Schweitzer Fachinformationen
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Die Norwegen-Sehnsucht trieb Thomas Bickhardt schon früh an, bis er seinen Traum mit Anfang 30 verwirklichte und einen Leuchtturm im rauen Norden pachtete, auf einer steilen Klippe, von der Nordsee umspült. Hier ist er auf sich selbst zurückgeworfen, er kämpft mit den Elementen, dem Job des Leuchtturmwärters, dem Scheitern von Plänen und den Rückschlägen des Alltags. Doch gewinnt er in der Natur und der täglichen Konfrontation mit ihrer ungezähmten Macht auch einen ganz neuen Blick auf sich selbst.
In seiner neuen Heimat lebt er ein ganzes Leben, er heiratet, eröffnet ein Hotel, bekommt mit seiner Frau ein Leuchtturmkind und sieht seine Liebe auch wieder zerbrechen. Am Ende von 30 Jahren im sturmausgesetztesten Haus Norwegens macht ihn das Wissen stark, dass es den Stillstand nicht gibt, dass das Leben und das Meer sich immerzu verändern und der nächste Tag immer die Chance in sich trägt, ganz anders zu werden.
Mit lautem Heulen beschwert sich der Motor, als ich aufgrund des stetig langsamer werdenden Wagens in den dritten Gang schalte.
»Hatten die keine lahmere Gurke?« Uli schaut etwas genervt zu mir rüber. »So kommen wir ja nie an.«
Ich zucke mit den Schultern und schaue hilflos zu ihm auf dem Beifahrersitz rüber. »Was soll ich denn machen? Die Karre hat 60 PS, für mehr hat das Geld nicht gereicht.« Fast entschuldigend tätschele ich das Armaturenbrett des VW Bulli. Der Wagen ist eigentlich wirklich gut in Schuss und gepflegt. Weder besonders alt noch ein technisches Wrack. Ihn als »Karre« und »Gurke« zu bezeichnen, tut mir fast etwas leid. »Er ist einfach etwas schwach auf der Brust«, sage ich zu Uli in mütterlich-entschuldigendem Tonfall. »Und du musst zugeben, dass es gerade auch wirklich ziemlich steil bergauf geht.«
Uli seufzt nur und guckt wieder aus dem Seitenfenster.
Es ist der 1. Juni 1994, und Uli und ich quälen uns in einem voll beladenen, untermotorisierten Transporter über die norwegischen Berge, um an die Westküste zu gelangen. Unser Ziel: Kråkenes fyr. Der Leuchtturm, für den ich vor ein paar Monaten einen Pachtvertrag über zwei Jahre unterschrieben habe.
Mir ist es ganz recht, dass unsere Reise nach Kråkenes im Schneckentempo verläuft, denn die Landschaft ist einfach überwältigend. Über die Hochebene der Valdresflya, die noch im ganz zarten Frühlingskleid daherkommt, fahren wir über Lom und das Strynefjell auf die andere Seite der Berge ins Westland. Wir lassen die steilen, schroffen Berge mit ihren zerklüfteten Gipfeln und einigen schneeweißen Gletschern hinter uns. Sehen Lawinenkegel, die die Bergflanken durchziehen. Viele Hänge sind frisch von den letzten Abgängen im Frühjahr zerfurcht. Sie münden mal in flache, bereits sommergrüne Täler, mal in azurblaue Seen, mal in einen der unzähligen Fjorde, die die Gletscher im Laufe der Zeit in die Landschaft geschnitten haben.
