Schweitzer Fachinformationen
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»Wie denken Sie darüber, dass die Unterhaltungsindustrie uns heutzutage eher zerstreut als zum Denken anregt?«
Die raue Stimme der Journalistin, die aus den Lautsprechern des Plasmafernsehers drang, verlieh ihren Worten zusätzlich Gewicht. Dennoch wirkte sie blass und unbedeutend neben Alessandro, der mit seinem Charisma nicht nur das ganze Fernsehstudio einnahm, sondern auch den Bildschirm und Eleonoras Wohnzimmer.
In Großaufnahme waren seine ebenmäßigen Gesichtszüge zu sehen, und da er schwieg, zoomte ihn die Kamera noch näher heran, bis nur noch die Augen und die erstaunt hochgezogenen Augenbrauen im Bild waren. Eleonora wusste, dass niemand außer ihr Alessandros Verärgerung mitbekommen würde, weil nur sie ihn so gut kannte. Sein Verhalten und die Mimik bedeuteten, dass ihm die Frage nicht gefallen hatte. Dass er sie snobistisch und anbiedernd fand.
»Unterhaltung hat im Grunde nur einen Zweck, nämlich den Menschen ein paar angenehme Momente zu verschaffen«, antwortete Alessandro schließlich, und sein Blick wurde sanft. Offenbar war er zum Schluss gekommen, dass die Journalistin nichts für die banalen Fragen konnte, die ihr ein Redakteur in den Mund gelegt hatte, und er sie deshalb nicht angehen durfte. »Die Unbeschwertheit und die Erholung, die damit einhergehen, helfen beim Nachdenken. Kinodrehbücher zu schreiben ist alles andere als einfach. Um die Zuschauer zu erreichen, muss man dafür sorgen, dass sie kurz innehalten, sich entspannen und lachen. Dann, wirklich erst dann, kann man das eine oder andere Signal aussenden.«
Die Journalistin hatte nichts von dem verstanden, was er da gesagt hatte, das war offenkundig. Dennoch nickte sie heftig und lächelte, als hätte sie gerade im Lotto gewonnen. Sie war zierlich und attraktiv, mit einer gewissen Ausstrahlung.
Eleonora wusste nur zu gut, wie Alessandro auf sein Gegenüber wirkte, allerdings wusste sie ebenfalls, dass die Journalistin keine Chance bei ihm hatte. Alessandro suchte sich stets Frauen aus, die seinen Beschützerinstinkt weckten. Eine zierliche Figur reichte da nicht.
»Dann wäre es also falsch, Existences zu den Unterhaltungsfilmen zu zählen?«
Diesmal nickte Alessandro, und im Gegensatz zur Journalistin tat er es mit Überzeugung.
»Existences ist eine italienisch-britische Koproduktion, wodurch der Film die Möglichkeiten einer Fusion unterschiedlicher Kulturen ausschöpft. Er ist unterhaltsam, weil er humorvoll ist und die Zuschauer berührt. Zugleich wirft er zahlreiche Fragen auf über den Sinn dieser Jahre. Ich weiß nicht, was die Jugendlichen im nächsten Jahrhundert in den Geschichtsbüchern lesen werden, für Zeitzeugen ist es immer schwierig zu beurteilen, was sie gerade erleben. Aber eines steht für mich fest: Der Individualismus der Achtzigerjahre hat wahre Unmenschen hervorgebracht, und es hat gut zwanzig Jahre gedauert, um das Wertesystem wiederherzustellen. Die Menschheit ist nicht untergegangen, sie hat sich nur in übergroßen Egos und undurchdringlichen Spiegelkabinetten verirrt. Wir alle sind inzwischen darum bemüht, eine neue gemeinsame Identität zu schaffen. Davon handelt der Film, der die Geschichte einer britischen Familie erzählt, die auf der Suche nach ihrer verschwundenen Tochter nach Rom zieht. Die Kunstmalerin, die Italien zu ihrer Wahlheimat gemacht hat, ist plötzlich spurlos verschwunden.«
»Apropos, lassen Sie uns über die weibliche Hauptfigur Melanie sprechen, übrigens hervorragend verkörpert von Barbara Connors. Melanie findet Zuflucht im Schloss von Davide, der von Ihnen dargestellt wird, um sich selbst zu verwirklichen. Gelingt es ihr denn am Ende?«
Erneut eine hochgezogene Braue, gefolgt von einem entwaffnenden Lächeln.
»Melanie geht ja genau den umgekehrten Weg wie die anderen Figuren, die sich von ihrem Egoismus befreien wollen. Sie dagegen spürt, dass sie ihre Identität verloren hat, und sucht diese in Davide, indem sie ihn zu ihrem Spiegel macht. Erst ganz am Ende verstehen die Zuschauer, warum ausgerechnet dieser einsame, von seiner dunklen Vergangenheit gequälte Unbekannte für sie zu einer Projektionsfläche werden konnte.«
Einsam, gequält, dunkle Vergangenheit - die Schlagworte erinnerten Eleonora an jemanden.
Der Film war in den italienischen Kinos gerade angelaufen und feierte bereits große Erfolge in ganz Europa. Eleonora hatte ihn am Abend zuvor zusammen mit Emanuele, Corinne, Denise und Maurizio gesehen. Sie waren alle hellauf begeistert gewesen von Alessandros schauspielerischer Leistung.
Als sie aus dem Kino traten und die anderen Zuschauer sich begeistert über den Film austauschten, standen sie einfach nur schweigend da und waren völlig überwältigt.
