Schweitzer Fachinformationen
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Um vier Uhr morgens habe ich meine Leiche.
Mary Jane Langton. Verschwunden im August 2005. Studentin an der Swansea University, zweiundzwanzig Jahre alt. Als vermisst gemeldet. Großes Medienecho. Die Ermittlungen waren so gründlich, wie sie nur sein konnten. Trotzdem keine heiße Spur, der Fall wurde nie abgeschlossen. Rhiannon Watkins war auch damals die leitende Ermittlerin.
Ich weiß, dass Langton die Gesuchte ist, sobald ich ein Foto von ihr sehe, das sie auf einer Party zeigt. Ein bisschen pummelig, kurzer Rock, ziemlich hübsch, blond. Und ihre Schuhe: rosa Wildleder mit runder Zehe und schmalen Keilabsätzen. Bestimmt hat sie sie zwei, drei Jahre vor ihrem Tod gekauft. Anscheinend haben sie ihr so gut gefallen, dass sie sie selbst dann noch trug, als sie schon wieder out waren. Sie trägt sie immer noch, im Tod und darüber hinaus. In einer stinkenden Tiefkühltruhe in der Nähe eines leeren Stausees.
Außer mir ist niemand mehr im Büro. Die anderen Ermittler sind gegen Mitternacht nach Hause gegangen. Hinreichend spät, sodass nicht einmal Watkins ihnen mangelnde Arbeitsmoral vorwerfen könnte. Die Deckenbeleuchtung ist aus - nur ich und die Schreibtischlampe und die kleinen rechteckigen Displays von Telefonen und Druckern, die wie Glühwürmchen im Dunkeln leuchten.
Wahrscheinlich sollte ich die anderen über Langton in Kenntnis setzen, aber ich lese mir erst mal ihre Akte durch. Abschluss in Englischer Literatur. Sie arbeitete an ihrer Dissertation über Dylan Thomas. Eine überraschend walisische Wahl für ein englisches Mädchen. Die Eltern leben in Bath. Er ist Anwalt, sie arbeitet für eine Wohlfahrtsorganisation. Ein Bruder und eine Schwester.
In Langtons Akte steht nichts Verdächtiges. Man hatte ein bisschen Haschisch in ihrem Zimmer im Studentenwohnheim gefunden. Keine ungewöhnlich hohe Zahl an Freunden oder Affären. Durchschnittliche Noten. Nicht herausragend, aber gut genug. Wollte in die Verlagsbranche, hatte darüber hinaus aber noch keine konkreten Pläne. Und sie mochte Schuhe.
Nur eines sticht heraus.
Die Zeitungsartikel über den Fall und unsere eigenen Ermittlungsprotokolle geben an, dass Langton sich das Studium als «exotische Tänzerin» finanzierte.
So ein blöder Ausdruck. Zum einen gibt es wohl nichts weniger Exotisches als ein etwas pummeliges englisches Mädchen, das sich um eine Gerüststange wickelt. Außerdem geht es dabei überhaupt nicht ums Tanzen. Es geht um nackte Haut, Männer und Geld. In den Akten befinden sich auch ein paar Fotos der tanzenden Langton. Auf einem trägt sie ein Flitterminikleid, auf einem anderen einen Paillettenbikini. Auf beiden Bildern grinst sie - mit ihren Hasenzähnen wirkt sie eher wie ein Schulmädchen als sexy.
Scheiße.
Genau das ist das Albtraumszenario, das ich in meiner Polizeikarriere unbedingt vermeiden wollte. Etwas, von dem ich blöderweise dachte, es würde nie passieren. Und jetzt weiß ich nicht, wie ich damit umgehen soll.
Am liebsten würde ich aufstehen, das Gebäude verlassen, ein bisschen durch die Gegend fahren und nachdenken, aber dafür fehlt mir die Zeit. Wäre ich zu Hause, würde ich in den Garten gehen und was rauchen, um den Kopf freizubekommen, aber das geht hier natürlich nicht.