Ich kenne dieses Strecke von früheren Reisen und weiß, was als Nächstes kommt. Und trotzdem überwältigt mich diese Landschaft aufs Neue und berührt mich tief. Der kleine Junge in mir kommt aus dem Staunen nicht heraus. Es ist der gleiche Junge, der - vielleicht im Alter von elf, zwölf Jahren - im Sommerurlaub mit seinen Eltern erstmals die Schönheit dieser Landschaft begriff, auch wenn wir in diesen Jahren nicht hier an der Westküste waren, sondern einige Hundert Kilometer nördlich davon. Dem wirklich bewusst wurde, wie schön dieses Fleckchen Erde war. Es ist die gleiche Landschaft. Und es ist immer noch das gleiche Staunen. Schon damals spürte ich den Wunsch, irgendwann einmal hier zu leben. Dauerhaft. Nicht nur für ein paar Sommerferienwochen, die immer viel zu schnell endeten. Nein, für immer! Ich wollte bereits damals viel lieber ein Norweger sein. In meiner kindlichen Fantasie war das norwegische Leben einfach viel aufregender, freier und unbeschwerter. Und alle Menschen, denen man begegnete, wirkten ebenfalls unbeschwert und zufrieden. Irgendwann werde ich auch dazugehören, dachte ich schon damals. Und einer von diesen tollen Menschen werden.
In mir freut sich dieser Teenager und betrachtet begeistert die Natur, als wären Berge, Wiesen und Fjorde die Wunder einer unentdeckten Welt. Ein Teil in mir ist zwölf Jahre alt geblieben.
Aber ganz anders als damals, und anders als auf all meinen späteren Reisen nach Norwegen, fahre ich jetzt mit der Gewissheit, dass ich bleiben werde. Mein Kindheitstraum wird gerade wahr. Und diese Gewissheit lässt mich die Landschaft, die träge an unserem Gefährt vorbeizieht, ganz fühlen. Ich kenne die Straße, kenne die großen Landmarken und die kleinen beschaulichen Dörfer. Aber sie fühlen sich ganz anders an. »So wie jetzt war ich noch nie hier. Es ist, als würde ich das alles zum ersten Mal erleben«, sage ich halb zu mir, halb zu Uli. Er antwortet auch gar nicht auf meinen Gedanken. Wenn man so viele Stunden gemeinsam in einem Auto verbringt, wird der Drang, sich zu unterhalten, einfach kleiner. Und man ist froh, wenn man sich einfach so in seinen Gedanken verlieren kann, ohne sprechen zu müssen.
In Hamburg leben Uli und ich gemeinsam in einer WG. Zwei Zimmer, Wohnküche, Diele, Bad. Und ein Balkon, den man eigentlich gar nicht nutzen kann. Immer hört man das Dröhnen der Autobahn. Dazu gesellt sich der Lärm einer sechsspurigen Straße, während ein paar Meter über unseren Köpfen im Viertelstundentakt die Flugzeuge im Landeanflug gestresste Geschäftsleute nach Hamburg transportieren.
Eine Partnerin, die meinen mutigen Schritt nach Norwegen emotional ungleich schwieriger gemacht hätte, habe ich gerade nicht. Bis vor Kurzem steckte ich noch in einer langjährigen On-off-Beziehung. Ohne einander wollten wir irgendwie nicht, miteinander konnten wir aber irgendwie auch nicht. Als meine Auswanderungspläne zunehmend konkreter wurden, ging es endgültig in die Brüche. Es war klar, dass sie mich nicht begleiten würde, und so war unsere Trennung eine logische Konsequenz, die passierte, ohne dass wir beide viel darüber sprachen.
Ein kleiner Schmerz durchzuckt mich, wenn ich an unsere gemeinsame Tochter denke. Sie werde ich seltener sehen. Sehr viel seltener. Mindestens ein halbes Jahr lang gar nicht. Der kleine Schmerz ist mein schlechtes Gewissen. Mehr als einmal habe ich mich im vergangenen Jahr gefragt, ob meine Auswanderung nicht auch eine Flucht ist und ich mich vor der Verantwortung drücke. Und die Antwort auf diese Frage bleibe ich mir bis heute schuldig.
