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Teagan
Harmony, Maine. 996 Seelen. Und ich. Wenn ich es schaffe, mich und meinen Mietwagen, eine einzige Enttäuschung mit Allrad-Antrieb, hinter das Ortschild von Harmony zu bewegen. Nicht, dass der Wagen nicht könnte. Er könnte, aber nur sehr langsam. Und ohne den nötigen Antrieb, um das ganze Unterfangen kurz und schmerzlos zu machen. Was auch immer Sheron, meine Chefin slash beste Freundin, dazu bewogen hat, der kleine, rote Ford war mit Abstand der erfreulichste Anblick, der sich mir seit meiner Landung in Portland geboten hat. Natürlich nur, bis ich eingestiegen bin und festgestellt habe, dass eine hübsche Farbe kein Indikator für einen vernünftigen Motor ist. Dabei habe ich bis heute angenommen, mein Boss sei eine Frau der inneren Werte. Rundum: Er könnte, ich könnte, jetzt, gleich, in ein paar Minuten oder Stunden. Aber mit dem Können ist das so eine Sache. Können, Wollen und Sollen sind Begriffe, deren Nähe sich mir noch nie wirklich erschlossen hat. Weswegen ich an dem verlassensten Ort in ganz Maine verharre, den es vor dem verlassensten Ort in ganz Maine gibt.
»Hi, Sher«, sage ich in die Freisprechanlage und muss lächeln.
»Hasst du mich schon?« Sie klingt zurückhaltender als sonst - für ihre Verhältnisse. Vielleicht lassen die gefühlt eine Million Kilometer zwischen uns ihre Stimme auch sanfter werden.
»Niemals.« Es stimmt. Das hier mag ein Himmelfahrtskommando sein, aber um sie zu hassen, ist die Erinnerung an ihre Kirsch-Joghurt-Muffins viel zu frisch. Oder ich bin noch nicht lange genug hier.
»Wo bist du gerade?«
»Parkplatz, andere Ecke des Landes«, antworte ich trocken.
»Komm schon, Honey, hast du kein Ortsschild für mich?«
»Nope und ich bezweifle, dass es hier so was gibt.«
»Natürlich gibt es Ortsschilder in Maine!« Sie lacht angestrengt.
»Gibt es nicht.« Hätte sie sich wenigstens die Mühe gemacht, mich per Videochat anzurufen, hätte ich sie jetzt angeschmollt. Aber busy wie Sheron ist, muss ich mich damit begnügen, in Richtung der Freisprechanlage zu grummeln. Hörbar.
»Durchatmen, Teags, durchatmen. Es wäre eine Schande, wenn du an deinem Unmut erstickst, bevor deine Lungen zum ersten Mal Waldluft tanken.«
»Das wäre ein verdammtes Wunder«, sage ich und seufze. »Wenn ich noch eine Minute in diesem Wagen verbringen muss, erdrossele ich jemanden.«
»Erstens: Steig aus. Zweitens: Nach deiner vehementen Weigerung, Kontakte in Maine zu knüpfen, hätte ich nicht gedacht, dass du so schnell einknickst.«
»Bin ich nicht«, zische ich zurück.
»Ausgestiegen oder eingeknickt?« Sherons Hartnäckigkeit ist unübertrefflich.
»Eingeknickt.«
»Gib mir 48 Stunden, Darling, und wir werden sehen. Hast du ein Ortsschild gefunden? Es klingt, als wärest du ausgestiegen.«
»Nein.«
»Interessant«, murmelt meine Chefin, dann höre ich einen Stift über Papier kratzen. Wahrscheinlich einer ihrer sündhaft teuren Kugelschreiber, die genauso gut ihr Augapfel sein könnten. Statt hinter braungetönten Prada-Gläsern einer ebenfalls sündhaft teuren Sonnenbrille bewahrt sie die Kugelschreiber in einer einbruchssicheren Vitrine auf, die nicht mal ich anrühren darf. Als würde ich meinem Boss und meiner besten Freundin etwas stehlen. Und dann auch noch ihre Kugelschreiber! Entweder überschätzt sie mein Interesse an Schreibgeräten maßlos oder ich wirke langweiliger, als mir lieb ist.
»Ich muss los.« Obwohl ich weiß, dass am Ende dieser Straße nichts Gutes warten kann, habe ich das Bedürfnis, Sher verstummen zu lassen. Ich könnte sie einfach ausschalten, aber selbst an den Grenzen der Zivilisation fühlt sich der Gedanke daran verwerflich an. Sehr verwerflich, wenn man bedenkt, dass sie mich vor zehn Stunden mit einer feierlich-übergroßen Portion Kirsch-Joghurt-Muffins gefüttert hat. Proviant oder Bestechung, vielleicht auch beides. Was auch immer sie damit bezwecken wollte, sie waren köstlich.
»Viel Erfolg«, wünscht sie mir aufrichtig.
»Danke.« Ich kann es gebrauchen.
