Schweitzer Fachinformationen
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Elsa kann es nicht glauben. Sie steht vor dem schmiedeeisernen Zaun - wie fast jeden Tag, seit sie bei Frau Heidelbrecht wohnt - bereit, heimlich darüber zu klettern und sich in das verlassene Haus am Ende der Straße zu schleichen.
Elsa mag das verlassene Haus am Ende der Straße. Es ist aus Backstein, ein wenig windschief und riecht nach Abenteuer. Hier kann sie allein sein. Hier schreit niemand. Und sie kann diesen Blick vergessen, mit dem Frau Heidelbrecht sie manchmal ansieht. Wie ein Naserümpfen, nur eben in den Augen. Hier kann Elsa an die alte Decke starren, an der Spinnweben hängen und träumen. Wie sie es immer tut. Träumen von vergessenen Welten. Von Geschichten, die hinter ihren geschlossenen Augen leben.
Aber heute, an diesem neunten Oktober, ist das Haus verschwunden. Wie kann sich ein Haus in Luft auflösen? Sie blinzelt, hält die Hände vor die Augen, zieht sie wieder fort. Nichts passiert. Hinter dem Efeu, das den Zaun überwuchert, ist nichts zu sehen. Nur die Wiese und dahinter der dunkele Wald. Grübelnd macht sich Elsa auf den Heimweg, die Straße hinunter.
Zur selben Zeit verschwinden die beiden Katzen der alten Frau Pusch. Als Elsa im Mietshaus in der Valenberger Straße 66 ankommt, kann sie gerade noch hören, wie Frau Heidelbrecht im Treppenaufgang auf die Nachbarin, eine völlig aufgelöste Frau Pusch, einredet: "Katzen verschwinden nicht einfach so. Es tut mir sehr leid, aber ich fürchte, Sie müssen wohl damit rechnen, dass sie auf die Straße gelaufen sind. Und nun ja -" Den Rest des Satzes lässt sie gnädigerweise unausgesprochen.
Frau Pusch tut Elsa leid. Außer den beiden Katzen hat die alte Frau niemanden mehr, und auch wenn es wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit gewesen war, dass sie den Innenhof verlassen und auf die Straße laufen würden, mochte Elsa die beiden dicken grauen Katzen - auch wenn sie sich nie von ihr streicheln ließen.
Frau Heidelbrecht ist da anders. Katzen sind Katzen. Das Ganze ist sicherlich tragisch, aber so ist das eben. Man sieht ihr an, dass sie die schluchzende Alte in ihrer emotionalen Unbeherrschtheit (so würde es Frau Heidelbrecht ausdrücken) ganz und gar unverständlich findet.
Es ist ihr also ganz recht, dass Elsa in diesem Moment den Treppenaufgang hinaufkommt: "Da bist du ja! Abendessen ist schon seit einer halben Stunde fertig. Schnell jetzt!" Und mit einem kaum bemühten Grunzen des Abschieds in Richtung der alten Pusch zieht sie Elsa in die Wohnung und die Tür hinter sich zu. Elsa kann gerade noch hören, wie die noch immer aufgelöste Alte hinter ihnen murmelt: "Es ist ein seltsamer Oktober. Irgendwas war mit ihnen. Irgendwas. So unruhig."
Verschwindende Häuser und jetzt noch verschwindende Katzen? Irgendetwas geht an diesem seltsamen Donnerstag nicht mit rechten Dingen zu. Elsa hängt ihre Jacke an den Haken im Flur, zieht ihre geliebte weiße Strickjacke - die mit den roten Rosen darauf, zurecht - und folgt Frau Heidelbrecht in die Küche. Umgehend berichtet sie ihr von ihrer beunruhigenden Beobachtung.
