Schweitzer Fachinformationen
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Anna liegt auf den Knien in der Leutkirche. Die hellrot leuchtenden Holzstückchen in der Glutschale, die ihr Hemma am Morgen ans Bett gebracht hat zum Aufwärmen, glühen nur noch in ihrem Innern. Ihr ist kalt an diesem kühlen Spätsommertag, der Magen knurrt, sie hat die Augen geschlossen. Gemeinsam mit Hemma besucht sie die Morgenmesse.
Tante Hemma ist stolz, weil die Frühmesse von einer Frau gestiftet wurde, die den gleichen Vornamen trägt: Hemma Bernerin. «Hemma ist eine reiche Frau, hat ihr Geld aber nicht für sich behalten», erklärte sie. «Sie hat Geld gespendet, damit die Frühmesse in der Leutkirche täglich und bis in alle Ewigkeit begangen werden kann. Dann ist sie ins Kloster des Deutschen Ordens eingetreten und lebt jetzt als Nonne.»
Anna hört die dunkle Stimme des Leutpriesters, die Messgesänge in Latein, von denen sie kein Wort versteht. Das letzte gemurmelte Gebet, die Segnung durch den Priester; sie stehen auf, treten mit gebeugtem Kopf aus der Kirche ins Halbdunkel des beginnenden Tages. Gegen Abend, wenn sie oft wieder eine Messe besuchen, schwindet das Licht aus der St.-Vinzenz-Kirche. Dann werden Lichter angezündet, der Duft des Weihrauchs füllt das Kirchenschiff. Das ist Anna lieber, als im Winter morgens in der dunklen Leutkirche zu schlottern.
Zurück im Haus in der Kreuzgasse, schaut sie zu, wie Hemma das Mus rührt und ihr eine Kelle davon schöpft. Während sie mit Löffeln und Fingern das Mus in sich hineinstopft, beobachtet sie Hemma, wie diese die schwarzen Kochkessel schrubbt und sich dabei selbst einen schwarzen Strich ins Gesicht malt. Anna unterdrückt ein Kichern. Sie befeuchtet ein Tuch und wäscht der Tante sorgfältig den Streifen von der Wange. Hemma schaut zu ihr und sie zu Hemma. Der Vater ist immer unterwegs auf Reisen, er treibt Handel hier und dort. Hemma ist an ihrer Seite seit dem Tod der Mutter.
Anna schaut nach oben. Wenn die Decke und das Dach nicht wären, könnte sie vielleicht die Mutter sehen im Himmel. Gleich nach ihrer Geburt sei sie dorthin entschwunden, hat man ihr gesagt, der Herrgott habe sie zu sich geholt. Warum hat er ihr kleines Mädchen nicht auch gleich zu sich genommen? «Du fragst zu viel», meint Hemma tadelnd, wenn sie Fragen stellt, und der Vater fährt ihr strafend über den Mund.
Hemma ist fertig mit dem Putzen der Kochkessel und Töpfe. Sie hat einen Korb am Arm, winkt ihr, sie solle mitkommen auf den Markt. Anna geht gern mit - es gibt so viel zu sehen. Als Hemma die Tür aufstößt, flutet Licht ins dunkle Hausinnere, Anna blinzelt.
Der Fischgeruch ist stark in der Kreuzgasse. Hemma geht zu einem Stand, nimmt einen der Fische in der Auslage beim Schwanz, dreht ihn um und riecht daran.
«Ich will keinen stinkenden Fisch. Ist er auch frisch aus der Aare?»
Die Fischersfrau runzelt die Stirn, gibt aber geduldig Antwort, denn sie kennt die Dame aus dem vornehmen Haus. Man wird sich bei wenigen Pfennigen handelseinig, der Fisch wird in ein Tuch geschlagen und wandert in Hemmas Korb. Hühner baumeln, an den Füßen zusammengebunden, vom Gestänge, eine Bauersfrau, die eine lange Schürze umgebunden hat, verkauft Eier und Anken. Beim Anblick des Ankens läuft Anna das Wasser im Mund zusammen, Hemma geht aber ohne einen Blick am Stand vorbei und biegt in die Marktgasse ein.
Anna ist plötzlich von wild muhenden Kühen umgeben, fast wird sie von den schweren Leibern erdrückt. Ihre Tante kommt zurück, reicht ihr die Hand und scheucht die Tiere fort, obwohl der Bauer mit dem Finger droht: «Das ist der Viehmarkt, wir lassen uns nicht wegdrängen.» Hemma ist flink und schon einen Schritt weiter, sie tritt vor die Fleisch- und Brotstände über dem Stadtbach. Manchmal backt sie selbst Brot, jetzt aber bezieht sie einen dunklen Laib beim Pfister und steckt ihn in ihren Korb. Fleisch schwingt an Haken am Nachbarstand. Hemma mustert die roten Fleischseiten, auf denen Fliegen herumkriechen, verzichtet aber trotz der werbenden Sprüche des Metzgers in seinem blutbespritzten Schurz, da sie bereits Fisch gekauft hat. Gegenüber ist der Kornmarkt, golden schimmert das Getreide, dort kaufen sie aber nie ein, weil der Vater jeden Herbst viele Säcke Dinkel von seinen Bauern auf dem Land erhält, und davon gibt er dem Pfister ab, weshalb sie für das Brot nie bezahlen.
