Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Die Fahrt im Leihwagen * Im Weinhaus Doll * Hinter der Tiergartenmauer
»Auje!«, murmelte Franzl Berger vor sich hin, als er in den Mietwagen des Herrn Singer stieg. »Bei der Hitze werden wir nicht viel weiterkommen!«
Der Schofför Sebastian Singer öffnete die hintere Tür für Alice Becker, die sich trotz der hohen Temperaturen schnell hineinsetzte, ohne Berger eines Blickes zu würdigen. Dann hievte sich der Besitzer der Mietwagenfirma hinter sein Lenkrad und musterte fragend den Mann auf dem rechten Rücksitz. »Denselben Weg wie immer?«
Franzl Berger nickte.
Am 17. Juli 1928 war es außerordentlich heiß in Wien, die Hitze fiel unbarmherzig in die engen Gassen der Innenstadt und drohte das spärliche Leben mit schwülen Fingern abzuwürgen. Kein Wunder, dass der fesche Franzl in den Lainzer Tiergarten am Stadtrand flüchten wollte. Auf den Hügeln des Wienerwaldes, umgeben von einer kilometerlangen Mauer, linderte der dichte Baumbestand die flirrende Hitze. Bei 25 Grad im Schatten kann man durchaus Geschäfte machen. Franzl Berger wusste außerdem, dass vor allem feine Damen extrem unter den Temperaturen litten und ihr Verhalten unberechenbar wurde. Oder sollen wir von »amourösen Tätigkeiten« sprechen?
Der fesche Franzl hatte beim Weinhaus vom Doll einen Tisch bestellt. Sebastian Singer kannte die Route, denn der »Kaufmann« - so nannte ihn der Schofför - forderte ihn in der schönen Jahreszeit einmal in der Woche für diese Fahrt an, und er wollte partout nicht mit einem seiner Angestellten, sondern unbedingt vom Chef selber gefahren werden. Mit einer satten Portion Trinkgeld wurde er zu äußerster Diskretion verpflichtet, denn niemand in der Wienerstadt sollte erfahren, was der fesche Kaufmann mit Alice Decker, einer verheirateten Dame der feinen Gesellschaft, am Rande des Tiergartens . Wie gesagt, die Worte mögen schweigen.
Das Trinkgeld war gut angelegt, denn Alice Decker war nicht die einzige Dame, mit der Herr Franzl Berger eine Zuflucht, ja Zuflucht, am Wiener Stadtrand suchte.
Also fuhr Herr Singer, ohne weitere Worte zu wechseln, mit dem trauten Paar von der Wohnung des Kaufmanns in der Spiegelgasse im 1. Wiener Gemeindebezirk über die Mariahilfer Straße und die Hietzinger Hauptstraße in die Ghelengasse. Nach der Überquerung des Lackenbaches, der jetzt im Juli vollkommen ausgetrocknet war, führte ein nicht asphaltierter Weg steil bergauf bis fast zur Mauer des Tiergartens. Dann bog er scharf nach rechts ab. Auf einer kleinen Wiese hielt Herr Singer, er sprang auf und öffnete die Tür für Alice Decker.
Franzl Berger war selbst hinausgeklettert, rempelte den Schofför kurz mit dem Ellenbogen an und warf ihm einen vielsagenden Blick zu.
Während Franzl Berger und Alice Decker die 20 oder 30 Meter zum Garten des Weinhauses Doll vor der Mauer des Tiergartens gingen, holte Herr Singer die Zeitungen aus dem Wagen, die er in der Früh gekauft hatte, setzte sich auf einen Baumstumpf im Schatten einer hohen Fichte und begann die erste Zeitung durchzublättern. Zwischendurch blickte er auf seine Uhr. Sie zeigte 14.30 Uhr.
Der fesche Franzl hatte seine Alice zu dem von ihm bestellten Tisch geführt. Im Garten des Weinhauses standen im Schatten der zahlreichen Fichten etwa 15 Holztische, zwischen den Tischen blieb ausreichend Platz für mehrere Laternen sowie Tröge und Vasen mit Geranien. Eine kühle Brise strich über die Wangen der süßen Alice, auf der ein paar Schweißtropfen klebten.
»Wir Frauen leiden mehr unter der Hitze als ihr Männer«, unterbrach sie ihr minutenlanges Schweigen und legte ihren Strohhut auf die Tischplatte.
»Na geh, hier oben ist es doch kühl, kühl genug für uns beide.« Franzl strich sich seine braune Mähne nach hinten, die ihm während des Fußwegs zum Weinhaus ins Gesicht gerutscht war.
»Du kennst nicht die Seele einer Frau!« Alice wischte sich mit der auf dem gedeckten Tisch liegenden Serviette den Schweiß vom Gesicht. »Aber dafür ihr Bedürfnis nach Geld!«
Der fesche Franzl grinste sie an.
Alice legte die lederne Handtasche auf den Tisch, in der sie einen Chinchillakragen und eine Hermelinstola versteckt hatte. Eigentlich brauchte sie das Geld gar nicht, aber der fesche Franzl hatte sie inständig gebeten, sogar darum gebettelt, dass sie Stola und Kragen an ihn verkaufe. Oder wollte er doch etwas anderes von ihr?
Franzl kehrte öfters im Weinhaus des Herrn Doll ein. Er hatte bereits zweimal hier am Rande des Wienerwaldes Silvester gefeiert und dabei mit Wonne die Blicke auf die Wienerstadt hinuntergerichtet. Im Sommer musterte er ein wenig abschätzig die schnaufenden Wanderer, die im Weinhaus ein Schmalzbrot und eine Flasche Bier orderten. Mehr war für sie im Jahr 1928 nicht drin. Manchmal weilten hier auch Ehepaare mit ihren Kindern, die in der schrägen Wiese herumtollten und auf den drei Rutschen brüllend und quietschend ihr Können testeten. Aber bei dieser Hitze blieben zu Franzls Zufriedenheit selbst die laut herumtollenden Kinder zu Hause.