Frau Heidelbrecht ist nun leider aber eine Dame, die für solcherlei obskure Beobachtungen keinerlei Verständnis hat: "Elsa, Liebes, da hast du dich versehen. Häuser verschwinden nicht einfach so." Und ihre Stimme erklärt in der Resolutheit eines physikalischen Gesetzes: Häuser verschwinden nicht. Einfach so. Genauso wenig wie Katzen.
Elsas "Aber" geht bereits in der wirschen Handbewegung unter, die zu Tisch befiehlt. Und das Abendbrot ist beileibe keine passende Gelegenheit, um über verschwindende Häuser zu sprechen (so zumindest Frau Heidelbrechts Überzeugung).
Nun ist es so, dass Frau Heidelbrecht keine übelmeinende Person ist. Sie kann durchaus akzeptieren, dass es "Individuen" gibt, die an Kornkreise glauben, an die prophetischen Fähigkeiten grüner Teeblätter oder an unglücksbringende schwarze Katzen. Es ist ihr selbst allerdings ganz und gar unmöglich, an Kornkreise zu glauben, an die prophetischen Fähigkeiten grüner Teeblätter oder an unglücksbringende schwarze Katzen. "Das", so pflegt Frau Heidelbrecht mit einem eindeutigen Rümpfen der Nase zu sagen, "ist Wolpertingerei." Trotzdem ist Frau Heidelbrecht durchaus ganz passabel, nur mangelt es ihr an Fantasie und Verträumtheit.
Ganz im Gegensatz zu Elsa, die es fertigbringt, sich regelmäßig in der Stadt zu verlaufen, einfach, weil sie diesen oder jenen Abzweig verpasst, so abwesend ist sie manchmal. Vergangene Woche war sie sogar - nicht zum ersten Mal - vom Bordstein gekippt (die Bordsteine in der Stadt sind an manchen Stellen so hoch, dass man Gefahr läuft, sich tatsächlich die Knochen zu brechen, sollte man von ihnen kippen). Für eine Person von beinahe siebzehn Jahren ist dieses Ungeschick natürlich keine Kleinigkeit.
Freunde hat Elsa keine. Die meisten in ihrem Alter reden über Jungs, die neueste Mode oder Musik. Elsa aber kann damit nichts anfangen. Sie verliert sich lieber in ihren Tagträumen. Ihr Desinteresse an den üblichen Mädchendingen ist aber natürlich nicht der einzige Grund, warum die meisten Leute einen großen Bogen um sie machen.
Elsa sieht etwas in den Dingen, das andere nicht sehen können - oder sehen wollen. Sie redet mit den Blättern im Herbst und toten Tauben im Rinnstein. Ihrer Meinung nach liegt dieses, von ihrer Umwelt als seltsam kategorisierte Verhalten nicht daran, dass sie in den letzten sechzehn Jahren ihres Lebens in verschiedenen Pflegefamilien an verschiedenen Orten gelebt hat und ohne ihre unbekannten, leiblichen Eltern aufgewachsen ist. Dem war entschieden nicht so. Denn Elsa hatte nicht das geringste Interesse daran, sie zu finden. Nach dem zu urteilen, was sie über die Jahre über sie herausgefunden hat, war es eine viel zu simple Geschichte: ein ungewolltes Kind, überforderte Eltern, zu wenig Geld und viel zu wenig Zukunft.
Es ist Elsa jedenfalls nicht schlecht ergangen. In den Pflegefamilien gab es Essen, Wärme und einen Tannenbaum mit Kerzen zu Weihnachten. Und Elsa bemühte sich sehr. Aber irgendetwas war falsch. Irgendetwas war immer falsch.
