Schweitzer Fachinformationen
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Nicht alle Häuser träumen. Die meisten tun das nicht. Doch Two Oaks träumte. Es träumte wieder von den Mädchen - von dem Mädchen June, das schon eine junge Frau war, und von dem Mädchen Lindie, das wie ein Junge wirkte. In dem Traum lagen June und Lindie zusammen im Bett, oben an der Treppe in Junes Kinderzimmer.
Nur im Traum entkam Two Oaks seinem gegenwärtigen Zustand - dem Ballsaal unterm Dach, durch den die Fledermäuse flatterten, der verstaubten Prunktreppe hinunter in die Eingangshalle, in der sich die Briefe an eine Tote stapelten, den rohen Kiefernholzstufen der Gesindestiege wieder hinauf. Im Traum konnte die Villa sich vormachen, ihr stünden noch einmal ereignisreiche Tage bevor. Das alte Haus beschwor das Geflüster der Mädchen herauf, ihre Geheimnisse und Ideen, das Drängen von June mit ihrem starken Willen, das Ziehen von Lindie mit ihrer Sehnsucht.
Häuser, die träumen, sind für die Ewigkeit gebaut (in jeder amerikanischen Kleinstadt gibt es nicht mehr als eines oder zwei davon). Früher waren sie einmal Herrenhäuser, jetzt sind sie kaum mehr als Bruchbuden: säulenbewehrte Festungen an kleinen Nebensträßchen, auf die man beim Besuch ältlicher Tanten stößt; ein Anblick, bei dem man anerkennend pfeift, ein Handyfoto schießt und weiterfährt. Sie werden von Männern mit hochfliegenden Träumen errichtet, im Fall von Two Oaks war es der Ölmagnat Lemon Gray Neely, der im Jahr 1895 den ersten Spatenstich im Zentrum von St. Jude, Ohio, tun ließ. In jungen Jahren glauben diese Anwesen, dass sie, von begabten Baumeistern gestaltet und vor Stolz förmlich berstend, auf Jahrhunderte hinaus jedem Zuflucht bieten werden, der über ihre Eichenschwelle tritt.
Doch dann stehen sie, abgesehen von Besuchen vereinzelter Postboten oder Handwerker, jahrzehntelang leer, die Morgensonne wandert tausendmal über den schmutzigen Boden, und sie müssen die würdelose Bewucherung der Außenmauern durch Efeu ertragen, ganz zu schweigen von den an der Vertäfelung nagenden Mäusen. Schließlich akzeptieren sie die traurige Wahrheit: Man hat sie vergessen. Ihr Fundament wird immer schwerer unter den Erinnerungen an die bedeutenden Männer, die die Treppengeländer mit ihren warmen Händen poliert, an die fleißigen Frauen, die ein Hefebrot nach dem anderen in den Öfen gebacken, an die pfeifenden Lieferjungen, die ihre hellblauen Milchflaschen in die Milchklappe gestellt haben, und an die wilden Mädchen, die im Vollmondlicht die korinthischen Säulen hoch in den ersten Stock geklettert sind, auf der Suche nach neuen Abenteuern. Die prächtigen Häuser nehmen ihren Niedergang hin, verlieren sich in süßen Erinnerungen und vergessen ihren Platz in der Welt. Sie lassen die Schultern hängen, sacken auf einer Seite langsam ab und merken nicht einmal, wenn jemand mit einem Koffer und einem Stoß schwerer Kartons aus dem Schnee hereinkommt, die Chenille-Tagesdecke über der bequemsten Matratze zurückschlägt und eine Dose Eintopf auf der einzigen Flamme anbrennen lässt, die am Herd noch funktioniert.
Heutzutage war Two Oaks vielleicht einsam, aber es hatte immerhin glücklichere Zeiten gekannt. Im Gegensatz zu anderen Häusern war es einmal voller Leben gewesen. Wenigstens hatte es eine Lindie und eine June gehabt. Wie ein alter Retriever, der den Kopf zu Boden sinken lässt und den süßen Träumen an ein früheres Leben nachhängt - dem quicklebendigen kleinen Blondschopf, dem Lieblingsschuh, dem rauchigen Duft gebratenen Specks -, so kann auch ein dem Verfall überlassenes Haus seine Geschichte noch einmal Revue passieren lassen. Im Fall von Two Oaks gehörten dazu die dunkle, fürchterliche Nacht, in der Lindie einem Mann den Kopf einschlug, bis sie seine Hirnmasse an den Fingerspitzen spürte. Dazu gehörte aber auch der verheißungsvolle Glanz der Filmstars, der seidenglatte Galgenstrick, der sich um alles zuzog, was den Mädchen lieb und teuer geworden war, das leise Stöhnen unter gestohlenen Küssen und das Baby.
