Kapitel 6
»Dong«, tönte es von der Domuhr, dann noch zweimal »Dong, dong«. Schon drei Viertel, dachte Annika, was bedeutete, dass noch ein Viertel bis zur nächsten vollen Stunde blieb. In diesem Fall bis elf Uhr. Himmel, sie musste sich beeilen, wenn sie rechtzeitig um halb zwölf bei Kurt Reisch sein wollte! Sie legte sich das beige Seidentuch um, das noch von Gerd stammte, und zwängte sich in die leichte Baumwolljacke, die sie sich im vergangenen Sommer erst gekauft hatte. »Auch schon wieder zu eng«, murrte sie und stopfte Portemonnaie und zuckerfreie Pfefferminzbonbons in ihre Handtasche.
Sie warf einen prüfenden Blick ins Schlafzimmer, ließ Gerd auf dem Nachtschrank ein kurzes »Mach's gut« zukommen, überzeugte sich, dass im Bad und in Gerds altem Arbeitszimmer die Fenster geschlossen waren, und lief routinemäßig weiter zur Küche. Herd aus, Lichter aus, Kaffeemaschine aus, Kühlschrank geschlossen. »Tsss.« Sie entdeckte die Plastikdose auf dem Tisch und beförderte sie in den Kühlschrank zurück, wo sie hingehörte. Zum Glück war wenigstens der Deckel richtig zu.
Nun noch der übliche Blick aus dem Wohnzimmerfenster hinunter zum Taxistand. Ja, da standen Taxen, sie musste also nicht anrufen. Als müsse sie sich vergewissern, dass er noch steht, ruhte ihr Blick für Sekunden auf dem spitzen Glockenturm des Frankfurter Doms.
Seit dreißig Jahren ließ sie sich von dort die viertel, halben, drei viertel und vollen Stunden vorgeben, hörte Hochzeitsglocken läuten und das drängende, vieltönige Glockenbrausen, das zur Messe rief.
Die Nachbarschaft zu diesem großen, altehrwürdigen Gemäuer wollte sie nicht missen, und noch heute war sie stolz auf sich, dass sie ihre Wohnung in der Fahrgasse mit Zähnen und Klauen gegen Gerd verteidigt hatte, der viel lieber irgendwo im Taunus gewohnt hätte. Sie aber war nicht gewichen, keinen Zentimeter. Wie hätte sie verzichten können auf ihren Domblick oder den sommerlichen Schoppen am Römerberg direkt dahinter, auf dem im Winter der Weihnachtsmarkt stattfand mit heißem Ebbelwei und Brezeln und Maronen. Oder ihre Spaziergänge am Mainkai, den sie in wenigen Schritten erreichen konnte und nach Lust und Laune verlängerte, indem sie über die Brücke nach Sachsenhausen zum Museumsufer lief. In jüngeren, besseren Tagen war sie sogar manchmal bis zum Burghoftheater am Großen Hasenpfad gelaufen, was allerdings schon tiefstes Sachsenhausen und ein Ende weit weg war.
Ach Gott, das Burghoftheater. Annika konnte nicht daran denken, ohne jedes Mal traurig und unruhig zugleich zu werden.
Die Petersen jedenfalls konnte weiter ihr Gift verspritzen. In den Nachrichten hatte es geheißen, ihr Zustand sei stabil, was wohl bedeutete, dass sie es schaffen würde. Annika seufzte. Man musste Geduld haben und einen klaren Kopf bewahren. Sie zog die Gardinen vor, schulterte ihre Tasche und verließ mit kleinen, x-beinigen Schritten ihre Wohnung.
