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1795 · 1796
Coburg - St. Petersburg, Aug. bis Okt. 1975
Julie klatscht in die Hände, als die Kutsche endlich losfährt. Die Gesichter der jüngeren Geschwister und Dienstboten, die sich zum Abschied vor Schloss Ehrenburg versammelt haben, spiegeln Freude und Schmerz zugleich. Leo, der Kleinste, noch nicht fünf, bricht in Tränen aus. Antoinette wirft ihm eine Kusshand zu, Sophie schaut nachdenklich vor sich hin, Julie dreht sich um und winkt, und sie winkt noch immer, als Leo, der sein Gesicht an die Schulter der Kinderfrau drückt, und das Schloss schon längst verschwunden sind. Sie schluchzt plötzlich.
«Julchen», mahnt Mutter Auguste, «halte deine Gefühle im Zaum.» Sie mustert die drei Töchter. Eigentlich fühlt sie sich bei diesem Auftrag nicht wohl. So früh schon soll eine von ihnen Familie und Heimatstadt verlassen. Aber wer ist sie, sich der Zarin zu widersetzen? Auf Wunsch von Kaiserin Katharina fährt sie nach St. Petersburg, damit sich der Zarenenkel Konstantin eine Frau aussuchen kann. Wird er die dunkelhaarige Sophie, besonnen, selbstbewusst, auswählen? Oder die blonde, grossgewachsene Antoinette, strebsam, ein bisschen naiv? Oder vielleicht doch die Jüngste, die erst vierzehnjährige Julie, braunhaarig, keck, ein hübscher Wirbelwind?
Katharinas Brief war im Juli eingetroffen. Zusammen mit ihrem Mann, Herzog Franz Anton, hatte sie sich ungläubig über die Zeilen gebeugt. Ausgerechnet ihr kleines Herzogtum wählte die Zarin aus - eine ihrer Töchter sollte russische Grossfürstin werden! Natürlich hatten sie Katharina zustimmend geantwortet. Gut möglich, dass eine grosse Heirat andere Verbindungen nach sich ziehen wird. Und zu hoffen ist, dass sie sich mit dem Rubel aus Russland endlich aus der Verschuldung befreien können.
Nun, an diesem 12. August 1795, machen sie sich auf den Weg. Franz Anton kann die Geschäfte nicht lange ruhen lassen, er wird sie nur einen Tag begleiten. Auguste graut vor der langen Reise, aber sie lächelt ihren Töchtern beruhigend zu.
Sophie hat ihren Zeichenblock auf den Knien und skizziert die Landschaft, obwohl die Strasse holprig ist und sie den Kohlestift immer wieder neu ansetzen muss. Julie lehnt in der Ecke, träumt vor sich hin. Dieser Tochter - wohl die hübscheste und begabteste der drei - fehlt noch die Reife, ihre Stimmungen wechseln wie das Wetter im April. Antoinette ist eingedöst wie ihr Vater. Die Pferde traben dahin in der Augusthitze, monoton klopfen die Hufe auf den Boden.
Julie schiebt das Kutschenfenster auf, begierig nach frischer Luft. Der Duft von frischen Früchten und abgeernteten Feldern steigt ihr in die Nase. Sie knabbert an einer der Zwetschgen, die ihnen die Köchin mitgegeben hat, spürt ihre Süsse auf der Zunge und verscheucht mit einer Handbewegung eine lästige Wespe. Gibt es auch in Russland Zwetschgen? Und was ist mit den Birnen und frühen Äpfeln, die bald reif sein werden? So vieles weiss sie nicht. Sie leckt sich den Saft von den Lippen. Und wenn auch - sie ist bereit für die grosse Reise, sie will in die Welt hinaus. Im fernen St. Petersburg, von dem sie keine Vorstellung hat, wird ein grosser Prinz - ein Bruder des zukünftigen Zaren, einer, der vielleicht selbst einmal Zar wird - eine von ihnen - eine kleine Prinzessin aus dem Herzogtum Coburg - zu seiner Frau machen.
Das kennt sie doch. In den Kinderaufführungen mit ihren Geschwistern war immer sie es, die ihr Bruder Ernst als Braut heimführte. Sie schauspielert gern, singt gut und tritt gern auf - darum gab man ihr die Hauptrolle. Aber dann, wenn sie endlich mit Ernst verheiratet war, riss sie den Schleier vom Kopf und tanzte ausgelassen, kroch unter den Sessel, versteckte sich hinter der Tür, war ein Wicht, ein Kobold, und die älteren Schwestern schüttelten den Kopf über die kindische Julie, die sie eben noch als Braut bewundert hatten.
Stunde um Stunde vergeht, noch immer zieht sich diese erste Tagesetappe hin, und bald ist Julie die Einzige, die noch wach ist. Die Köpfe der Eltern und Schwestern schaukeln mit den Bewegungen der Kutsche, und Julie lacht: Ein wunderbares Spiel, alle sind von einer bösen Fee verzaubert und in Schlaf gefallen, und sie warten darauf, dass Julie - oder der Prinz - sie aus der Erstarrung holt.