Ein Schweinchen rennt quietschend über die Gasse, es ist aus einem der Innenhöfe zwischen den Häusern ausgebrochen oder einem Bauern davongerannt. Lachend versuchen ein paar Burschen, es einzufangen. Weil sie der Schweinejagd zuschaut, achtet Anna nicht auf ihre Füße und tritt in knolligen Pferdemist. Hemma schimpft und wischt ihr mit ein paar Kohlblättern, die sie vom Boden aufgehoben hat, den Mist von den Bundschuhen. «Warum geht die Kleine nicht barfuß», höhnt ein Händler, der neben seinen tänzelnden Pferden steht, «ist wohl eine Vornehme oder tut so.» Anna zieht den Kopf ein, sie weiß, dass sie auffällt in der Gasse: Die Bauernkinder, die ihre Eltern auf den Markt begleiten, sind barfuß, ihre Zehen starren vor Dreck, sie machen sich sogar einen Spaß daraus, mit einem Sprung beidfüßig im Mist zu landen, so dass es ringsum spritzt.
Anna schaut zu den Häusern beidseits der Marktgasse, die meisten sind aus Holz gebaut, einige aus Stein, sie sind unterschiedlich hoch. Vor einigen der Häuser stehen Leute unter dem Laubenvordach, sie unterhalten sich und lachen - haben sie gesehen, wie dumm sie sich benommen hat? Ihre Bundschuhe sind von einem gelbbraunen Schmutzrand gezeichnet, sie glaubt, den Mist zu riechen. Sie schämt sich, setzt sich an den Stadtbach und steckt die Füße ins gurgelnde Wasser. Die Füße sind kalt, aber der Schmutzrand ist nicht mehr zu sehen, als sie aufsteht. Die Tante schüttelt den Kopf, nimmt sie an der Hand und zieht sie hinter sich her.
Hemma hat keinen Blick für die Berge von Äpfeln und Birnen, die sich, von einigen späten Wespen umkreist, auf einer Auslage häufen und hinunterzurollen drohen, weil ein Bub unbemerkt vom Standbesitzer einzelne Früchte herausklaubt. «Der kleine Dieb», schnauft Hemma und wendet sich ab, sie verrät den Buben im zerrissenen, schmutzigen Leinenröcklein nicht. «Komm jetzt», sagt sie barsch zu Anna und biegt um die Ecke wieder in die Kreuzgasse, sie hält den Korb in der einen Hand und zieht mit der anderen Anna die Treppe hinauf, setzt sie auf einen Schemel und löst die nassen Bundschuhe, reibt ihre kalten Füße zwischen den Händen. Das tut gut. Wärme steigt in Anna hoch.
Hemma und Anna sitzen am geöffneten Fenster der Stube, die auf die Marktgasse geht.
Erbsenschoten liegt zwischen ihnen. Anna wählt dicke Schoten, drückt mit den Fingern auf die Seitennaht, bis sie aufplatzt, lässt die Erbsen in den Topf kullern und wirft die leeren Schalen auf den Haufen. Immer noch ist der Lärm des Marktes zu hören, die Stimme eines Metzgers, der frische Hammelstücke anpreist; Pferde wiehern, Kühe muhen, irgendwo quietscht das Schweinchen, das wohl noch immer frei herumläuft, eine Männerstimme flucht, eine Frau keift, Töne einer Laute schweben durch die Luft, ein Dudelsack mischt sich ein, wird leiser. Anna folgt mit den Augen dem Lichtviereck, das langsam über den Boden wandert - blendend hell ist es im Gegensatz zum Dunkel der Stube, Staub tanzt in den Lichtstrahlen. Sie haben nicht gut gewischt. Das darf nicht sein. Wenn der Vater von einer langen Reise zurückkommt, hat er ein scharfes Auge und tadelt oft. Hoffentlich kehrt er gesund zurück. Was würde aus Hemma und ihr werden ohne den Vater? Sie fröstelt.
Aus Vaters Erzählungen weiß sie, dass es nicht selbstverständlich ist, dass man heil von einer Reise zurückkommt. Vor einigen Jahren wurde er auf dem Weg an die Frankfurter Messe von einem Raubritter und seinem Gefolge überfallen. Die Berner Kaufleute konnten sich retten, der räuberische Ritter von Geroldseck wurde in die Flucht geschlagen. Anna hätte Angst, Bern zu verlassen. Die Stadtmauern schützen, die Tore sind gut bewacht von Wärtern mit Hellebarden - sie lassen keinen Räuber ein. Jenseits der Tore aber kann hinter jedem Gebüsch ein Wegelagerer lauern. Lieber bleibt sie innerhalb der sicheren Mauern.
Sie erstarrt. Die Haustür ist ins Schloss gefallen, Männerstimmen sind zu hören, schwere Schritte auf der Treppe. In der Stubentür tauchen zwei Männer auf, schwer beladen. Hinter ihnen steht ein dritter Mann, verdeckt. Vor Schreck wirft Anna den Topf um, die Erbsen rollen über den Tisch und ergießen sich auf den Boden.
Der Vater tritt hervor, ungläubig blickt er auf den Erbsenwasserfall. «Anna.» Er öffnet die Arme, geht auf sie zu, ihre Wange liegt einen Moment auf dem kühlen, metallenen Kreuz, das er um den Hals trägt, dann hält er sie auf Armeslänge von sich und mustert sie. «Du bist gewachsen seit dem Frühjahr, dein Gesicht ist aber immer noch klein und fein, die Haut zart. Wie eine Magd empfängst du mich, gießt mir Erbsen vor die Füße. Solche Tätigkeiten sind nichts für dich, du bist zu anderem geboren.» Er weist Hemma an, die Erbsen zusammenzukehren, was sie ohnehin von sich aus schon begonnen...
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