Ist wahrscheinlich auch gar kein Problem, sage ich mir. Stimmt ja auch. Es ist wahrscheinlich gar kein Problem. Das Dumme ist nur - vielleicht ist es doch eins, und wenn das der Fall sein sollte, dann ist es ein Problem von unvorstellbaren Ausmaßen. Obwohl ich mir geschworen habe, es niemals zu tun, greife ich zum Telefonhörer und rufe meine Eltern an.
Mam ist dran. Ihre Stimme klingt verschlafen und besorgt.
«Mam, ich bin's. Keine Angst, alles in Ordnung. Kann ich bitte mit Dad sprechen?»
Ich kann. Sie gibt das Telefon weiter.
«Hallo, Fi, mein Schatz.»
«Dad, ich bin da an was dran. Es ist wahrscheinlich nichts, aber kannst du mich von einer sicheren Nummer aus zurückrufen?»
Er zögert einen Augenblick. Nein, nur einen halben. Eine Nanosekunde. Dann: «Natürlich, Kleines. Moment, ja?»
Zwei Minuten später klingelt mein Handy. Rufnummer unterdrückt.
«Dad?»
«Fi, was gibt's?»
«Hör mal, womöglich hat es nichts zu bedeuten, aber hast du zufällig in den Nachrichten gehört, dass sie in Llanishen einen Leichenteil gefunden haben?»
«Oben beim Reservoir? Nein. Das ist ja furchtbar! Unglaublich, dass so was in Cyncoed passiert.»
Das muss ich einen Augenblick lang sacken lassen. «Die Tote heißt Mary Langton.» Ich mache eine Pause, falls Dad etwas dazu sagen will. Dann spreche ich schnell weiter, bevor er irgendwelche Belanglosigkeiten vom Stapel lässt. «Sie ist im August 2005 verschwunden. Eine Stripperin. Na ja, eigentlich eine Studentin, die nebenbei ein bisschen Poledance gemacht hat, um sich was dazuzuverdienen. Mary Langton.»
Dad hört zu, ohne mich zu unterbrechen. «Armes Ding», sagt er schließlich. «Schlimme Sache, was? In so einem Alter. Sie hatte das ganze Leben ja noch vor sich. Und plötzlich - zack, aus und vorbei. Man denke nur an ihre armen Eltern! Himmel, wenn dir oder deinen Schwestern je etwas zustoßen sollte, wüssten deine Mam und ich nicht .»
«Dad, war sie, äh, hat sie in einem deiner Clubs getanzt?»
«Meine Güte, du stellst Fragen! Du weißt doch, wie das ist. Außerdem ist es jetzt mitten in der Nacht. Das arme Mädchen ist vor fünf Jahren verschwunden. Wir hatten im Laufe der Jahre so viele Tänzerinnen, da kann ich mich unmöglich an jede einzelne erinnern. Wir haben natürlich Unterlagen, da müsste es drinstehen. Ich kann Emrys Bescheid geben, dass er mal nachsehen soll, wenn dir das hilft. Ich hab's ja nicht so mit dem Papierkram, aber Emrys findet alles heraus. Soll ich ihn anrufen? Wenn es wichtig ist, hole ich ihn aus dem Bett, kein Problem. Es ist schließlich eine Polizeisache, da kann er schon mal auf seinen Schlaf verzichten. Wir sind ja auch noch wach, oder nicht?»
Er ist drauf und dran, einfach weiterzuplappern. Ich unterbreche ihn, sage, es habe Zeit, er solle wieder ins Bett gehen, es tue mir leid, dass ich ihn aufgeweckt habe, und ich hoffe, Mam macht sich keine Sorgen. Er sagt, dass ich auf mich aufpassen und morgen zum Abendessen kommen soll. «Und bring diesen jungen Mann mit, wir würden ihn gerne wiedersehen.»
Wir legen auf.
