Schweitzer Fachinformationen
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Der Koffer wog schier das Doppelte, als Eleonora die lange weiße Landstraße entlangging, die zur Villa führte. Das lag nicht etwa an den Kleidungsstücken, die kaum Platz beanspruchten, sondern an der enormen Last der Niederlage, die sie ebenfalls im Gepäck hatte. Jetzt, da Eleonora jeden Moment Corinnes Lächeln, der heiteren Gelassenheit ihres Lebens und den festen Mauern ihres Zuhauses gegenübertreten würde, war die Last besonders schwer.
Sie wunderte sich nicht über ihre unterschiedlichen Lebensläufe. Seit Corinne zu ihrer Familie gestoßen war, hatte sie immer den besten Platz eingenommen. Sie verhielt sich wie eine Tochter, die sie aber nicht war, und musste daher mit besonderer Umsicht behandelt werden. Vielleicht war es die Melancholie in ihrem Blick oder die freundliche Zuneigung in ihren Augen, jedenfalls löste Corinne bei jedermann eine tiefe, entwaffnende Zärtlichkeit aus, die augenblicklich den Beschützerinstinkt wachrief.
Eleonora blieb auf der gepflasterten Allee stehen, um neben dem weißen Tor, dessen feine Verzierungen an einen barocken Vorhang erinnerten, an der Gegensprechanlage zu läuten. Sie steckte den Kopf zwischen zwei Eisenstangen hindurch und spähte über den frisch gemähten Rasen, den runden Swimmingpool und die Terrakottafliesen unter den Duschen. Dann ließ sie den Blick bis zur Haustür schweifen, die sich über drei weißen Marmorstufen erhob. Nichts regte sich, kein Vogelgesang, kein Hundegebell war zu hören. Sogar die Olivenhaine, die die Villa umgaben, wirkten wie gemalt, wie am Hügel befestigte Schablonen aus Karton.
Sie seufzte, stellte den Koffer ab und drückte auf die Klingel. Für einen Augenblick erwog sie umzukehren. Kein normaler Mensch konnte diese Vollkommenheit ertragen. Sie schon gar nicht, nachdem sie unzählige Male gescheitert war, den x-ten Job verloren hatte und nun hier stand und um einen Schlafplatz bettelte.
Weder Corinne noch dieser Ort, der ihr einfaches Leben wie ein Nest umschloss, würde die Unvollkommenheit von Eleonoras Leben, dessen kantige Ecken und die holprigen Pfade lange erdulden können.
Doch sie hatte keine Wahl. Ihr Vermieter hatte ihr freundlicherweise sechs Monate gewährt, um die Wohnung zu räumen, und davon waren zwei verstrichen, ohne dass sie die Miete bezahlt hatte. Sie konnte weder auf Eltern noch auf reiche Verwandte zurückgreifen, ihr blieb nur Corinne, ihre älteste Freundin, die so etwas wie ihre Adoptivschwester war.
»Ja?«
Was so barsch und kurz angebunden aus der Sprechanlage kam, konnte unmöglich Corinnes Stimme sein. Kein Vorwurf, nichts Unwilliges war in ihrer sanften Stimme gewesen, als sie wenige Tage zuvor beteuert hatte, sie wolle Eleonora gern bei sich aufnehmen und ihr helfen, in Florenz einen Job zu finden. Dieses wie ein Geschoss aus dem glänzenden Mund der Sprechanlage gefeuerte »Ja?« nahm ihr hingegen das letzte bisschen Würde. Der Ton war so schroff, dass er unmöglich beabsichtigt sein konnte, und bewirkte, dass Eleonora mit ebenso knapper Härte antwortete.
»Ich bin's, Eleonora.«
Kein »Hallo!«, kein Durchatmen, kein fröhlicher Unterton in der Stimme. Das Tor öffnete sich, sie musste ihren Koffer wieder aufnehmen und die lange Auffahrt bis zur Villa hinter sich bringen. Eine weiße Zunge, die das Grün teilte, den Swimmingpool von der Gartenlaube trennte, die Azaleen von den Rosen, die orangefarbene Wasserpumpe vom Brunnen und dazwischen sie, unpassend und verschwitzt.
Eleonora hatte etwa den halben Weg zurückgelegt, als ein Mann aus der Vorhalle trat, dem eine über die drei Eingangsstufen purzelnde Pfirsichlawine vorausging. Dieser ungewollte Empfangsteppich bildete den Rahmen für ihren Auftritt, ein Pfirsich rollte sogar bis vor die Spitze ihrer blauen Sandalen und berührte sie ganz leicht.
»Die Pfirsiche von Bruges heißen dich willkommen«, sagte das lächelnde Gesicht mit strahlend weißen Zähnen und regelmäßigen Zügen, darüber schwarze Augen ohne erkennbare Pupillen, umspielt von ungezähmten, etwas zu langen Haarsträhnen. Wie viele Dinge um dieses Lächeln über dem kraftvollen und zugleich eleganten Körper herumtanzten.
Eleonora hob eine Augenbraue und ergriff die ausgestreckte Hand.
»Bruges?«
»Die Villa heißt so. Es ist der Name der Stadt, in der meine Mutter geboren ist, in Frankreich. Hallo, ich bin Alessandro.«
Eleonora hatte immer schon gedacht, dass Corinnes Freund ein Prachtexemplar von einem Mann sein musste, aber die Wirklichkeit übertraf ihre Vorstellungen bei Weitem. Eine derart unverschämte Attraktivität war ein Schlag ins Gesicht für all ihre Versuche, innere Sicherheit zu gewinnen, seit ihre Wege sich getrennt hatten.