Der Damaschkeanger, in dem sie das Taxi zwanzig Minuten später absetzte, war eine ruhige Wohnstraße im Stadtteil Praunheim. Keine noble Wohngegend, eher kleinbürgerlicher Kiez. Annika hatte die Adresse aus einer Anzeige in der Zeitung, in der ein Heilpraktiker das Abnehmen mithilfe von Akupunktur anbot. Sie hatte telefonisch einen Termin für Dienstag elf Uhr dreißig bekommen, und hier war sie also. Dass das Gässchen nahe beim Nord-West-Krankenhaus lag, in dem sich die Petersen gerade auskurierte, war Annika dabei wie ein Wink des Schicksals erschienen, ein Fingerzeig sozusagen, den sie nicht ignorieren konnte.
Erst einmal aber zu den Nadeln. Annika war schon zweimal an dem unscheinbaren Schild mit der Aufschrift »Praxis für Naturheilkunde« vorbeigelaufen, ehe sie es endlich doch entdeckte. Ein Pfeil wies auf den Nebeneingang eines viereckigen, schmucklosen Hauses, dessen Holztür nur angelehnt war. Annika trat ein und landete ohne Vorwarnung in einem Raum, in dem mindestens dreißig Menschen auf schwarzen Plastikstühlen saßen, die an drei Wänden entlang aufgestellt waren. In der Mitte des Raumes führte eine Wendeltreppe in eine obere Etage. An der linken Wand war ein schmaler Durchlass zu einem Zimmerchen, in dem zwei Frauen hinter einem Tresen unermüdlich gelbe Karten ausfüllten. Davor stand eine Schlange unverkennbar fülliger, wenn nicht gar fetter Frauen. Annika sah sich beklommen um, tatsächlich gab es unter den Wartenden kaum Männer, auf Anhieb entdeckte sie nur drei. Sie widerstand dem Drang, sofort kehrtzumachen, und stellte sich am Tresen an.
»Sie sind Frau .?«, fragte die eine der provozierend dürren Kartenschreiberinnen, als Annika endlich an der Reihe war.
»Clement«, ergänzte sie.
»Ah ja, da haben wir es.« Die Dürre zog aus einem offenbar vorbereiteten Kartenstapel eine Karte heraus, ließ sich Anschrift und Telefonnummer bestätigen und stand auf. »Dann kommen Sie mal mit zum Wiegen.« Annika trottete ihr hinterher, durch den überfüllten Vorraum, die Wendeltreppe hoch, wo in einem ähnlichen, aber kleineren Warteraum wie dem unten wieder fast alle Stühle besetzt waren. Anders als unten gingen von diesem Raum gegenüber der Treppe zwei Türen ab. Eine war offen und ließ den Blick frei auf eine Waage, die so groß war wie ein Kleiderständer. Rechts und links davon standen ein Stuhl und ein rechteckiger Tisch. Meine Güte, dachte Annika, hoffentlich schließt sie wenigstens die Tür, wenn ich mich auf diesen Gabelstapler wuchte. Die Frau tat ihr den Gefallen. »Die Jacke ablegen, bitte«, sagte sie, »die Schuhe behalten Sie an.« Annika kniff die Augen zusammen, als sie auf die Waage stieg, aber sie entging der Wahrheit nicht.
»Achtundneunzig Komma neun«, konstatierte die Sprechstundenhilfe und notierte das Gewicht auf der gelben Karte. »Achten Sie darauf, dass Sie beim nächsten Wiegen in einer Woche in etwa die gleiche Kleidung tragen. Jetzt warten Sie bitte draußen, Herr Reisch wird gleich für alle eine Einführung geben.«
Der obere Warteraum war bald überfüllt, sodass die Ersten schon an der Wand lehnten, weil sie keinen Sitzplatz mehr fanden. Mindestens sechzig Zentner Lebendgewicht sind hier beisammen, wenn nicht gar achtzig, dachte Annika. Knackt es eigentlich, bevor ein Fußboden einstürzt, oder tut er das ohne Vorwarnung? Sie hielt sich am Geländer der Wendeltreppe fest, was ja nie schaden konnte, wenn die Statik nicht standhielt, zumindest war sie nahe am Fluchtweg.