»Du solltest zufrieden sein. Mit ein bisschen Glück verbessert die frische Luft auch deine Sehfähigkeit, Honey.«
Ich kann ihr Grinsen durch den Lautsprecher hören, doch bevor ich mich erkundigen kann, was sie meint, hat Sheron bereits aufgelegt. Erst als ich das verdammte Schild nicht länger ignorieren kann, verstehe ich es. Sheron sieht alles, hört alles, weiß alles. Deswegen weiß sie auch, wo sich mein Firmenhandy befindet. Die Ortungsfunktion. Ich hätte das Firmenhandy ausschlagen können, aber ehrlich, wer schlägt ein glänzendes iPhone aus, wenn die Alternative ein zerschrammtes Blackberry aus dem letzten Jahrzehnt ist? So wie ich meine Freundin kenne, hat sie die Ortungsfunktion in dem Moment geöffnet, in dem sie angerufen hat. Oder davor. Nicht, um mich zu kontrollieren. Zur Sicherheit. Denn auch wenn Sher ein angsteinflößendes Alphatier sein kann, war sie mir nie etwas anderes als eine gute Freundin. Und eine besorgte noch dazu. Es sieht ihr nicht ähnlich, mich mit meiner Ortsschild-Lüge davonkommen zu lassen (»Lügen sind der Anfang des Endes, Honey. Die Wahrheit führt uns vielleicht an den Abgrund, aber wenigstens nicht in die Hölle«), aber ich versuche gar nicht erst, ihre Denkmuster zu ergründen. Das habe ich schon vor langer Zeit aufgegeben. Weshalb ich bin wo ich bin. Wenige Meter vor meiner ganz persönlichen Hölle. Das Ortsschild zieht viel zu langsam an mir vorüber. Das hier ist ein Trauerspiel, noch bevor es überhaupt angefangen hat.
Harmony ist so klein, dass ich die gesamte Stadt vom Ortsschild aus überblicken kann. Ich fahre nicht absichtlich Schritttempo, aber weil mein Leihwagen langsamer ist als jede Kutsche, bleibt mir nichts anderes übrig, als der Wahrheit ins Auge zu sehen. Die Wahrheit ist ernüchternd, klein und widerlich idyllisch. Das Schlimmste daran ist, dass ich alle Zeit der Welt habe, mich mit dieser Wahrheit zu arrangieren. Vier Monate hat Sher mir gegeben. Länger, wenn ich das Ziel bis dahin nicht erreicht habe. Sie war sich ihrer Sache sicher, als sie mir den Koffer und die Abschiedsmuffins in die Hand gedrückt hat. Sie war sich ebenso sicher, dass ich Harmony nicht verlassen werde, bevor ich meinen Auftrag erfüllt habe. Das bekommt man also, wenn man sich eine Auszeit vom Büro wünscht. Heimlich natürlich, aber ich wette, dass Sher von diesem Wunsch wusste. Nur dass 996-Seelen-Orte definitiv nicht auf meiner Wunschliste standen. Ich bin mir sicher, dass sie auch von der Sache mit Cam weiß. Nur sie erscheint drängend genug, um mich ins Exil zu befördern. Harmony ist der Inbegriff von Exil. Es hat keinen Zweck, mich gegen mein Schicksal aufzulehnen, zumindest nicht jetzt. In dem Moment, in dem Cam mich angestarrt hat, als wäre ich aus der nächsten Dimension gestolpert, war meine Zukunft besiegelt. Ich werde ihm niemals die Genugtuung geben, mich scheitern zu sehen. Niemandem. Und genau deswegen werde ich Sheron nicht enttäuschen.
Die Straße ist kaum unter den grünen Blättern auszumachen, die mir die Sicht versperren. Natürlich äußerst effektiv für eine natürliche Barrikade. Nicht, dass der Ford und ich vorhätten, das Geschwindigkeitslimit auf den kaum sichtbaren Straßenschildern zu übersteigen. Dazu wären wir unter diesen Umständen gar nicht in der Lage (ein zu schwacher Motor und meine Wut, überhaupt hier gelandet zu sein, miteinbegriffen). Verdammter Cam, verdammte Geburtstagsfeier, verdammte Kleinstädter! Letzteres verdient besondere Aufmerksamkeit, weil plötzlich zwei schäbige Volvos an mir vorbeipreschen. Sie kommen aus dem Nichts und verschwinden in meinem Rückspiegel, bevor ich wütend die Luft einziehen kann. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das Tempolimit auch für Kleinstadtbewohner gilt. Andererseits ist Harmony vielleicht doch nicht so langweilig, wie mich der knappe Eintrag auf Wikipedia glauben lassen hat. Wo es Autorennen gibt (vermutlich illegal), gibt es Menschen, die bereit sind, Regeln zu brechen (vermutlich lebensmüde). Das macht genauso lange Spaß, bis man im Exil landet - ich spreche aus eigener Erfahrung. Aber immerhin scheine ich besser in den beschaulichen Ort zu passen, jetzt, wo ich die höchste aller Regeln gebrochen habe. Fange niemals was mit deinem Vorgesetzten an. Fange niemals was mit dem Cousin deiner besten Freundin an. Ich hoffe, die rasenden Bewohner von Harmony erkennen mich als Gleichgesinnte.
Augenrollend konzentriere ich mich auf einen Punkt im Rückspiegel, dort, wo die beiden Autos vor Sekunden verschwunden sind. Minuten vielleicht, aber die Bäume und Büsche am Straßenrand geben mir keinerlei Aufschluss darüber, wie weit ich mich bereits vom Ortsschild entfernt habe. Ich könnte kurz vor dem Stadtkern sein (falls es so was gibt) oder ganz an Harmony vorbeigefahren sein, ohne auch nur ein Haus im Blätterdach ausgemacht zu haben.
Lautes Hupen reißt mich abrupt aus meinen Gedanken. Blätter, Büsche, Asphalt. Als mein Blick durch die Frontscheibe fällt, ist es bereits zu...