Franzl hängte seinen Rock mit fallendem Revers über die Sessellehne und lockerte den Knoten der Krawatte. An seinem weißen Hemd sammelte sich der Schweiß unter den Achseln. Dann orderte er bei dem wartenden Herrn des Hauses zwei Sodawasser und etwas »Einfaches« zum Speisen. »Ja, Rinderzunge in Madeirasoße, das wird schon passen.«
Ohne die Karte zu verlangen, bestellte Alice dasselbe. Sie wusste, in solchen Angelegenheiten konnte sie dem feschen Franzl durchaus vertrauen.
Der kam überhaupt nicht zur Sache. Beim zweiten Soda erzählte er von einem Friedhof auf einem Hügel namens Gemeindeberg, den man in zehn Minuten zu Fuß von hier aus erreichen könnte. »Den Friedhof musst du dir einmal anschaun, das sag ich dir.«
»Seit wann interessiert sich ein Wiener Jude für einen christlichen Friedhof?«
»Was heißt >Jude<? Meine Konfession ist Kaufmann! Auf dem Friedhof liegt Egon Schiele begraben.«
Alice schaute vollkommen ahnungslos. »Aha. Wer soll des sein?«
»Ach du meine Güte! Der Schiele war ein Maler, der an der Spanischen Grippe im 18er-Jahr gestorben ist. Genauso wie der Herr Klimt. Was glaubst, was ein Bild von ihm jetzt kostet?«
Alice hob gelangweilt die Schultern.
Franzl Berger ahnte, dass er das Gespräch in falsche Bahnen gelenkt hatte. »Gut, kommen wir zum Geschäftlichen. Was hast du mitgebracht?«
Alice Decker war Prokuristin eines Wiener Modehauses. Der Name tut nichts zur Sache - unter uns: Er lautete Decker & Kudelnich. Seit 13 Jahren war sie selbstverständlich glücklich mit Herrn Decker verheiratet. Doch vor zwei Jahren war sie in einem Wiener Nachtclub auf einen ausgesprochenen Feschak getroffen, mit einem dichten und kantigen Oberlippenbart, braunen Haaren, die von einem Mittelscheitel geteilt wurden, und treu blickenden Augen in einem nach vorne gekrümmtem Gesicht, das unter Umständen wie ein gefährliches Raubtier zustoßen konnte. Es war besagter Kaufmann Franzl Berger, der ihr angeboten hatte, gewisse Pelze über dem Ladenpreis zu verkaufen, nach Italien, in die Tschechoslowakei oder sonst wohin. Seither war sie mit dem feschen Franzl in Garmisch-Partenkirchen beim Schifahren, in Karlsbad im böhmischen Bäderdreieck beim Kuren und im italienischen Pirano beim Fischessen gewesen. Nur in Wien, da war es schicklich, sich nicht mit ihm in aller Öffentlichkeit zu zeigen.
Bevor Alice auf Franzls Frage, was sie mitgebracht habe, antworten konnte, brachte Herr Doll die beiden Teller mit Rinderzunge in Madeirasoße.
»Die Zunge muss mindestens drei Stunden köcheln, bevor sie gar wird, nicht wahr, Herr Doll?«, schlaumeierte Franzl.
Herrn Doll blieb nichts anderes übrig, als zu nicken.
Franzl Berger stach mit der Gabel zur Kontrolle in eine der drei Zungenstücke. Dann nickte er zurück zum Wirten und fragte manierlich: »Und was trinkt man zu dem Zeug?«
»Weißwein, wie immer, Herr Berger. Bin schon auf dem Weg.«
Nach dem Mahle, das wir der Leichtigkeit halber überspringen wollen, räumte Herr Doll auf einen Wink von Franzl Berger den Tisch. Jetzt erst fischte die Frau Alice den Chinchillakragen aus ihrer Ledertasche, danach die Hermelinstola. Franzl griff nach dem Kragen, musterte ihn genau, dann wiederholte sich das Spiel mit der Hermelinstola. Schlussendlich fächerte er mit seiner Rechten dreimal durch die Luft, als müsste er nicht vorhandene Fliegen vertreiben.
»Was ist los? Beide sind echt«, entrüstete sich Alice.
»Kein Zweifel. Das Problem liegt woanders.« Franzl fächerte mit der Linken.
Alice blickte auf den Schweißrand, der sich auf seinem weißen Hemd gebildet hatte. »Bist du am Ende wieder pleite?«
»Ich habe gestern auf eine Lieferung gewartet, die aber nicht eingetroffen ist.«
Stille. Sachte vernahm man den Flügelschlag einer Krähe, die im Wipfel einer Fichte Schutz suchte. Irgendwo auf einem Nebentisch surrten zwei Insekten.
Auf der glatten und trefflich eingecremten Stirn der Alice Decker zeigten sich mehrere Falten. »Und wieso sind wir dann da heraufgefahren?«
»Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du die Frau meines Lebens bist«, flüsterte der fesche Franzl, der die Schweißränder auf seinem Hemd für drei Sekunden vergaß und der wunderhübschen Alice tief in die Augen blickte.
Es kam, wie es kommen musste, zum Geschäft, zumindest wenn man das Begehren des feschen Franzl in Rechnung stellt. Es...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.