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Ich stamme aus meiner Kindheit, wie man aus einem Land stammt[2], schreibt Saint-Exupéry 1942 in seinem Dokumentarroman Pilote de guerre (Flug nach Arras). Im Französischen steht hier das Verb «sein» («être»), und dies bedeutet: Mein Sein, mein Wesen, meine Persönlichkeit hat ihren Ursprung in meiner Kindheit, ähnlich wie meine soziale Identität ihren Ursprung in der Geschichte meines Landes hat. Der Autor trifft diese Feststellung in einem Augenblick höchster Lebensgefahr: Deutsche Jagdflugzeuge verfolgen seine Maschine, er ist ihnen ausgeliefert und scheint verloren. Angstgefühle bedrängen ihn, Angst aber, so glaubt er, sei immer verbunden mit dem drohenden Verlust von Identität. So dient die unwillkürlich aufkommende Erinnerung an prägende Kindheitserlebnisse der Selbstvergewisserung und Selbstbestätigung. Saint-Exupéry durchlebt zu Beginn der 1940er Jahre eine umfassende Identitätskrise, die ihn persönlich, aber auch sein Land und die gesamte abendländische Zivilisation trifft. In dieser Zeit ist ihm die eigene Kindheit in einer Weise gegenwärtig, die den Psychiater Paul Nayrac zu dem Schluss kommen lässt, schon frühzeitig sei offenbar geworden, dass er sein Leben lang ein junger Mensch sein werde - und dieser Grundzug resümiere am besten seine ganze Persönlichkeit.[3]
Die Bedeutung der Kindheit für die Entstehung und Entwicklung einer Person wird heute nicht mehr geleugnet. Schwieriger ist die Frage zu beantworten, inwieweit Identitätsbildung und künstlerische Berufung miteinander verknüpft sind. Jean-Paul Sartre hat für den Prozess einer teils bewussten, teils unbewussten Selbstwahl den Begriff «choix originel» ins Spiel gebracht. Wann aber manifestiert sich eine solche Urwahl? Wenn Saint-Exupéry bekennt, er schreibe seit seinem sechsten Lebensjahr poetische Texte, dann scheint dies für eine sehr frühe Orientierung zu sprechen. Eine solche Sichtweise kann jedoch auch zur Falle werden. Verständlicherweise ist die Neigung aller Biographen groß, schon in der Kindheit Hinweise auf den späteren Genius zu entdecken, und es scheint unvermeidlich, ein Bild der Persönlichkeit zu entwerfen, denn die Aufreihung biographischer Fakten allein vermag kein Lebensbild zu ergeben.
Lyon ist der Geburtsort Saint-Exupérys. Man nennt die Stadt auch «Tor des Südens»: Seit mehr als zwei Jahrtausenden ist sie ein Ort der Begegnung und Vermischung mittelmeerischer und kontinentaleuropäischer Kulturen, seit dem 19. Jahrhundert eine der großen Industriemetropolen Frankreichs, berühmt vor allem durch ihre Seidenwebereien und deren Arbeiter, die «canuts». Saint-Exupéry wird geboren am 29. Juni 1900 in der Rue du Peyrat (heute Rue Alphonse-Fochier). Am nächsten Tag wird er getauft auf die Namen Antoine, Jean-Baptiste, Marie, Roger. In der Familie nennt man ihn später «Tonio», «Sonnenkönig» oder auch «Pique-la-Lune». Gemäß einer alten Tradition, die in den Zeiten der Republik freilich keine Privilegien mehr gewährleistet, darf er den Titel «Comte» (Graf) führen. Die Familie entstammt uraltem Landadel aus dem Limousin, dessen Geschichte bis in die Zeit der Kreuzzüge zurückreicht. Antoines Ururgroßvater kämpfte auf der Seite La Fayettes für die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten. Antoine selbst jedoch wird aus seiner Herkunft keinerlei Prestige ableiten. Bereits sein Großvater Fernand hatte, nachdem er unter Napoleon III. Präfekt mehrerer Departements war und mit der beginnenden Republik 1871 aus dem Staatsdienst ausschied, eine bürgerliche Beschäftigung gewählt und war in eine Versicherungsgesellschaft eingetreten. Sein Sohn Jean, geboren 1863 in Florac (Lozère), quittierte die Offiziersschule und trat 1896 in die «Compagnie du Soleil» ein, die ihren regionalen Sitz in Lyon hatte. Es mag eine gewisse aristokratische Scham gewesen sein, die ihn veranlasste, in die Geburtsurkunde Antoines unter der Rubrik «Beruf» «sans profession» einzutragen.
Noch im Jahre seiner Ankunft in Lyon heiratete Jean die zwölf Jahre jüngere Marie Boyer de Fonscolombe. Ihre ebenfalls adlige Familie stammte aus Aix-en-Provence. Ihre Mutter war eine Romanet de Lestrange, deren Vorfahren im Vivarais zu Hause waren. Bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts waren die Fonscolombes - ihr ursprünglicher Name «Boyer» weist darauf hin - eine bürgerliche Familie, die durch Ämterkauf Eingang in den Adel fand. Jean de Saint-Exupéry lernte seine spätere Gemahlin im Appartement der Gräfin Tricaud, Maries Großtante und Taufpatin, kennen. Ob es eine Liebesheirat oder wie in adligen Kreisen üblich eine Konvenienzehe war, darüber ist nichts bekannt. Fünf Kinder wurden in den folgenden Jahren geboren, 1897 Marie-Madeleine (genannt Biche), 1898 Simone (genannt Monot), 1900 Antoine, 1902 François und schließlich 1903 Gabrielle (genannt Didi). Kaum ein Jahr später erlag Jean mit 41 Jahren einem Gehirnschlag.
