Schweitzer Fachinformationen
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Am Dienstag, dem 14. Oktober 1980, um Viertel nach sechs abends, saß der neunjährige Melchior auf der obersten Stufe der vierstufigen Treppe vor einem gepflegten alten Haus in der Junkerngasse. Er verweilte oft dort und grüßte die vorbeigehenden Passanten freundlich. Diejenigen, die ihn kannten, erwiderten seinen Gruß herzlich.
Trotz seinem leichten Autismus konnte Melchior gut mit anderen Menschen kommunizieren. Er war bekannt für seine ausgeprägte Neugier, besonders wenn jemand das Haus betreten wollte. Dann fragte er stets: »Wen möchtest du besuchen? Ich kenne alle Bewohner hier.«
Die meisten reagierten höflich auf Melchiors Begrüßung. Da tauchte ein großer, stämmiger Mann in blauen Arbeitskleidern vor dem Eingang auf und sprach grob: »Geh mir aus dem Weg, du dummer Junge.«
Melchior hatte diesen Mann noch nie zuvor gesehen. Er erhob sich und trat auf den Vorplatz, blieb jedoch in der Nähe, sodass er den Eingang weiterhin im Auge behalten konnte.
Wenig später kam der nächste Besucher zum Haus. Melchior kannte ihn und hieß ihn freudig willkommen. »Guten Abend, Herr Doktor. Eben hat mich ein unhöflicher Herr vertrieben. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Wollte er etwa in eine Wohnung einbrechen, vielleicht sogar in Ihre?«
»Vor einer halben Stunde habe ich einen Anruf erhalten, dass es ein Leck in einer Wasserleitung in meiner Wohnung gibt. Ich war gerade mitten in einer Operation, aber glücklicherweise konnte mein Kollege, der mir assistierte, übernehmen. Kannst du mir bitte sagen, wie der Mann gekleidet war?«
»Er sah aus wie ein Handwerker, mit einer blauen Jacke und weiten blauen Hosen.«
»Schon gut, er kam, um einen Wasserschaden in meiner Wohnung zu verhindern.«
Es dauerte eine Weile, bis der Mann in Blau mit einem großen, länglichen schwarzen Sack, den er über die linke Schulter geworfen hatte, das Haus wieder verließ.
Melchior ging nach Hause in das Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite und erzählte seiner Mutter, was er beobachtet hatte. Sie beruhigte Melchior und sah darin nichts Außergewöhnliches.
Am nächsten Tag hörte sie im Radio vor den Mittagsnachrichten die Meldung:
Die Stadtpolizei Bern teilt mit:
Seit gestern Abend, dem 14. Oktober 1980, wird Dr. Pedro Gyger vermisst. Er meldete sich gegen 18 Uhr in der Frauenabteilung des Inselspitals ab und gab an, wegen eines Wasserschadens umgehend in seine Wohnung an der Junkerngasse zu müssen.
Vor halb sieben wurde Gyger von einer Krankenschwester der Frauenklinik beobachtet, als er das Tram an der Haltestelle Zytglogge verließ und zu Fuß in Richtung Altstadt ging. Seitdem besteht kein Kontakt mehr zu ihm.
Die Ermittlungen haben ergeben, dass der Telefonanruf eine Falschmeldung war. Die Wasserleitung war nicht beschädigt und musste nicht repariert werden.
Pedro Gyger ist schlank, etwa einen Meter achtzig groß, hat schwarze Haare und trägt eine Brille. Er spricht Deutsch, Französisch, Englisch und Spanisch. Wenn Sie ihn sehen, bitten wir Sie, ihn behutsam anzuhalten und umgehend die nächste Polizeistation zu informieren.
Melchiors Mutter war wie elektrisiert.
»Melchior, zieh dich schnell um, wir müssen sofort zur Polizeiwache am Waisenhausplatz gehen.«
Melchior erkundigte sich, was er anziehen solle.
»Die rote Jacke und die Halbschuhe«, antwortete sie. Auch sie müsse sich noch fertig machen für diesen Besuch. »In einer Viertelstunde gehen wir los.«
»Mit dem Trolleybus?«, fragte Melchior.
»Nein, zu Fuß.«
»Warum müssen wir dorthin?«
Auf dem Weg bereitete Katharina Bratschi ihren Sohn auf das Treffen bei der Polizei vor. Es habe mit dem gestrigen Eindringen des Mannes in Handwerkerbekleidung in das Haus gegenüber zu tun. Ein oder mehrere Polizisten würden ihn fragen, was er genau gesehen habe. »Erinnerst du dich noch daran?«
Melchior versicherte, dass er sich noch genau an alles erinnere. Er würde die Wahrheit sagen und nichts erfinden.