Wieder Stille. Die Schreibtische verlieren sich in der Dunkelheit. Kleine rechteckige Glühwürmchen. Das Brummen schlummernder Elektronik. Vier Uhr zweiundvierzig.
Dad ist gut. Ein Profi. Das habe ich erst vor kurzem so richtig begriffen, und dieses Wissen macht mir Angst. Schon komisch, wie sich die Dinge ändern, wenn man genauer hinsieht.
Sein größter Trick ist seine ständige Laberei. Er redet wie ein Wasserfall, scheinbar völlig unzusammenhängende Dinge. Jeder, der das Telefonat belauscht hätte, wäre wohl zu dem Schluss gekommen, dass mein Dad furchtbar leicht zu durchschauen ist: freundlich, besorgt, offen, hilfsbereit.
Bis man genauer hinsieht. Die kleinen Hinweise zu deuten lernt. Ich habe gesagt, dass man Leichenteile in Llanishen gefunden habe. Vom Reservoir war nie die Rede, und außerdem hat das Reservoir zwei Ufer: das Cyncoed- und das Llanishen-Ufer.
Dad hat aus Llanishen Cyncoed gemacht. Natürlich kann er da etwas durcheinandergebracht haben, schließlich ist es mitten in der Nacht, und er war im Halbschlaf. Oder es war ein Hinweis darauf, dass er bereits über alles Bescheid weiß, dass er längst alles unter Kontrolle hat. Will er mir damit sagen, dass er nichts zu verbergen hat? Oder dass er genau dafür gesorgt hat? Oder dass er die Gefahr erkannt und bereits alle Hebel in Bewegung gesetzt hat, um sie zu bannen?
Keine Ahnung.
Es würde mich ja auch nichts angehen. Wenn ich nicht ausgerechnet Polizeibeamtin wäre und gerade einen möglichen - ja, was? Informanten? Verdächtigen? - gewarnt hätte. Ich habe mir geschworen, mein Amt nie dazu zu missbrauchen, meinen Vater zu decken. Doch gerade scheinen meine Rollen als Tochter und als Polizistin erstmalig unvereinbar zu sein, und ich habe nur ein paar Sekunden gezögert, bevor ich mich auf die Tochterseite geschlagen habe. Würde ich die gleiche Entscheidung treffen, wenn es wirklich hart auf hart käme? Oder wollte ich mit meinem Anruf nur dafür sorgen, dass es verdammt noch mal gar nicht erst so weit kommt?
Keine Ahnung. Darüber kann ich mir später den Kopf zerbrechen. Glühwürmchen und die Schuhe einer Toten.
Ich lausche eine Weile meinem Herzschlag, meiner Atmung. Versuche, meinen Körper zu fühlen. Mich selbst zu fühlen. Ich drücke meine Fingerknöchel gegen die hölzerne Schreibtischplatte, bis es weh tut. Ich kann meine Füße nicht richtig spüren, aber das ist bei mir nichts Ungewöhnliches. Außerdem bin ich seit fast vierundzwanzig Stunden auf den Beinen. Allmählich werde ich müde. Ein gutes Gefühl. Angemessen. Normal.
Ich ziehe die Stiefel aus und suche meine Unterlagen zusammen. Rhiannon Watkins' Büro befindet sich eine Etage über mir. Leise steige ich in den Lift und fahre nach oben. Lasse meine Codekarte durch den Kartenleser an der Tür gleiten. Suche ihr Büro. Öffne die Tür, weil ich Langtons Akte mit einer Notiz auf ihren Schreibtisch legen will.
Da ich mich zu dieser nächtlichen Stunde lieber im Dunkeln bewege, schalte ich auch hier das Licht nicht ein. Trotzdem ist Watkins' Büro beleuchtet. Ihre Schreibtischlampe brennt. Ein kleiner, konzentrierter Lichtkegel, der direkt auf die Tischplatte gerichtet ist. Und hinter dem Schreibtisch sitzt...
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