Cassie hatte noch nie von träumenden Häusern gehört; sie hätte sich gegen so eine Vorstellung verwehrt. Sie wusste nur, dass sie ungewöhnlich lebhafte Träume hatte, seit sie im Dezember nach St. Jude, Ohio, gekommen war. Sie hatte Zuflucht im Haus ihrer Großmutter gesucht, wie sie es immer noch nannte - der Name »Two Oaks« kam ihr überkandidelt vor, und dass es jetzt ihres war, vergaß sie immer wieder. Cassie steckte mit ihren fünfundzwanzig Jahren in einer tiefen Lebenskrise; das Haus war ihr wie eine praktische Notlösung vorgekommen: eine Wohnmöglichkeit, als kurz vor Weihnachten klar geworden war, dass sie aus Jims Loft in Williamsburg im Speziellen und New York im Allgemeinen verschwinden musste. Sie hatte noch nie in Two Oaks gewohnt, und auch ihre Großmutter hatte hier nur noch wenig Zeit verbracht, nachdem sie nach Columbus gezogen war, um Cassie großzuziehen.
Die rostige Zentralheizung im Keller war kaputt, genau wie das Dach und der Herd und Gott weiß, was sonst noch. Der ergraute Handwerker, den sie am ersten Morgen kommen ließ, schusterte eine provisorische Notlösung zusammen, sodass wenigstens die Rohre nicht einfroren, lieh ihr einen Heizlüfter und empfahl ihr, baldmöglichst einen Fachmann zu rufen. Mittlerweile war Juni, und Cassie hatte sich immer noch nicht darum gekümmert. Die Rohre waren zwar nicht eingefroren, aber das war reines Glück gewesen, und sie wusste genau, dass sie sich nicht auf dieses Glück verlassen sollte. Das Dach war an manchen Stellen, nun ja, mitgenommen; wenn sie ganz ehrlich war, leckte es, besonders in einer der Abstellkammern neben dem Ballsaal. Die Tür einfach nicht aufzumachen war vermutlich kein besonders erwachsener Umgang mit der Situation. Auch dass man im Keller durch einen Riss im Fundament das Tageslicht sehen konnte, war kein allzu gutes Zeichen. Viel verstand Cassie nicht von Häusern, aber die Lage war ernst, das stand fest. Jeden Tag wachte Cassie mit dem Vorsatz auf, ein Bauunternehmen anzurufen. Sie müsste lediglich den Hörer des altmodischen Tischfernsprechers im halbrunden Arbeitszimmer auf der Vorderseite des Hauses abnehmen, den Zeigefinger in die Wählscheibe stecken, drehen, einen freundlichen, aber bestimmten Tonfall anschlagen und eine Handvoll Fachleute zu Hilfe rufen. Jeden Tag beobachtete sie sich dabei, wie sie es nicht tat. Vielleicht zum Teil, weil sie es sich nicht leisten konnte - dabei wusste sie ja gar nicht, wie viel Geld sie noch hatte. Seit sie im November die auf dem Konto ihrer Oma verbliebenen vierzehntausend Dollar geerbt - ein Schock, denn sie hatte mit viel mehr gerechnet - und mittels ihres inzwischen vernachlässigten E-Mail-Accounts automatische Abbuchungen eingerichtet hatte, hatte sie sich um keine Rechnung, keinen Brief und keinen Anruf mehr gekümmert.
Richtig sympathisch war ihr dieser Charakterzug nicht, und auf einen Winter in einem eiskalten Haus hatte sie auch keine Lust. Cassie zwang sich sogar täglich daran zu denken, wie scheußlich das Erwachen mit eiskalter Nase und rauem Hals gewesen war. Sie verbrachte einen nicht unerheblichen Teil ihres Tages mit Sorgen über die durchfeuchtete Decke in der Abstellkammer direkt über ihrem Bett. Aber sie schaffte es einfach nicht, zum Hörer zu greifen. Vielleicht glaubte sie unbewusst, das Einfrieren der Rohre und der Einsturz des Daches seien genau die richtige Strafe dafür, dass sie Jim verlassen und ihrer Großmutter das Herz gebrochen hatte, weil sie aus lauter Dummheit und Arroganz nicht mitbekommen hatte, dass die alte Frau im Sterben lag.
Den lebhaften Träumen, die ihr Two Oaks bescherte, war es zu verdanken, dass sie Grundbedürfnisse wie Wärme und ein heiles Dach über dem Kopf ignorieren konnte. Cassie kannte den Ursprung der Träume nicht - genau wie die meisten Menschen war sie überzeugt, dass sie ihrem Unterbewussten entstammten. Aber die nächtlichen Dramen waren wesentlich besser als alles, was ihr waches Leben an jenen dunklen Wintertagen zu bieten hatte. Im April, als sich die wild wuchernde Flora vor den Fenstern in hundert verschiedenen Smaragdtönen färbte, schlief Cassie bereits vierzehn, sechzehn Stunden am Tag.
Das Haus richtete sich in seinem tiefen, honigbraunen Schlaf ein und nahm Cassie mit unter seine schläfrigen Fittiche. Selten einmal wurde es durch ein Niesen oder einen zerspringenden Teller dazu gezwungen, das Menschenwesen in seiner Mitte zu bemerken; Cassies Anwesenheit war sicher vorübergehend wie die unter den Dachsparren nistenden Grackeln oder die Beutelrattenfamilie, die in der Milchklappe hauste. Die Jahreszeiten kamen und gingen, und das Mädchen würde auch bald wieder verschwunden sein.
Der Traum von June und Lindie, den Two Oaks und Cassie zusammen träumten, ging so:
Der Juni war da....
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