Es dauerte nie lange, bis sich die Gesichter beim Abendbrot von ihr abwandten, sich Blicke trafen, wenn sie sich unbeobachtet wähnten und dann war es nur noch eine Frage der Zeit, bis Fräulein Elsbeth, Elsas staatliche Betreuerin, sie mit einem Schulterklopfen, das wohl zu gleichen Teilen mitleidig und hoffnungsvoll wirken sollte, beiseite nahm: "Liebe Elsa, man hat mir versichert, dass es wirklich nichts mit dir zu tun hat. Du bist ein wunderbarer junger Mensch, voller Möglichkeiten und deine Zukunft steht dir -"
Nach "Zukunft" war Elsa meistens schon ganz woanders. Bei ihren Gesprächen mit den fallenden Blättern im Herbst oder mit den toten Tauben im Rinnstein. Oder bei dem seltsamen Vorkommnis damals auf dem Heimweg von der Schule, als ihr zwei Ameisen gefolgt waren. Ja, gefolgt. Sie weiß selbst recht gut, wie absurd sich diese Beobachtung ausnimmt.
Und zuerst hatte sie sich nichts dabei gedacht, als aus dem Rosenbusch im Vorgarten der Heinrichs zwei Ameisen hervorkrochen. Auch dann noch nichts, als die beiden Ameisen Elsa in gebührenden Abstand tippelnd hinterhereilten. Also blieb Elsa abrupt stehen, schloss die Augen und hielt den Atem an (manchmal half das gegen seltsame Ereignisse).
Als sie die Augen wieder öffnete und sich umdrehte, waren die zwei Ameisen noch immer da, und sie hätte schwören können, dass sie sie anstarrten. Auf dem schwarzen Rücken der Ameisen war jeweils ein roter Punkt, der aussah wie eine winzige Sonne.
Elsa beschloss, einfach weiterzugehen und sich nicht mehr umzusehen. Sie war da ungefähr neun. Zuhause angekommen berichtete sie die seltsame Begebenheit sofort ihren damaligen Pflegeeltern Herrn und Frau Enzelsberg. Zwei Wochen später klingelte Fräulein Elsbeth an der Tür.
Oder Elsa dachte an den Sommer der Ratten. Es war kurz vor ihrem dreizehnten Geburtstag gewesen, als ihr Fräulein Wollnase zulief.
Fräulein Wollnase war eine große, graue Ratte. Nur die Spitze ihrer Schnauze war weiß wie Baumwolle. Natürlich hat Fräulein Wollnase sich nicht selbst so genannt. Ihr eigentlicher Name war allerdings von solcher Länge und Komplexität, dass Elsa sie sofort umbenannte. Man muss nämlich wissen, dass Ratten höchst komplizierte Verwandtschaftsverhältnisse haben. Im ausgehenden 19. Jahrhundert - als durch die Industrialisierung die Zahl der Ratten in den Städten größer war als jemals zuvor - da beschloss das Außerordentliche Komitee der Rättischen Gemeinschaft, nur noch jene Rattennamen zu rattifizieren, in denen sich die Verwandtschaftsgrade zueinander widerspiegelten. Das war vor allem für die Heiratspolitik der Ratten von Vorteil.
Woher Elsa das alles wusste? Nun, Fräulein Wollnase hatte ihr davon erzählt. Und auch von den Kanälen und Tunneln unter der Stadt, von Schätzen in Mülltonnen und vergessenen Geheimnissen in Abfallbergen.
Während eines dieser Gespräche stürmte Frau Hebendanz, die Elsa gemeinsam mit ihrem Mann aufgenommen hatte, in das Zimmer, einen Besen in der Hand und Grauen in den Augen. Fräulein Wollnase ergriff die Flucht, Frau Hebendanz mit dem Besen hinterher und dahinter Elsa, schreiend.
Die Rättin erreichte glücklicherweise rechtzeitig das Loch in der Wohnzimmerwand. Elsa erklärte, dass Fräulein Wollnase ihr doch nur Gesellschaft geleistet hätte. Bei dem Namen "Fräulein Wollnase" zitterte die Hand, in der Frau Hebendanz den Besen hielt. Im Sommer der Ratten brauchte es nur eine Woche, bis Fräulein Elsbeth klingelte.
Frau Heidelbrecht aber ist anders als...
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