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Ist Literatur im exterministischen 20. Jahrhundert, in dem Tod ein Meister aus Deutschland geworden ist, noch möglich? Ist ihre Daseinsberechtigung entfallen, da nach Auschwitz jede kulturelle Produktion nur Ausdruck der Barbarei sein kann? Ist Literatur gerade wegen der Gräueltaten notwendig, gar unumgänglich? Welcher Verfahren hat sich solche Literatur zu bedienen? Diese Fragen verfolgt der Georg-Büchner-Preisträger des Jahres 2016 in seinen poetischen Untersuchungen und hat eine ebenso knappe wie weitreichende Antwort parat: durch Detailarbeit am Material der Realität wie der Literatur.
Marcel Beyer verfährt bei seinen Erkundungen des Status von Literatur nach dem Ausschlussprinzip: das Radio funktioniert als notwendigerweise eindimensionales Medium; das Kino tritt stets im Gewand der Inszenierung auf und ist bekanntlich genauso manipulierbar wie die Fotografie. Im selben Maße, wie die überlieferten Zeugnisse der Quellenkritik bedürfen, ist für die Dokusoap eine Kritik der in der Regel anmaßenden Zeitzeugen notwendig.
Der Schnappschuß - und es könnte sich nur um einen Schnappschuß handeln - würde einen Mann im fortgeschrittenen Alter am Vortragspult des Hörsaals zeigen, dem Auditorium zugewandt, ohne sich aber seinen Hörern zuzuwenden, ein Schnappschuß, den es unter heutigen Bedingungen, mit zahllosen Smartphonekameras gemacht, in hundertfacher, leicht variierender Ausführung zu sehen gäbe, wobei das entscheidende, das auslösende Moment vermutlich auf keinem einzigen Bild tatsächlich zu erkennen wäre: die Tränen in seinem Gesicht.
Wie noch jedesmal müßte eine Bildunterschrift einen Hinweis darauf geben, warum die Photographie überhaupt existiert, aus welchem Impuls heraus geknipst wurde, worauf der Photograph mein Augenmerk hat lenken wollen, was also hätte zu sehen sein sollen, wäre das Objektiv keine leblose Linse, sondern ein von unergründlichen Regungen bewegtes Sehorgan, das am Ende selbst Unsichtbares zu fixieren vermag.
Die Unterschrift zu genau diesem Schnappschuß, der, wie sich von allein versteht, nie aufgenommen wurde, wäre in Form einer Frage formuliert: Sollen wir etwa den Sieg der Tränen als Sieg über die Geschichte, als Sieg über das zwanzigste Jahrhundert auffassen?
Anfang 1969 war ich dreieinhalb Jahre alt, und ich wußte durchaus, wie eine Universität von innen aussieht. Ich kannte die Tag und Nacht von Kunstlicht erhellten Flure, fuhr mit den Fingern über die von Plakaten und Aushängen und Zettelchen schuppigen, gepolsterten Wände, kannte die stets zu kleinen, mit Papieren und Büchern vollgestopften Büros genauso wie jene bis auf eine standardisierte, mit Inventarnummern versehene Möblierung aus Schreibtisch, Schreibtischlampe, Stuhl und Bücherbord leeren, wie von keiner Menschenseele je belebten. Ich kannte den Kreidegeruch und den Geruch nach faulem Wasser in den Hörsälen genauso wie den sauren Dunst und den Geschmack eines Stammessens in der Mensa. Ich kannte, nicht zu vergessen, die von Architekten mit Vorliebe am Ende langer Gänge, also am Ende der bewohnten Welt untergebrachten tückischen Toiletten, aus deren Kabinen es, hatte man sich einmal als Kind, das von grundsätzlich mit defekten Sperrmechanismen ausgestatteten Türen noch nichts wußte, versehentlich eingeschlossen, kein Entkommen zu geben schien, wie laut auch immer man rufen und weinen mochte.
Ich kannte, kurz gesagt, alles, was sich unter dem Kälteschauer auslösenden deutschen Wort >Trakt< fassen läßt, doch war ich - dafür zu spät geboren und zum fraglichen Zeitpunkt am falschen Ort - nicht unter den Hörern, als Theodor W. Adorno am Nachmittag des 22. April 1969 ein vorletztes Mal seinen angestammten Hörsaal VI an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main aufsuchte, wurde demnach auch nicht Zeuge des von der Nachwelt oder bereits von den Anwesenden so genannten Busenattentats, und bin außerdem heute mit dem Werk Theodor W. Adornos nicht in einer Weise vertraut, wie ich es vielleicht gerne wäre. Dennoch frage ich mich: Bin ich aufgefordert, den Sieg der Tränen als Sieg über das blinde, das blindgeweinte Jahrhundert zu betrachten?
*
Seltsames geschieht. Kaum hat Theodor W. Adorno um kurz nach sechzehn Uhr den wie immer vollbesetzten Hörsaal betreten und Hut und Mantel abgelegt, entsteht Tumult. Die drei Parzen erscheinen -
Nur einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen!
Und einen Herbst zu reifem Gesange mir,
Daß williger mein Herz, vom süßen
Spiele gesättiget, dann mir sterbe.
- Die drei Hexen aus der Eröffnungsszene des Macbeth zeigen sich auf der Bühne -
When shall we three meet again?
In thunder, lightning, or in rain?