In der bewussten Erinnerung Antoines spielt der Vater keine entscheidende Rolle, gleichwohl hat sein Tod die Entwicklung des Jungen nachhaltig beeinflusst. Die Biographin Stacy de La Bruyère betont, man könne sein Werk lesen wie ein Requiem auf die männliche Zuneigung, die ihm vorenthalten blieb.[4] Von nun an dominieren Frauen in seiner Erziehung: die Mutter, die älteren Schwestern und nicht zuletzt die Gräfin de Tricaud sowie seine Gouvernanten. Die Mutter schenkt in ganz besonderer Weise ihre Zuneigung den Söhnen, und wohl vor allem Antoine. Zeitlebens wird er zu ihr ein sehr enges Verhältnis haben, das besonders aus seiner Korrespondenz abzulesen ist. In einem Brief aus Buenos Aires (1930) beschreibt er eine Szene aus seiner Kindheit, die an den Gute-Nacht-Kuss-Ritus aus Marcel Prousts «Suche nach der verlorenen Zeit» erinnert.[5]
Die eigentliche Geschichte seiner Kindheit spielt im Schloss Saint-Maurice-de-Rémens nordöstlich von Lyon nahe dem Ort Ambérien-en-Bugey, das der Gräfin de Tricaud gehört. Dort verbringt Marie mit ihren fünf Kindern die Sommermonate, während des Winters wohnt man in einem bescheidenen Appartement an der Place Bellecourt in Lyon. Zu längeren Besuchen weilt man auch im Schloss La Môle der Familie Fonscolombe in der Nähe von Saint-Tropez. In ihren Erinnerungen «Cinq enfants dans un parc» beschreibt Antoines Schwester Simone das Leben in Saint-Maurice-de-Rémens als vollkommene Idylle. Das Schloss, gebaut in der Epoche Ludwigs XVI., hat das Ehepaar de Tricaud um 1850 erworben und im Stil des Second Empire umgestaltet. Die Gräfin zeichnet nicht nur für das materielle Wohlergehen der Familie ihrer Großnichte verantwortlich, sie legt auch großen Wert darauf, den Kindern ihren Glauben zu vermitteln. Jeden Abend nach dem Diner geht sie gemeinsam mit ihnen in die Kapelle des Schlosses, um die Abendgebete zu sprechen. Auch Marie de Saint-Exupéry ist praktizierende Katholikin. Darüber hinaus zeichnet sie ein großes künstlerisches und literarisches Interesse aus. Sie leitet ihre Kinder dazu an, kleine Geschichten zu inszenieren, Scharaden zu erfinden, und sie ermutigt sie zur Lektüre. Bald schreiben sie zusammen mit Vettern und Cousinen kleine Theaterstücke. Sehr früh verbringt Antoine manche Nacht damit, seine kindlichen Gefühle in Versen auszudrücken. Gefördert wird auch seine musikalische Bildung. Er erlernt zusammen mit seiner Schwester Marie-Madeleine das Violinspiel, mit anderen Geschwistern übt er sich am Klavier.
Frühzeitig lässt er auch eine technische Begabung erkennen. So bastelt er etwa ein Fahrrad mit Flügeln. Die Erfindung einer neuen Technik in jenen Jahren mag ihn dazu inspiriert haben: das Flugzeug. Von Saint-Maurice sind es nur wenige Kilometer bis zu einem Gelände neuer Art, das die Aufmerksamkeit des Jungen weckt: In Ambérieu gibt es schon damals ein Flugfeld.
Die Wahl der Schulbildung entspricht der geistigen und politischen Ausrichtung der Familie. Saint-Exupéry beginnt in Villeneuve-sur-Saône in einer katholischen Schule, dann ist er ab 1909 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs Zögling des Jesuitenkollegs Sainte-Croix in Le Mans, wohin die Familie vorübergehend verzieht. In dieser Zeit findet der Kampf zwischen Republik und römisch-katholischem Klerus mit dem Gesetz über die Trennung von Staat und Kirche (1905) ein vorläufiges Ende. Als Saint-Exupéry in das Collège Sainte-Croix eintritt, führen die katholischen Privatschulen Rückzugsgefechte.
Wie Saint-Exupéry auf diese geistige Ausrichtung reagiert hat, ist kaum zu erkennen, er schweigt sich darüber aus, sei es, dass er sich ihr anpasst, sei es, dass er seine Abneigung in den Briefen an seine Mutter nicht aussprechen möchte. Manche Biographen glauben, er habe frühzeitig die Ansichten der «Action française» geteilt, jener antidemokratischen und antisemitischen Organisation, deren Begründer Charles Maurras schon in der Dreyfus-Affäre eine fatale Rolle gespielt hat. Dass der junge Saint-Exupéry unreflektiert gewisse antisemitische Vorurteile seines Milieus teilt, zeigt der für die Schule verfasste Text Odyssee eines Zylinderhutes, in dem ein hässlicher und betrügerischer jüdischer Händler auftaucht.[6]
In den Sommerferien des Jahres 1912 hat Saint-Exupéry ein Erlebnis, das sein Leben geradezu schicksalhaft bestimmen wird. Auf dem Flugplatz von Ambérieu gelingt es dem Zwölfjährigen, einen Piloten zu überreden, ihn auf einem Rundflug mitzunehmen, angeblich mit Erlaubnis seiner Mutter. Wahrscheinlich ist er auch in Le Mans mit der soeben in Mode gekommenen neuen Technik konfrontiert worden. Der Amerikaner Wilbur Wright begeistert dort mit seinen...
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