Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Franziska Tiburtius: Examen in Zürich, Ärztin in Berlin – Bürgerinnen im neuen Reich – Hedwig Dohm: Menschenrechte haben kein Geschlecht – Professor Treitschke: Gegen Frauen und Juden – Erste weibliche Poliklinik
Aufgebrochen war sie weit im Osten, von der Insel Rügen, wo sie den Bruder gesundpflegte, der sich ein Jahr zuvor, mitten im deutsch-französischen Krieg, als Militärarzt mit Typhus angesteckt hatte. Es war ein »melancholischer« Tag im Herbst 1871, als Franziska Tiburtius quer durch Deutschland in Richtung Südwesten fuhr, am Schwarzwald den Rhein entlang nach Süden. Der Tag »ging in einen finstern, sternenlosen Abend über, als der Zug in den Bahnhof von Zürich einfuhr«, schreibt sie Jahrzehnte später im Rückblick auf ihr Leben. Am nächsten Morgen war der Blick frei auf den See und die Weite der Berge – »also vorwärts«.
Erinnerungen hatten die lange Bahnfahrt begleitet. In der Rückschau sah Franziska Tiburtius »jenes kleine braune Ding mit den fliegenden Zöpfen, wehendem Kleidchen und flinken Beinen, das wie ein getreuer Pudel hinter einer ganzen Schar Knaben und Mädchen herläuft, die über den Gutshof rasen …« und fragte sich, »ob ich das wirklich bin«. Es war eine Kindheit auf dem väterlichen Gut nahe dem berühmten Kap Arkona von Rügen, und sie das jüngste von neun Geschwistern. Der Wunsch war stark, zu lernen und sich zu beweisen, und da blieb für eine junge Frau kaum eine Wahl: Sie ging hinaus als Erzieherin, erst auf das pommersche Festland, dann, im Frühjahr 1870, zu einer Familie nach England, das war schon etwas Besonderes. Zwischen ihr und dem älteren Bruder gingen Briefe hin und her, und irgendwann deutete er vorsichtig an, dass sie ebenso wie er Talent zum ärztlichen Beruf habe.
Nein, dachte sie lange, »ich kann es nicht. Das geht nicht«. Kein weiteres Nachdenken. Aber dann lernte sie eine Kollegin ihres Bruders kennen, die in den USA das Zahnarztexamen bestanden hatte, und zurück in Deutschland, wo Frauen Abitur und Studium verboten waren, nach zähem Verhandeln die Approbation erlangte und in Berlin eine Praxis aufmachte. Als Henriette Tiburtius wird die Kollegin wenig später Franziskas Schwägerin und mit dem gelebten Beispiel ermutigt sie Franziska, etwas zu wagen, das zwar nicht in Deutschland, aber innerhalb Europas in der Schweiz realisierbar war.
An der Universität Zürich, 1833 gegründet, dürfen Frauen seit 1864 studieren. Drei Jahre später legte die erste Studentin, eine Russin, ihr Medizinexamen ab. Franziska Tiburtius ist 1871 eine von 21 Studentinnen in Zürich, 1872 werden es schon 112 sein. Die Achtundzwanzigjährige wird bei der Immatrikulation vom Rektor persönlich freundlich begrüßt, akzeptiert die Studenten-Regel, nachts keinen Lärm auf den Straßen zu machen, ein Handschlag, »und die Sache war abgetan«.
Beim ersten Erscheinen im Präpariersaal wurde es unangenehm für die wenigen Studentinnen inmitten der männlichen Übermacht: Geschrei, Gejohle, Pfiffe. Als der Professor erscheint, erwartet die Studenten ein Donnerwetter, dass ihnen der Spott für immer vergeht. Von nun an begleitet Wohlwollen die Frauen bei ihrem Studium und gerechte Behandlung. Franziska Tiburtius bleiben die folgenden fünf Studienjahre in Zürich »hell und leuchtend« in Erinnerung.
Vor allem, weil sich gleich in den ersten Tagen eine dauerhafte Freundschaft zwischen ihr und Emilie Lehmus entwickelte. Die Dreißigjährige kam aus einem Pfarrhaus in Fürth und hatte schon ein Zürcher Jahr als erste deutsche Medizinstudentin hinter sich. Die beiden Frauen arbeiteten diszipliniert zusammen und genossen an den Sonntagen die Umgebung: »Wir waren beide gut zu Fuß, liebten das Wandern …. in irgendeinem Bauernhaus gab es wohl Brot und Milch und Käse oder gute Butter. – Abends zum See zurück, um noch den Anschluss an einen Dampfer zu gewinnen, den ›Lumpensammler‹, der die verspäteten Ausflügler heimbrachte.« Es war ein glückliches, freies Leben im Schatten umwälzender politischer Veränderungen.
Als Tiburtius und Lehmus sich im Herbst 1871 in Zürich treffen, ist die eine, aus Rügen gebürtig, eine Staatsangehörige im Königreich Preußen, die andere hat die Staatsbürgerschaft des Königreiches Bayern, in dem Fürth lag. Dass sie Deutsche sind, ist mit keinem offiziellen Papier belegt, sondern eine diffuse Bezeichnung aus gemeinsamer Vergangenheit, als diese beiden Länder zum Heiligen Römischen Reich deutscher Nation gehörten, das unter dem Ansturm Napoleons 1804 auseinandergebrochen war. Als die beiden Frauen ihr Studium begannen, hatte der preußische Kanzler Otto von Bismarck gerade durch »Eisen und Blut« sein Ziel glorios erreicht: die deutsche Einheit. Nach dem siegreichen Krieg gegen Österreich 1866, war am 2. September 1870 Frankreich von einem gemeinsamen deutschen Heer unter preußischer Führung bei Sedan vernichtend geschlagen worden. Nun gab es auf dem Kontinent kein Land mehr, das sich einem einheitlichen Deutschen Reich widersetzen würde.