Es war schon fast zwölf, als endlich ein drahtiger Mann, behände zwei Stufen auf einmal nehmend, die Wendeltreppe hinaufeilte, auf der obersten Stufe stehen blieb und dynamisch in die Runde sah. Mund halten, zuhören!, forderte sein Blick. Tatsächlich wurde es sofort ruhig. Annika zog sich noch ein Stück weiter hinter das Geländer zurück, um nicht in sein Blickfeld zu geraten. Er wirkte auf sie wie ein Dompteur, der mit der Peitsche in der Mitte der Arena steht und seine Elefanten im Kreis laufen lässt. Diese hier liefen allerdings nicht, sondern saßen auf zu kleinen Stühlen und warteten schweigend.
»Sie sind hier«, begann Kurt Reisch, »weil Sie ein Problem haben. Das Problem ist aber nicht das Übergewicht, das ist nur die Folge. Das Problem ist Ihre Fresssucht. Machen Sie sich klar, dass Sie zu dick sind, weil Sie nicht aufhören können zu essen. Das ist eine Sucht. Sie sind fresssüchtig. Und da setzt die Therapie an.« Er machte eine Pause und begann, die Anwesenden der Reihe nach zu fixieren. Eine Frau, die ihrer Nachbarin etwas zuflüstern wollte, hielt mitten in der Bewegung inne und klappte den Mund wieder zu. Sie zupfte verlegen an ihrer Hemdbluse, weiß grundiert mit blassrosa Blumenmuster, ein Hänger, wie ihn auch Annika notgedrungen trug.
»Bevor ich Ihnen die Wirkung der Akupunkturnadeln erkläre und den Sinn der von mir zusammengestellten Diät, die eine Pflicht ist«, hier hielt Kurt Reisch eine Broschüre in die Höhe, »weise ich Sie darauf hin, dass Sie nur Erfolg haben werden, wenn Sie aus freiem Entschluss hier sind. Der Erfolg beginnt hier.« Er tippte sich an die Stirn.
»Wenn Sie also vom Ehemann geschickt wurden beispielsweise, vergessen Sie es. Stehen Sie auf und gehen Sie nach Hause!« Er machte eine Kunstpause, in der natürlich niemand ging, und begann dann, ausführlich zu erklären, wie er mit drei Nadeln im Ohr die Hungergefühle abblocke, um eine Grundlage für die Suchtbekämpfung zu schaffen, die aber jeder selbst vollenden müsse, indem er, solchermaßen unterstützt, diszipliniert die Diät befolge.
Reisch sprach schnell, deutlich und laut. Wer schwatzte, wurde mit einem »Na aber, bitte« abgebügelt und verstummte umgehend.
Drei Wochen, erklärte Kurt Reisch, blieben die drei Nadeln im Ohr, danach folge eine dreiwöchige Erhaltungsphase, für die es ebenfalls einen ausgeklügelten Diätplan gebe, anschließend wieder drei Wochen lang Nadeln. »Und so fort, bis Sie Ihr Zielgewicht erreicht haben. Und ich kann Ihnen sagen«, hierbei wanderten seine Augen erneut durch die Reihen, »ich habe schon manche attraktive Frau hier herausgehen sehen, nachdem sie sich endlich aus ihrem dicken Fell geschält hatte. Erstaunlich attraktive Frauen kommen da zum Vorschein.«
Jetzt hat er uns, dachte Annika, jetzt hat er uns alle. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie die arme eingeschlossene Schöne dreißig Kilo tiefer in ihr drin sich von nun an Gramm für Gramm näher an die Oberwelt heranarbeitete. Sie sah sie förmlich mit den Armen rudern, um die Schichten beiseitezuschieben. Ja, das Bild gefiel ihr, das wollte sie sich merken.
Reisch appellierte noch einmal an alle, nur dann zum Nadeln zu bleiben, wenn sie auch wirklich aus eigener Überzeugung gekommen seien. »Angst müssen Sie nicht haben, unsere Sterberate ist sehr niedrig«, fügte er launig hinzu, dann sprang er auf und...