Kapitel 1
»Ja, Mum, ich weiß .« Fina verdrehte die Augen und war froh, dass Colleen sie durchs Telefon nicht sehen konnte. Sonst hätte ihre übersensible Mutter wieder tagelang geschmollt.
Ungeduldig trat sie von einem Bein auf das andere und musterte den hässlichen rotbraunen Wohnblock auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Das Backsteinhaus konnte dringend eine Renovierung vertragen. Vor allem neue Fenster. Dann würden die billigen Vorhänge dahinter vielleicht nicht so schäbig aussehen. Allerdings würde das Haus damit nicht mehr in die Gegend passen.
»Aber kannst du dir das denn leisten, Schätzchen? So ein Pflegeheim ist ja sehr kostspielig, oder?«, flötete Colleens Stimme aus dem Handy.
Fina konnte sich ein erneutes Augenverdrehen nicht verkneifen. Natürlich wusste sie, wie teuer ein Pflegeheim war. Schließlich bezahlte sie es.
»Ich habe alles exakt berechnet. Außerdem kann ich Granny wohl kaum sich selbst überlassen. Kürzlich hat sie mich Susy genannt und gefragt, ob ich ihre Enkelin Fina kenne. Sie war der festen Überzeugung, ich wäre erst fünf Jahre alt .«
»Witzig, Susan war mal ihre engste Freundin. Ich glaube, das war in den Siebzigern.«
Fina schüttelte den Kopf, während sie dem heiseren Lachen ihrer Mutter lauschte. Colleen hätte die ganze Sache wohl kaum so spaßig gefunden, wenn sie hier gewesen wäre und sich selbst um ihre Mutter hätte kümmern müssen. Doch wie immer, wenn es wirklich zählte, befand sie sich auf »Tournee«. So nannte sie es.
Colleen hatte von jeher ihrer Tochter die Schuld daran gegeben, dass aus ihrer Tänzerinnen-Karriere nichts geworden war. Ihrer Ansicht nach lag dieses Scheitern keinesfalls an mangelndem Talent oder an der Tatsache, dass sie sich mit zweiundzwanzig Jahren von einem verheirateten Anwalt hatte schwängern lassen. Ein Anwalt, der noch dazu alt genug gewesen war, um Colleens Vater zu sein.
Während Finas gesamter Kindheit hatte Colleen sie, so oft es ging, zur Großmutter abgeschoben, um weiter ihrem Traum nachzujagen. Mit wenig Erfolg. Heute gab Colleen Tanzkurse für Senioren auf einem Kreuzfahrtschiff.
»Also, hör zu, Mum, ich bin da.« Fina blickte erneut zu dem heruntergekommenen Gebäude auf, in dem ihre Familie jahrzehntelang gewohnt hatte. »Ich muss Schluss machen.«
»Wie du das alles regelst, mein Schatz. Besser, als ich es je könnte. Na ja, du warst eben immer die Verlässlichere von uns beiden.«
Das stimmte allerdings. »Schon okay, Mum. Hab dich lieb.«
»Mach's gut, meine Süße.«
Ein letztes Augenrollen zum Abschied, dann legte Fina auf.
Sie eilte über die Straße, machte dabei einen weiten Bogen um ein paar alte Frauen, die vor dem Haus tratschten, und stieß die Tür zum Treppenhaus auf. Der vertraute Geruch nach halb verdorbenen Essensresten und nassem Hund stieg ihr in die Nase. Sie nahm immer zwei Stufen auf einmal zum ersten Stock hinauf und kramte währenddessen den Wohnungsschlüssel aus ihrer Jackentasche. Da kündigte ihr Handy eine neue E-Mail an.
Fina warf einen Blick auf das Display, auf dem die Vorschau der Mail den Absender verriet.
»Der nicht auch noch .«, murmelte sie.
Ein weiterer Grund, um die Augen zu verdrehen. Kurz überlegte sie, die Nachricht zu ignorieren, aber ihre Neugier siegte. Sie lehnte sich neben der Wohnungstür an die Wand und las:
Liebe Miss Ramsay,
egal, wie viele fantasievolle Namen Sie sich für meine Filiale einfallen lassen, es ändert nichts an der Tatsache, dass wir in dieser Stadt koexistieren müssen. Ich bin zwar nicht Ihr Berater, dennoch gebe ich Ihnen einen geschäftlichen Tipp: Bieten Sie etwas Außergewöhnliches an, um Ihren Laden für die Kunden attraktiv zu halten. Sie sind doch eine clevere Geschäftsfrau mit fantasievollen Einfällen. Ich bin sicher, Sie schaffen das.
So long,
Liam McClary
McClary's Books, Belfast
»Mann, dieser arrogante A.«
Fina wirbelte herum, als sich die gegenüberliegende Wohnungstür mit einem Knarren öffnete.
»Hi, Miss Murphy«, schrie sie die schwerhörige Nachbarin an, die lediglich den faltigen Kopf aus der Tür streckte. »Wie geht es Ihnen heute?«
»Drück dich nicht wie eine Dirne im Hausflur herum, Kind«, krächzte die alte Frau, und ihre kleinen braunen Augen blickten sie scharf an. »Geh rein oder raus.«
»Höflich wie immer«, murmelte Fina. »Keine Sorge, wir müssen uns bald schon nicht mehr begegnen.«
Sie steckte den Wohnungsschlüssel in das Schloss und ließ sich mit der Schulter gegen die Tür fallen - anders ging das verzogene Ding nicht auf.
»Schönen Tag, Miss Murphy«, rief sie, bevor sie in die Wohnung huschte und die Tür hinter sich zuschlug.