Sie hätte hinter dieser wunderschönen Fassade gern ein verwöhntes Muttersöhnchen entdeckt, damit die Vollkommenheit, mit der Corinne sich umgab, einen Riss bekäme, doch das Leben hatte sie gelehrt, sich nicht allzu viele Illusionen zu machen. Also verscheuchte sie den Gedanken wieder und ließ sich in die Höhle der Löwin führen.
Aus der gegenüberliegenden Ecke der Eingangshalle trat Corinne mit ausgebreiteten Armen aus einer Tür, durch die Chromstahlmobiliar zu sehen war. Eleonora konnte sich nicht erklären, was Corinne in einer Küche tat, da sie noch nie auch nur ein Ei aufgeschlagen hatte. Aufgaben wie Brathähnchen zu füllen oder Fische auszunehmen waren immer ihr zugefallen, wenn ihre Freundin zum Essen kam, da Corinne »viel zu sensibel« war, wie es immer hieß.
»Julia, mein Schatz!«
Für Corinne war sie noch immer »Julia«, jene Julia, mit der sie im Garten gespielt hatte, als sie elf waren. Corinne hatte Eleonoras Zuhause in der sechsten Klasse betreten und es seither nicht mehr verlassen, außer wenn sie bei Anbruch der Dunkelheit davonrannte, weil ihr Stiefvater, wenn er nüchtern war, nicht erlaubte, dass sie außer Haus übernachtete.
Bei ihren Mädchenspielen damals ließ Eleonora sich Julia nennen. Julia wie in Romeo und Julia, wie der Alfa Romeo des Gärtners, der schön wie ein Märchenprinz war, so wunderschön, dass sie sich ausmalte, Sitz und Lenkrad, Dach und Schaltknüppel für ihn zu sein.
Eleonora-Julia ließ sich umarmen und spähte dabei über Corinne hinweg, neugierig, aus welchem Blickwinkel Alessandro sie wohl betrachtete. Doch niemand beachtete sie. Alessandro war längst hinausgegangen, vermutlich um die Pfirsiche an einen sicheren Ort zu bringen, wo sie nicht herunterpurzeln konnten.
Corinne packte sie mit ihren schmalen, aber unglaublich kräftigen Händen bei den Schultern und richtete den Blick auf Eleonoras Gesicht. Ihre Augen waren glänzend, von einem leuchtenden und satten Grün, wie ein ruhiger See. Dahinter waren immer stille Wasser gewesen, trotz allem.
»Komm, ich zeige dir dein Zimmer«, sagte Corinne mit einem kindlichen Ton, der schon leichter zu ertragen war.
Die Architektur toskanischer Villen folgt fast immer demselben Schema, und so stiegen sie eine großspurige Treppe hoch, die vom Eingang auf eine barocke Galerie führte, sozusagen als Auftakt zum Ruhebereich. Der dunkle Flur lud nicht zum Verweilen ein, und sie erreichten raschen Schrittes das letzte Zimmer auf der linken Seite. Es war das einzige mit einer schlichten Tür, die Kammer des Zimmermädchens.
»Hier wirst du dich sicher wohlfühlen, du wirst gar nicht mehr ausziehen wollen, wenn du dann eine Wohnung gefunden hast«, plapperte Corinne drauflos. Es klang, als wollte sie vorsorglich daran erinnern, dass sie Eleonora früher oder später hinauswerfen würde, auch wenn sie den genauen Zeitpunkt noch nicht kannte.
Das schlichte Zimmer war ein ganz eigener Ort. Draußen war alles rot, dunkel und kompliziert, hier drinnen dagegen herrschten gerade Linien und helle Möbel vor. Eleonora wunderte sich nicht über die Schlafkammer, die man ihr zugewiesen hatte. Wenn sie zusammen waren, schmälerte sich ihr eigener Raum zunehmend, während Corinne sich immer mehr ausbreitete.
»Wo schläft das Zimmermädchen?«, fragte sie in einem Ton, der klarmachte, dass sie die Situation durchschaute.
Corinne drehte sich um und sah ihr in die Augen. Dann fiel ihr Blick auf Eleonoras Tattoo auf dem Handgelenk, eine Rosenknospe an einem Stiel, der sich fast bis zur Handfläche zog. Ihr Handgelenk zitterte kaum merklich. Corinnes Miene verdüsterte sich.
»Das Zimmermädchen?«
»Ja. Wohnt es denn nicht hier?«
»Nein. Die Frau, die sich um unseren Haushalt kümmert, kommt am Morgen und geht nach dem Abendessen wieder nach Hause. Alessandro mag nicht, dass sie hierbleibt.«
»Ach so, er mag es nicht.« Eleonora nickte verständnisheischend. Dann stellte sie den Koffer auf einen antiken Stuhl, das einzige dunkle Möbelstück im Raum. »Er ist bildschön. Du hattest schon immer eine Schwäche für attraktive Männer. Erinnerst du dich noch an Mattia im Abiturjahrgang? Er war ein Idiot, aber du warst ihm sklavisch ergeben. Nur weil er so ein Beau war.«
»Ich war niemandem sklavisch ergeben. Und ich verstehe nicht, was für dich daran so toll ist, solche Dinge zu behaupten.«
Es war amüsant, Corinne zu ärgern, aber allzu einfach. Letztlich bescherte es ihr nur einen flüchtigen Genuss.
»Ach, komm schon. Ich bin bloß müde von der Reise. Kann ich duschen?« Sie steckte den Kopf durch eine winzige Tür und musterte das spartanische Bad. In einer Ecke war ein kalkverkrustetes Duschbecken.
»Ja, klar. Wir sehen uns dann später unten.«
Corinne machte einen Schritt zur Tür, dann drehte sie sich noch mal um. Eleonora war sich sicher, dass sie etwas über Alessandro sagen wollte. So war es auch.
»Er ist...
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