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Am Rathaus von Friedland im Herzogtum Mecklenburg-Strelitz kam niemand vorbei. Nachdem 1703 wieder einmal ein verheerender Brand in dem schmucken mittelalterlichen Städtchen ausgebrochen war und neben vielen Häusern auch das Rathaus in Schutt und Asche verwandelt hatte, prägte seit 1803 ein Neubau mit breitem Walmdach und spitzem Turm den Markt von Friedland, in dessen Mauern knapp viertausend Menschen lebten. Und niemand, der über den Markt ging und das Rathaus im Blick hatte, konnte die Ratsapotheke übersehen, die seit 1658 linker Hand fast Wand an Wand an das kommunale Zentrum anschloss. Wer hier einzog, hatte das Apothekenmonopol für die Stadt und musste keine Konkurrenz fürchten.
Am 14. Mai 1812 wurde in der Ratsapotheke von Friedland ein Mädchen geboren und wenige Tage darauf in der nahen Marienkirche, einem mächtigen gotischen Backsteinbau, der wuchtige graue Taufstein aus dem 14. Jahrhundert steht heute noch rechts vom Altar, auf den Namen Emilie Louise Friederika getauft - mitten hinein in eine turbulente, von Not, Hass und Krieg geprägte Zeit.
Die persönliche Geschichte der Familie des Ratsapothekers Johann August Friedrich Mayer ist typisch für eine Zeit, in der die Lebenserwartung in Ost- und Westpreußen im Durchschnitt bei 24,7 Jahren lag, in der Rheinprovinz bei immerhin 29,8. Noch im Jahr seiner ersten Heirat wurde 1804 der Sohn Friedrich August geboren. Im November 1805 kam eine Tochter zur Welt; sie starb im April 1806. Im September verlor der zweijährige Sohn seine Mutter, der Ratsapotheker seine Frau. Im Frühjahr 1809 heiratete der zweiunddreißigjährige Johann August Friedrich Mayer zum zweiten Mal, die neunzehnjährige Henrietta Carolina Louisa. Ihr erstes Kind, Carl Friedrich Eduard, wurde im März 1811 geboren; Emilie - wie sie sich später nannte - war 1812 das zweite. Im Jahresrhythmus folgten Alexander Friedrich Wilhelm und am 21. August 1814 Henriette Caroline Louise. Nur vier Tage nach der Geburt stirbt die Mutter der vier Kinder. Der Vater muss zum zweiten Mal dem Sarg seiner Frau zum Friedhof vor dem Anklamer Tor folgen, das die Stadtmauer nach Osten abschließt.
Der Ratsapotheker wird sofort eine Frau als mütterlichen Ersatz für die vier kleinen Kinder aus der zweiten Ehe ins Haus geholt haben. Emilie ist zwei Jahre und drei Monate alt, als ihre Mutter stirbt; der jüngere Bruder knapp anderthalb, die Schwester ein Baby von fünf Tagen und der Halbbruder aus erster Ehe neun Jahre alt. Der Vater wird nicht wieder heiraten. Schließt man aus den engen Beziehungen, die die erwachsenen Geschwister lebenslang miteinander teilten, auf Emilies Kindheit, dann haben die schmerzlichen Verluste alle Geschwister emotional fest verbunden.
Es war nicht so, dass der frühe Tod nur Bürger und Bauern heimsuchte. Auch an den Hochgeborenen von Adel, die auf den Thronen saßen, mit Macht und Reichtum gesegnet, ging er nicht vorbei. Vier Jahre zuvor war 1810 Luise von Preußen gestorben, vierunddreißig Jahre alt, schon zu Lebzeiten vom Romantiker August Wilhelm Schlegel als »Königin der Herzen« gepriesen. Den Friedländern stand sie besonders nahe, denn die geborene Prinzessin von Mecklenburg-Strelitz war eine Tochter ihres Landesvaters. Zehn Kinder verloren ihre Mutter, der königliche Gemahl versank in tiefe Depressionen.
Doch dem Preußenkönig blieb keine Zeit zum Trauern. Napoleon, der nach blutigen Schlachten 1805 in Wien und 1806 in Berlin als Sieger eingezogen war, beherrschte Europas Politik. Im Februar 1812 musste Preußen der französischen Armee das Durchmarschrecht nach Osten zugestehen, dazu Verpflegung, Munition und 12.000 Soldaten, weil Napoleon endlich das Reich des russischen Zaren erobern wollte. Emilie Mayer war wenige Tage alt, als der Kaiser Frankreichs Ende Mai an der Spitze einer riesigen Armee Richtung Moskau zog.
Im Juni 1812 erreichten rund 300.000 Soldaten Napoleons Ostpreußen; auch die Ackerbürgerstadt Friedland blieb von der daraus folgenden Katastrophe nicht verschont. Viele Bürger hielten Tiere innerhalb der Stadt und besaßen Ackerland vor den Toren. Die französischen Generäle forderten für ihre Soldaten gnadenlos ein, was ihnen nach dem Vertrag zustand: eine umfassende Verpflegung. Bald brach die Versorgung der einheimischen Bevölkerung zusammen. Auf den Landstraßen lagen tote Pferde; was vom Viehbestand noch am Leben war, versteckten die Bauern in den Wäldern. Die feindlichen Soldaten plünderten auf eigene Faust; auch Apotheken blieben nicht verschont. Als die Soldaten Napoleons weiter nach Osten zogen, ließen sie eine verbitterte, von Hass erfüllte Bevölkerung zurück.