Uli und ich haben uns während unserer gemeinsamen Zeit auf der Seefahrtschule in Finkenwerder kennengelernt. Das war Anfang der 1980er-Jahre. Die Seefahrt haben wir mittlerweile längst hinter uns gelassen. Ich ging zur Uni und studierte Psychologie, Uli wurde Fotoassistent. Ich glaube, für die Seefahrt muss man geboren sein. Und sosehr ich auch das Meer liebe und mich alles Maritime heute noch begeistert, es hat nicht für ein ganzes Berufsleben auf hoher See gereicht. Und doch hat mich die Zeit in Finkenwerder geprägt. Noch heute kann ich in meinem VW-Transporter sitzen, durch die norwegische Landschaft fahren, und sobald das Gespräch auf die Seefahrtschule kommt, habe ich diesen ganz bestimmten Schulgeruch in der Nase: ein bisschen Bohnerwachs und ein bisschen Muff. Diese Mischung hing in den dunklen Fluren des in den 1930er-Jahren eröffneten Gebäudes. Und wie es bei vielen Gebäuden aus jener Zeit ist: Der Geist dieser schrecklichen Zeit wurde in Beton gegossen, ins Mauerwerk verfugt und in Türen, Fenstern und Fassaden eingearbeitet. Das kann man auch Jahrzehnte später noch spüren. Weil man sich klein fühlt in solchen Gebäuden. Weil sie Ehrfurcht erzwingen, statt Freiheit zu lehren. Grässlich.
»Ich bin gespannt, wie weit wir mit der Renovierung in den kommenden zwei Wochen kommen«, sage ich zu Uli, um mich von der Seefahrtschule abzulenken. »Danke, dass du mit mir gemeinsam den Anfang machst. Das wird ein ganz schön großes Projekt.«
»Ja, da hast du dir was vorgenommen, Thomas.«
»Hhmm.«
»Ich hätte an deiner Stelle zumindest einen Sprachkurs gemacht. Nur ein paar Brocken. Aber das würde die Sache ein wenig einfacher machen.«
»Das wäre Zeitverschwendung gewesen. Eine Sprache lernt man am besten, wenn man sie nutzen muss, im Alltag. Und nicht aus irgendwelchen Büchern mit Deklinationen, Konjunktionen und unregelmäßigen Verben. Und außerdem waren andere Sachen wichtiger. Ich habe sowieso schon kein nennenswertes Startkapital für eine große Sanierung des Gebäudes. Da musste ich zumindest ein paar Mark verdienen, damit ich die ersten Wochen und Monate irgendwie über die Runden komme.«
Sosehr ich mich darüber freue, mir diesen Traum zu erfüllen, ist auch eine riesige Portion Unsicherheit in mir. Wenn ich ehrlich bin, habe ich Angst vor meiner eigenen Courage. Das begeisterte Herz und mein kühler Kopf liegen regelmäßig im Clinch. »O mein Gott, wir werden auf einem Leuchtturm leben«, sprudelt das Herz.
»Im Ausland. Unter fremden Menschen, deren Sprache du nicht kannst«, antwortet der spielverderberische Kopf.
»Unter netten Menschen, die mir bestimmt helfen werden. Und die Sprache lernen wir schnell.«
»Müssen wir auch. Weil unser Startkapital nicht lange halten wird.«
»Ach Quatsch, das wird alles genau so werden, wie wir es uns erträumen.«
»Oder wir kehren nach ein paar Monaten, gescheitert und pleite, nach Deutschland zurück.«
Uli unterbricht das Wortgefecht in meinem Kopf, fast so, als hätte er die Streitereien zwischen meinem Herzen und dem Verstand satt.
»Und wie soll das jetzt genau laufen? Was machen wir alles in den kommenden zwei Wochen?«, fragt er mit etwas sorgenvoller Stimme.
Als ob ich einen konkreten Plan hätte.
»Die beiden Häuser schön machen und dann Seminare anbieten, weißt du doch.«
»Und das heißt genau was? Ein bisschen lüften, feucht durchwischen und Fenster putzen? Oder tapezieren, streichen und Teppich verlegen? Wann wirst du die ersten Seminare anbieten können, damit wieder Geld reinkommt?«
Er macht mich wahnsinnig mit der Fragerei. Weil er zielgenau die Wunden findet, in denen auch mein zweifelnder Verstand ständig rumpult.
»Also durchzuwischen wird nicht reichen. Ich denke mal, dass ich ein, zwei Monate renovieren werde und dann im Herbst das erste Seminar im Haus geben kann. Wird sich aber zeigen. Bis zum Winter komm ich noch hin mit dem Geld, wenn ich nicht zu viel in die Häuser stecken muss.«
»Ist das...
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