Aber nun werden auch ihre Glieder schwer, die Augen fallen ihr zu. Man muss auf den Prinz warten, er wird sie küssen, sie wird zuerst erwachen, wird in seine blauen Augen schauen und ihm um den Hals fallen, und dann werden alle andern erwachen, ein Fest werden sie feiern, und der Prinz und die Prinzessin sind inmitten der andern, sie werden tanzen bis zum Umfallen, und kurz vorher wird er ihr die Krone aufsetzen und sie ihm, Hand in Hand werden sie sich verbeugen, von allen beklatscht und gefeiert, und in ihren Gemächern verschwinden .
Die Reise zieht sich hin. In Leipzig verabschiedet sich der Vater - er muss zurück nach Coburg. Julie sieht sein Gesicht mit den gütigen Augen, den schweren Zügen, dem weissen Haar vor dem Kutschenfenster und prägt es sich ein. Aber dann ist es weg, die untersetzte Gestalt verschwunden, der ganze Vater weg. Für immer? Nein - der Prinz wird eine ihrer Schwestern wählen. Und wenn sie die Auserwählte ist? Dann wird sie den Vater trotzdem wiedersehen, sie wird mit ihrem Prinzen zu ihm reisen.
Anstelle des Vaters sitzt jetzt der kaiserlich-russische General Budberg neben der Mutter, ein älterer, väterlicher Herr, der nach Tabak riecht, weil er sich ständig mit Zigarrenrauch einnebelt. Er ist von Zarin Katharina gesandt und begleitet diese Reise, organisiert Essen, Empfänge und Nachtlager.
Die Abende, wenn das Holpern endlich aufhört, gefallen Julie am besten. Der Koch, der in der zweiten Kutsche mitreist, bereitet Leberknödelsuppe, fränkischen Sauerbraten und Coburger Klösse zu. Apfelrotkohl, Bratkartoffeln und Sauerkraut werden gereicht, es ist alles wie zu Hause. Sie führen einfache Betten mit, um nicht dem Ungeziefer der Gasthöfe ausgeliefert zu sein. Der Kammerdiener stellt sie jeden Abend auf, und Julie, des Stillsitzens in der Kutsche überdrüssig, hopst auf den Bettsäcken und Matratzen herum, bis die Mutter den Mahnfinger aufhält.
Die Empfänge, die ihnen einige der Städte entlang ihrer Route bereiten, langweilen sie - die Marschmusik, gespielt von adretten Offizieren in schmucker Uniform, gefällt ihr besser.
Frankfurt an der Oder, Landsberg, Bromberg, Marienwerder ziehen vorbei. In Königsberg empfängt sie ein tiefblauer Himmel - und sie besuchen als Höhepunkt das Theater. Dann verlassen sie Deutschland.
Die Kutsche knarrt weiter durch Dörfer und Städte, über Felder, durch Kiefernwälder und Sand, der so weiss ist wie Schnee. Die Landschaft wird fremd, die Gerüche sind stark, manchmal kräuselt Julie die Nase. Es riecht nach Sand und Tang, wenn sie an Seen entlang ziehen, nach würzigen Kiefernadeln und Harz im Wald und nach feuchter Erde, wenn Regen gefallen ist.
Sie passieren Tilsit, fahren im grossartigen Riga ein: Petrikirche, Dom, Jakobus-Kirche und der breite Fluss Düna bieten sich ihren staunenden Augen dar. Sie suchen den Schneider auf: Die Garderobe wird mit roten Pelzen, Zobelmützen und dicken russischen Kleidern ergänzt. Die Gewänder sind nötig, weil die Augusthitze kühlen Septembertagen gewichen ist. Zudem wollen Mutter und Töchter am Zarenhof nach Landessitte gekleidet sein. General Budberg, der - eingehüllt in dicken Zigarrenrauch - am Tisch auf sie gewartet hat, mustert die Damen, die in den neuen Gewändern auftreten, mit Wohlwollen.
Sie erreichen Dorpat, holpern Anfang Oktober durch die russische Steppe, legen die letzten Etappen der Reise in Richtung St. Petersburg zurück. Julie hopst nicht mehr auf den Betten herum am Abend, sondern versenkt sich in französische Romanzen, die General Budberg beschafft hat, damit sie ihre Sprachkenntnisse verbessern können: Am Zarenhof ist Französisch die gebräuchliche Sprache.
Es wird still in der Kutsche. Auf der Reise durch Deutschland haben sie gekichert und geplappert, sich auf eine komische Figur am Wegrand, ein schiefes Haus oder einen schönen Sonnenuntergang aufmerksam gemacht. Julie hat Antoinette geknufft, wenn sie wieder einmal eingedöst und gegen ihre Schulter gesunken ist, Antoinette ist zusammengezuckt und hat aufgejault, Sophie hat über die kindischen Schwestern gelacht und die Mutter den Kopf geschüttelt.
Nun löst das fremde Land, diese Einöde, die sich vor ihren Augen hinzieht, eine andere, ernste Stimmung aus. Die Mutter und General Budberg, die sich oft eifrig unterhalten haben, sitzen in angespannter Erwartung da. Sophie, für die der Kohlestift in allen Lebenslagen das Richtige ist, zeichnet noch immer - nun skizziert sie russische Kirchtürme mit ihren Zwiebeldächern. Antoinette, die sich die Zeit mit Sticken vertreibt, muss nicht mehr den Schweiss von den Händen wischen, sondern reibt sich öfter die klammen Finger. Julie versenkt sich nun auch in der Kutsche in die französischen...
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