- Drei junge Frauen aus der Lederjackenfraktion stürmen nach vorne, umringen den Professor, lassen Rosen- und Tulpenblüten, einer anderen Quelle zufolge Nelken über ihm niederregnen, schmücken also, als stellten sie Ende April bereits den Mai dar, wie wir ihn aus der mittelalterlichen Dichtung kennen, den Wiesengrund. Wie auf Kommando öffnen sie ihre Lederjacken, unter denen sie weder Bluse noch Büstenhalter tragen: Sie zeigen ihre nackten Brüste vor. Theodor W. Adorno greift nach seiner Aktentasche, greift nach dem Erkennungszeichen des aus Deutschland ins Exil getriebenen, seine geistige Habe Tag und Nacht bei sich haltenden Intellektuellen, und hebt die Tasche schützend vor das Gesicht. Nach wenigen Augenblicken ist dieser Spuk vorüber -
Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt!
und:
Hover through the fog and filthy air.
Der Professor bittet seine Hörer um Beistand, erbittet sich Schutz vor Pandämonium und Zudringlichkeit. Man möge ihn lesen lassen, möge dafür sorgen, daß er seine Vorlesung halten kann. Nicht unterbrochen zu werden, nicht übertönt, nicht niedergebrüllt: Mehr Beistand verlangt er nicht. Doch es tritt keine Stille ein. Die Störungen kommen nun auch aus den Hörsaalreihen. Irgendwer ruft: »Dann drücken Sie sich deutsch aus, so daß man Sie versteht« - und winkt unsichtbar schon einmal mit der Deutschlandfahne, die er 2006 anläßlich des >deutschen Sommermärchens<, endlich wieder stolz, in seinem Vorgarten wird hissen dürfen.
Theodor W. Adorno verläßt den Saal.
Soweit ich es überblicke, stimmen die Schilderungen des Zwischenfalls vom 22. April 1969, wie sie von seinerzeit im Hörsaal Anwesenden gegeben wurden, mal knapper, mal ausführlicher gehalten, bis heute weitgehend miteinander überein. Stets kehren dieselben Elemente wieder: Hut und Mantel, Lederjacken, Brüste, Aktentasche. Die Requisiten entsprechen der Anmutung eines italienischen Nazi-Pornos der siebziger Jahre - womit eine Richtung vorgegeben ist.
Während der Attacke sei dem Professor »der Ausdruck verzweifelter Angst ins Gesicht geschrieben« gewesen, erinnert sich der eine, der andere spricht vom »sich verzweifelt Sträubenden«, ein dritter hat ihn als »verstört« in Erinnerung behalten, der vierte weiß von Adornos »hochrotem Kopf« und den »zerzausten Haaren«. Von Tränen ist nirgendwo die Rede, läßt man einmal Alexander Kluges diskreten Hinweis beiseite, Theodor W. Adorno habe aufgrund seiner Diabeteserkrankung äußerst empfindliche, stets ein wenig tränende Augen gehabt. So steht die Geschichte, unbezweifelt, keiner Korrektur bedürftig, dreißig Jahre lang.
Das einzige bekannte Photo der Hörsaalszene wurde nicht aus dem Auditorium heraus aufgenommen, es entstand aus nächster Nähe des von den Frauen umringten Professors. Demnach muß es von jemandem stammen, der, vorausschauend und geistesgegenwärtig, eine Kamera mitgebracht hatte, um den zu erwartenden historischen Moment zu verewigen. Rückblickend wüßte ich gerne, wie viele zukünftige Reporter, Photojournalisten, Fernsehproduzenten an diesem Nachmittag im Saal anwesend waren - Alexander Kluge befand sich nicht darunter, er holte Theodor W. Adorno lediglich von der Vorlesung ab.
Tatsächlich ein Schnappschuß, und schon wenige Tage später sollte er, zwischen Meldungen über den Hund von Willy Brandt (einen ungarischen Hirtenhund namens Husar) und das Ernährungsverhalten Herbert Wehners (zwei Platten Tatarschnittchen mit Zwiebeln obendrauf), im Spiegel veröffentlicht werden. Auf dem Bild sieht man, als handele es sich um ein Gemälde, das von einem mit der Komposition unzufriedenen Gerhard Richter noch vor dem entscheidenden Wischvorgang aussortiert wurde, nicht viel mehr als ein dynamisches Arrangement verzerrter Flecken. In Schwarz: Hosen, Anzug, Lederjacken. In leichten Grauabstufungen: Boden, Wände, dicht beschriebene Tafel. In reinem wie in schmutzigem Weiß: eine Hand, ein Kopf, zwei Brüste, die Leuchtröhren an der Decke.
Da meldet sich, wie aus dem Nichts, im Frühjahr 1999 ein bisher ungehörter Zeitzeuge zu Wort. Ein Fernsehproduzent, Zeithistoriker, Publizist und Moderator, Dokumentarspezialist oder als was auch immer er in den Medien bezeichnet wird. Kurzum, genau jener Mann, von dem die denkwürdige Erkenntnis stammt: »History ist kalt, analytisch. Memory ist warm, emotional.«
Was er zu berichten weiß, hätte für eine Sensation, wenn nicht für ein Erdbeben sorgen müssen, ginge in der Welt der Historiker alles mit rechten Dingen zu. Adorno-Spezialisten, Philosophiehistoriker und meinetwegen auch Emotionsforscher hätten aufhorchen müssen - nähmen sie denn Publikationen wie den Playboy, den Iserlohner Kreisanzeiger oder die Bayerische Staatszeitung zur Kenntnis, denen unser Zeitzeuge von seinem Studienbeginn an der...
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