Als Kind hatte sie eine Heidenangst vor dem alten Drachen gehabt, und auch heute lief es ihr eiskalt den Rücken hinab, wenn sie ihren giftigen Blick und die verkniffenen Lippen sah.
Sie lehnte sich von innen gegen die Tür und las Liam McClarys Mail noch einmal.
Seit sich dieser Londoner Lackaffe mit seinem protzigen Laden gegenüber ihrer kleinen Buchhandlung breitgemacht hatte, versuchte sie, ihn mit gepfefferten E-Mails aus der Stadt zu vertreiben. Sie hatte nicht wirklich erwartet, damit Erfolg zu haben, doch sie wollte ihm wenigstens das Leben schwer machen. Allerdings blieb er cool - und das brachte Fina wiederum zur Weißglut.
Zudem war es ihnen beiden wichtig, das letzte Wort zu behalten, was die Sache in die Länge zog. Vermutlich würden sie diesen E-Mail-Krieg führen, bis sie in Rente waren. Vorausgesetzt, Fina musste nicht schon vorher ihre Buchhandlung schließen.
McClary's Books war eine erfolgreiche englische Kette, die mehr Auswahl, niedrigere Preise und eine schwindelerregende Menge an allerlei Schnickschnack jenseits der Bücher bieten konnte. Wieso sollten die Leute denn da noch in Finas Reading Corner kommen? Ach ja, der Service - Fina bot ihren Kunden einen persönlichen und fachkundigen Service. Anders als die ahnungslosen Angestellten einer Buchhandelskette, die nicht mal Ernest Hemingway von William Butler Yeats unterscheiden konnten. Wahrscheinlich. Hoffentlich.
Seufzend ließ sie das Handy zurück in die Jackentasche gleiten. Darum würde sie sich morgen kümmern. Heute zählte einzig und allein das spärliche Hab und Gut ihrer Großmutter. Was brauchte sie im Heim und was durfte weg; was war gut genug zum Verkaufen, was konnte verschenkt, und was entsorgt werden?
Fina hatte sich den Tag freigenommen, um die Wohnung zu entrümpeln. Als sie durch den Flur ins Wohnzimmer schlenderte, berechnete sie die Zeit allerdings neu.
»Oh, Granny .«, murmelte sie und beäugte das Chaos in dem Zimmerchen.
Von der verschlissenen Couch war kaum etwas zu erkennen. Überall lagen alte Zeitungen und Zeitschriften, Berge von Kleidung und Strickutensilien. Auf dem Couchtisch stand ein halb angeknabbertes Käsebrot mit pelzig grünem Belag. Und der merkwürdige Geruch, der aus der Küche kam, weckte in ihr wenig Lust, diesen Raum zu betreten.
Wofür hatte sie überhaupt eine Haushaltshilfe angestellt? So wie es hier aussah, war Mrs Fitz seit Wochen nicht mehr hier gewesen.
Sofort packte Fina ein schlechtes Gewissen. Durch den Ärger mit McClary's Books und den Versuch, ihre kleine Buchhandlung zu retten, sowie den Hochzeitsvorbereitungen mit Sean, der ständig geschäftlich im Ausland war und ihr die gesamte Planung aufs Auge drückte, hatte sie sich viel zu wenig um ihre Großmutter gekümmert.
Nun, wenigstens hatte das Heim zwei Vorteile: Es war immer jemand da, der nach ihr sah. Und es war sauber.
Fina blies die Backen auf und ließ die Luft langsam daraus entweichen, während sie sich in der Wohnung umsah. Am liebsten hätte sie auf dem Absatz kehrtgemacht. Da sie jedoch - abgesehen von ihrer Mutter, die gerne durch Abwesenheit glänzte - die einzige lebende Verwandte von Bridget Ramsay war, fiel der Schwarze Peter wohl mal wieder ihr zu.
Sie friemelte den Haargummi von ihrem Handgelenk, band ihr Haar zurück, krempelte die Ärmel hoch und zerrte eine Rolle Müllbeutel aus ihrer Jackentasche.
»Dann mal ran an die Arbeit«, motivierte sie sich selbst.
*
»Hallo? Erde an Liam! Hörst du mir zu?«
Liam legte sein Handy beiseite und widmete sich seinem Finanzchef. Rory trug wie immer ein scheußliches kariertes Hemd, das sich mit seiner Haarfarbe biss. Was allerdings nicht zwingend am Hemd lag. Er hatte eine so seltsam rostrote Wolle auf dem Kopf, dass nichts, was er anzog, jemals dazu passte. Jedes Mal, wenn er Rory ansah, war Liam froh über seine unkomplizierten schwarzen Haare.
»Ich bin es nicht, der dich mit so lapidaren Angelegenheiten wie den Verkaufszahlen langweilen will. Du hast dieses Meeting anberaumt.« Rory wedelte mit einem Stapel Papier und bedachte Liam mit einem prüfenden Blick. »Und wieso grinst du überhaupt so dümmlich?«
Liam verschränkte die Hände auf dem Tisch und versuchte sich an einer strengen Miene, die Rory prompt zum Lachen brachte. Die beiden kannten sich von Kindesbeinen an, und sein bester Freund wusste, dass Liam das klassische Chefgehabe nicht lange durchhalten konnte.
»Darf man da, wo du herkommst, so mit seinem Boss reden?«, fragte er grinsend.
»Du bist jetzt wieder in Belfast. Schluss mit den Londoner Feinheiten, Sasanach.«
Seit Liam einmal von einer aufgebrachten Irin auf Gälisch als Sasanach - Engländer - beschimpft worden war, gehörte die Bezeichnung zu Rorys Lieblingswörtern. Er grinste...