Das Jahr 1812 war kaum zu Ende, da zogen die selbstbewussten Eroberer von gestern wieder durch Ostpreußen, diesmal im eisigen Winter auf dem Rückzug von Ost nach West - zerlumpte, verhungerte, humpelnde Gestalten, denen nicht selten Arme oder Beine fehlten. Auch in Friedland wird die Bevölkerung diesen Elendszug mit hämischer Freude wahrgenommen haben. Erbarmen gab es nicht für die von Russland geschlagenen Soldaten Napoleons, denen der Zar mit seinen Truppen nachsetzte, um der Herrschaft Napoleons über Europa den Todesstoß zu versetzen.
Friedrich Wilhelm III. von Preußen konnte mit großer Zustimmung rechnen, als er am 16. März 1813, von den sogenannten »Patrioten« unter hohen Militärs, Beamten und Intellektuellen bedrängt, Napoleon den Krieg erklärte und einen Aufruf »An mein Volk« erließ. Das war ein neuer Ton im feudaladligen Staat, der nur Untertanen kannte. Die gebildete männliche Jugend zog begeistert gegen den Tyrannen aus Frankreich und für ein freies Deutschland in die Schlacht. Die Reformer in Preußen hofften, endlich Neuerungen in Wirtschaft und Gesellschaft, Verwaltung und Verfassung durchzusetzen, und die Grundlagen für einen modernen Bürgerstaat zu schaffen.
Von den Kindern des Ratsapothekers in Friedland bekam wahrscheinlich Friedrich August, der mit Abstand Älteste, etwas mit von der äußeren Unruhe, wenn er vom Markt in die 1370 erstmals erwähnte Gelehrtenschule ging. Seit 1805 war sie offiziell ein Gymnasium und steht heute noch gegenüber vom Hauptportal der Marienkirche. Aber so klein seine Halbgeschwister auch waren, die ganze Familie wird etwas von den katastrophalen Zuständen vor der Haustüre gespürt haben. Vielleicht gab es für die Kleinen ein bisschen Abwechslung von der bedrückenden Atmosphäre, wenn sie mit den Dienstboten die wenigen Schritte zur »Wasserkunst« gehen durften, die bis 1839 den Marktplatz zierte: ein Brunnen mit einer Säule, die Neptun und vier Delphine zeigte, und aus dem die Bevölkerung gutes Trinkwasser schöpfte. (Die erste Wasserleitung wurde in Friedland 1886 gelegt.)
Als Emilie fünf Jahre alt war, traf der Vater eine Entscheidung, die in bürgerlichen Kreisen seit Jahrzehnten zum guten Ton gehörte. Ratsapotheker Mayer verkörperte mit den evangelischen Pfarrern und den Lehrern des Gymnasiums das Bildungsbürgertum von Friedland. Als wesentliches Merkmal des bürgerlichen Lebens hatte sich seit dem Ende des 18. Jahrhundert die Liebe zur Musik entwickelt. Sie war nicht länger ein Privileg der adligen Höfe, sondern wurde im bürgerlichen Ambiente gepflegt. Als ideales Musikinstrument stand bald ein Klavier in jedem bürgerlichen Wohnzimmer und Salon. Ein Statussymbol, an dem die Töchter des Hauses viele Stunden verbrachten. Denn die Musik, so heißt es in »Amaliens Erholungsstunden«, der ersten feministischen Frauenzeitschrift, die die Schriftstellerin und Journalistin Marianne Ehrmann 1790 in Stuttgart gegründet hatte, ist »eine der reizendsten, schönsten Beschäftigungen für Leute von Herz und Geschmack.« Man findet »gar nicht mehr leicht ein Mädchen aus dem Mittelstande, das sich ihr nicht, mit oder ohne Anlage, gewidmet hat«. Auch Emilie Mayer sollte Klavierspielen lernen.
Im Gegensatz zu Frankreich, wo lange schon Frauen als bezahlte Profis am Klavier unterrichteten, waren Klavierlehrerinnen, aber auch ihre männlichen Pendants, in Deutschland bis weit ins 19. Jahrhundert Mangelware. Wie es der Tradition entsprach, wählte Apotheker Mayer für seine Tochter einen Musiker, der sich im kirchlichen Dienst bewährt hatte: »In Friedland . erhielt ich den ersten Clavir-Unterricht bei einem Küster Namens Driver«. So beginnt Emilie Mayer eine beruflich-biografische Skizze, mit der sie 1870 in einem Brief an den Musikkritiker und Komponisten Wilhelm Tappert ihren Weg als Komponistin zusammenfasst. Das Schreiben liegt seit 1918 mit insgesamt neun ihrer erhaltenen Briefen in der Staatsbibliothek von Berlin; aber bisher sind zentrale Passagen daraus nicht veröffentlicht worden. Gut möglich, dass sich in den Wohnräumen der Ratsapotheke ein Klavier befand, auf dem schon die verstorbenen Frauen des Apothekers gespielt hatten.
Als Carl Heinrich Ernst Driver 1817 in der Ratsapotheke seinen Unterricht begann, hatte er die anfängliche Küsterstelle schon...
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