Erst beim Auto meinte Emanuele lakonisch: »Er hat's tatsächlich geschafft, der Mistkerl.«
Ein einziger Satz, und die anderen kicherten los, als hätte er einen seiner üblichen Witze gerissen.
»Jetzt haben Sie uns aber richtig neugierig gemacht«, sagte die Journalistin aufgeregt und brach in künstliches Gelächter aus, woraufhin Alessandro erstarrte.
Die Kamera zoomte nun die Journalistin heran, die zur Abmoderation überging und den Zuschauern den Film noch einmal wärmstens empfahl.
Eleonora schaltete den Fernseher aus und wollte ins Restaurant zurückgehen, wo Emanuele vermutlich noch immer bei der reichen russischen Familie am Tisch saß. Die Toskana-Liebhaber machten Urlaub auf dem Agriturismo und unterhielten sich begeistert mit dem Gastgeber. Eleonora war ganz froh, dass sie nicht dabeisitzen und gegenüber dem angeheiterten Paar und der schweigsamen Tochter Interesse heucheln musste. Aber sie wollte sich zumindest kurz blicken lassen und die Rolle der Gastgeberin erfüllen, die ihr eigentlich gar nicht zustand. Dies war der einzige negative Aspekt an ihrem Leben auf dem Agriturismo.
Eleonora raffte sich auf und erhob sich vom Sofa, prallte jedoch unvermittelt mit ihrer besten Freundin zusammen und stieß vor Schreck einen Schrei aus.
»Mein Gott, Corinne, du schleichst durchs Haus wie ein Gespenst!«
Reglos wie eine Statue stand Corinne neben dem Sofa. Sie hielt den Blick gesenkt und betrachtete Eleonoras Handgelenk mit dem Rosen-Tattoo, das die Narbe verbarg.
»Du hast mir gar nichts gesagt.«
»Wovon redest du?«
»Von dem Interview.«
Eleonora seufzte genervt. Es war immer das Gleiche, obwohl Alessandro nun schon seit fast einem Jahr in Rom lebte.
»Woher hätte ich das wissen sollen? Ich habe Nachrichten geschaut, und gleich danach haben sie das Interview mit ihm gesendet.«
»Lügnerin.«
Nein, bitte keine Tränen. Das konnte sie jetzt nicht ertragen. Eleonora versuchte zu lächeln.
»Corinne, findest du es etwa logisch und nachvollziehbar, dass ich dich darauf hinweise, wenn ein Interview mit Alessandro ausgestrahlt wird? Meinst du nicht, es wäre besser, wenn ich dir dabei helfe, ihn ein für alle Mal zu vergessen, anstatt dir unmittelbar nach dem Abendessen sein Gesicht in Großaufnahme zuzumuten?«
»Du bist nicht witzig.«
»Das wollte ich auch gar nicht sein.«
»Inzwischen ist ein ganzes Jahr rum. Ich bin bereit, ihn wiederzusehen.«
»Nach dem Film gestern hattest du vierzig Grad Fieber.«
»Das war eine Grippe und hatte nichts mit Alessandro zu tun.«
»Eine Grippe, die nach anderthalb Stunden auskuriert ist? Ich bitte dich, sei nicht kindisch.«
»Das nächste Mal möchte ich informiert werden. Immerhin ist er mein Ehemann.«
Eleonora lag das Wörtchen »Ex« auf der Zunge, aber sie konnte es zurückhalten. »Na gut, einverstanden. Lass uns ins Restaurant gehen, die Russen sind noch da.«
»Ich weiß, ich komme gerade von dort.« Endlich entspannte Corinne sich, ihr Körper wurde weicher, und sie wirkte sofort ein paar Zentimeter kleiner. »Sie sind bei der fünften Flasche Rotwein. Er hat einen hochroten Kopf, sie kichert nur noch, und die Tochter starrt Emanuele seit zwei Stunden stumpfsinnig an. Nicht dass mich das erstaunen würde. Du kennst ihn ja .« Corinne lachte kurz auf.
Ohne etwas zu erwidern, hakte Eleonora sich bei ihr ein, und Arm in Arm gingen sie hinunter ins Erdgeschoss, wo Emanuele nicht loskam.
Wann und wo auch immer Not am Mann war, packte er mit an und machte dabei keinen Unterschied zwischen sich und den Angestellten. Er hätte ohne weiteres auf seinem herrschaftlichen Gut den Chef herauskehren können, doch er war immer in Hemdsärmeln anzutreffen und half den Kellnern ebenso wie den Köchen und den Gärtnern.
Seine Energie und Lebenslust standen seiner attraktiven Erscheinung in nichts nach, und Eleonora war stolz, zu ihm zu gehören.
Zu jemandem oder etwas zu gehören war ihr bisher fremd gewesen. Nach und nach änderten sich jedoch die Dinge, und die unangenehme Leere, die zwischen Magen und Lunge spiralförmig hochkroch, erfasste sie nur noch selten. Ein Gefühl der Dringlichkeit und der innere Drang zu fliehen zogen sie an den Armen, zeigten sich so lange in regelmäßig wiederkehrenden Bildern, etwa einem offenem Koffer, der gepackt und verschlossen wurde, Bahngleisen, die sich am Horizont verloren, und einem von Kreidestaub ganz grauen Schwamm, mit dem jemand wiederholt eine vollgeschriebene Wandtafel sauber wischte, bis Eleonora Erleichterung verspürte.
Erst kurz nach Mitternacht erhob sich die russische Familie und ging schlafen. Die Tochter warf Emanuele einen letzten schmachtenden Blick zu, bevor sie mit ihren betrunkenen Eltern in den Aufzug stieg. Eleonora verstand nur zu gut, wie sie sich fühlen...
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