Franziska Tiburtius geht 1871 als eine der ersten deutschen Frauen zum Medizinstudium nach Zürich, weil in Deutschland Frauen nicht studieren dürfen. 1876 eröffnet sie in Berlin eine Praxis, 1898 wird sie mit anderen berufstätigen Frauen den ersten Berliner Frauenclub gründen.
Überall in Deutschland brach Jubel aus über den nationalen Kreuzzug. Bei einer Siegesfeier in Leipzig im Neuen Theater stimmte am 3. September der Prolog in die nationale Begeisterung ein: »Gott hat gerichtet! Unser ist der Sieg! / Voll Lorbeern blühen die Gräber unserer Toten … es sind / Der ganzen Weltgeschichte größte Wochen!« In Berlin verkündete am nächsten Tag die Vossische Zeitung, das sei »der endliche Sieg der Wahrheit über die Lüge, … der Sittlichkeit über die Verdorbenheit, der Gesundheit über die moralische Fäulnis«. Der evangelische Pastor Friedrich von Bodelschwingh, Gründer der Anstalten in Bethel für chronisch Kranke und Behinderte, wird für den »Sedanstag« als nationalen Feiertag werben, weil an jenem Tag »die Hand des lebendigen Gottes so sichtbar und kräftig in die Geschichte eingegriffen« hat. Die sozialdemokratischen Zeitungen distanzierten sich vom »Preußenhass« einiger weniger »Vaterlandsverräter« und waren vom nationalen Gedanken »beseelt«. Nur die Katholiken standen voller Misstrauen abseits und erwarteten nichts Gutes von der preußisch-protestantischen Dominanz, wenngleich sich auch das katholische Bayern in das neue Deutsche Reich eingliederte.
Kühl kalkulierend schaffte es Bismarck in den folgenden Wochen und Monaten, auf der Woge nationaler Begeisterung und mit zähen Verhandlungen aus den deutschen Königreichen, Fürstentümern und Stadtstaaten erstmals einen einheitlichen deutschen Staat zu zimmern. Eingegangen in das kollektive historische Gedächtnis der Deutschen ist der 18. Januar 1871, als im eiskalten Spiegelsaal zu Versailles, dem Symbol einstiger französischer Größe, der preußische König zum deutschen Kaiser ausgerufen wurde. Kein Abgesandter eines Parlamentes der deutschen Länder war zugegen, dafür prägen über sechshundert Offiziere in bunten Uniformen und glänzend schwarzen Stiefeln das Bild. Noch war Krieg, und die deutschen Armeen belagerten Paris. Doch nur zehn Tage später musste Frankreich in einen Waffenstillstand einwilligen und am 10. Mai 1871 in Frankfurt am Main den endgültigen Friedensvertrag unterzeichnen. Am 28. Juni rollte in Berlin ein Zug mit neun Eisenbahnwagen ein, beladen mit der ersten Rate von insgesamt fünf Milliarden Goldfrancs Kriegsentschädigung, die das besiegte Frankreich zu zahlen sich verpflichtet hatte.
Am 10. Dezember 1871 war das Werk der nationalen Einheit vollendet: Der Norddeutsche Reichstag, das entscheidende Gremium, nimmt die Verfassung des Deutschen Reiches an, mit dem preußischen König als deutschem Kaiser. Als Kaiser wird er den Reichskanzler ernennen, – das neue gesamtdeutsche Parlament, der von Männern gewählte Reichstag, hat keinen Einfluss darauf. Der Reichskanzler wird auch immer preußischer Kanzler sein. Otto von Bismarck übernimmt als erster beide Ämter. Die nationale Einheit, ein Ziel der gescheiterten Revolution von 1848, ist endlich erreicht, auch wenn die schwarz-rot-goldene Flagge, die für Freiheit und Demokratie steht, vom neuen Deutschen Reich nicht übernommen wird. Bismarck hält von beidem nichts. Das Deutsche Reich hat am Anfang auch keine einheitliche Hymne. Dennoch: Die beiden deutschen Frauen, die mit ihrem Medizinstudium am Anfang der 1870er Jahre in Zürich einen »Sprung ins Dunkle« ohne jedes Vorbild wagen, werden in ein verändertes Vaterland zurückkehren.
Emilie Lehmus, in Zürich 1875 zum Dr. med. promoviert, zählt mit Franziska Tiburtius zu den ersten Ärztinnen in Deutschland. Die beiden gründen, obwohl ihnen die Approbation verweigert wird, in Berlin die erste Poliklinik für Frauen.
Der Jubel um die siegreich heimkehrenden Soldaten und um das neue deutsche Kaiserreich war bei den Deutschen nahtlos übergegangen in den Taumel um das Goldene Kalb, der fast die gesamte Bevölkerung erfasst hatte: Gründerzeit heißt die kurze Spanne Zeit zwischen Sommer 1871 und Frühjahr 1873 und das ist wörtlich zu nehmen. Es wird gegründet, was das Zeug hält: Aktiengesellschaften, hinter denen sich windige Klitschen verstecken oder die nur auf dem Papier existieren, werden angepriesen als gewinnträchtige Zukunftsinvestitionen. Die Milliarden Goldfrancs Kriegsentschädigung aus Frankreich...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.