naryn! Auch wenn ich immerzu davon träume - ich glaube nicht daran!« Sein Nachbar hatte den Mund schon halb geöffnet, doch Tadshibais harter Blick ließ ihn erstarren. »Mir ist, ihr Alten, als ob ihr die Weisheit von Chan-Chasarts Worten vergessen hättet: >Eher wird der Himmel zur Erde und die Erde zum Himmel, als dass ein Fluss plötzlich rückwärts strömt.< Das sagte Chan-Chasart den Menschen, die zu seiner Zeit davon träumten, die Jaksart durch ihre Felder fließen zu lassen.«
»Denk doch an den Ljagan!«, rief endlich Tadshibais Nachbar, und ein anderer Greis, mit einem dunklen und starren Gesicht wie aus einem alten, rissigen Fresko, fügte spöttisch hinzu: »Der Himmel nimmt noch seinen alten Platz ein, und die Erde hat sich nicht einmal geregt, doch die Isfairam gehorchte dem Willen der Ljagan-Recken und floß stromaufwärts, um mit ihrem Gewässer die schwache Schachimardan zu stützen.«
»Und woraus schließt du, Tadshibai-Aka, dass die Herzen der Menschen dumm sein müssen?«, rief wieder Tadshibais Nachbar; seine rötlichen Augen wurden schmal und giftig. »Und warum glaubt Tadshibai-Aka, Tausende von Menschen, die darauf brennen, den Kanal zu bauen, hätten keinen einzigen Kopf auf den Schultern?«
Muchitdin nahm die Schale vom Mund und sah seinen Schwiegervater gespannt an: Der Alte ging geradewegs auf die Falle zu, die ihm seine Gegner mit ihren unverblümten Fragen stellten, und es war abzuwarten, ob er ihr entgehen würde.
Auch die Greise lauerten auf Tadshibais Antwort - seine Anhänger mit furchtsamer Spannung, die Widersacher triumphierend.
Nur der Herr des Hauses schien völlig unberührt zu sein. Ohne seinen Freund eines Blickes zu würdigen, lauschte er gespannt auf die...