Genau darum gehe es, erklärte die Mutter. Die Polizisten, die ihn befragen würden, wollten nicht wissen, was er darüber denke, sondern lediglich, was er gesehen habe.
Es war kurz nach ein Uhr mittags, als Melchior und seine Mutter bei der Polizeiwache Waisenhaus ankamen. Am Empfang trafen sie auf einen Polizisten, der überrascht war, als sie ihm den Grund ihres Besuchs erklärten.
»Interessant«, murmelte er und griff zum Telefon. Nach einem kurzen Gespräch sagte er: »Jemand wird Sie gleich abholen und zum Wachtmeister der Kriminalabteilung bringen.«
»Kriminalabteilung?«, fragte Melchior seine Mutter leise.
Sie überlegte einen Moment. »Diese Abteilung behandelt Verbrechen, das sind sehr ernste Angelegenheiten.«
Eine junge Frau in Zivil erschien, die sie zum Büro des Wachtmeisters führte. Die Tür war mit »Wachtmeister Theophil Leibundgut« beschriftet.
Leibundgut begrüßte die beiden. »Was habt ihr mir Wichtiges zu berichten?«
Melchior fing sofort an zu sprechen, doch die Mutter legte ihm die Hand auf den Mund. »Lass mich reden und beantworte anschließend die Fragen, die Herr Leibundgut dir stellen wird.«
Leibundgut lächelte und nickte. Frau Bratschi schilderte ihm, was Melchior ihr berichtet hatte.
Mit einem freundlichen Blick musterte Leibundgut Melchior. »War der Mann groß oder klein?«
»Er war sehr groß.«
»Wie groß etwa? Größer als ich?« Er stand auf und stellte sich neben das Pult.
Melchior überlegte. »Vor dem Haus, wo Dr. Gyger wohnt, hat es einen Laternenpfahl. Als der Mann dort vorbeilief, habe ich mir gemerkt, wie groß er ist.«
Leibundgut kniff die Augen zusammen. »Wie bitte? Das musst du mir erklären.«
Hilfesuchend sah Melchior zu seiner Mutter.
»An diesem Pfahl klebt ein roter Aufkleber mit der Abstimmungsparole >Nein<«, sagte sie.
»Ja«, rief Melchior aus. »Der Kopf ragte ein wenig über den roten Aufkleber hinaus.«
Leibundgut notierte etwas auf seinem Blatt. »Die nächste Frage, Melchior. War er dick oder dünn?«
»Der Mann war dick und hatte einen Bierbauch.«
»Trug der Mann einen Rucksack oder eine Tasche?«
»Er trug keinen Rucksack, aber eine Tasche, als er reinging.«
»Wie sah die Tasche aus? Welche Farbe hatte sie? Wie groß war sie?«
»Es war eine graue Tasche.« Melchior breitete dabei seine Arme aus, um die Größe zu verdeutlichen. »Etwa so breit und so hoch.«
»Ziemlich groß, oder? War etwas in der Tasche?«
»Das konnte ich nicht sehen.«
»Welche Farbe hatte der längliche Sack, den der Mann trug, als er das Haus verließ?«
Melchior dachte eine Weile nach. »Ganz dunkel oder schwarz.«
»Sehr gut«, sagte Leibundgut. »Ich werde euch jetzt nach Hause fahren, und wir werden uns diesen Laternenpfahl anschauen.«
»Mit dem Polizeiauto?«, fragte Melchior.
»Ja, mit einem Streifenwagen.«
Melchiors Augen leuchteten.
Angekommen an der Junkerngasse, untersuchten Leibundgut und Melchior die Laterne. Leibundgut maß den Abstand zwischen dem Boden und dem Aufkleber. Es waren ungefähr einen Meter achtzig.
»Wie viel ragte der obere Teil des Kopfes über den roten Kleber hinaus?«, fragte Leibundgut.
Melchior zeigte es mit Daumen und Zeigefinger.
»Etwa fünf bis zehn Zentimeter«, schätzte Leibundgut. »Der Mann ist ungefähr eins fünfundachtzig bis eins neunzig groß.«
Leibundgut bedankte sich bei Melchior liebenswürdig und verabschiedete sich.
Für Wachtmeister Leibundgut waren die Informationen wichtig genug, um sie dem Staatsanwalt und Untersuchungsrichter Johannes Felber vorzulegen. Er verfasste einen Bericht und übergab ihn Felber bereits am späten Nachmittag.
Felber erinnerte Leibundgut daran, dass die Ermittlungen zwar in den Zuständigkeitsbereich der Polizei fielen, er als Staatsanwalt jedoch entscheide, ob ermittelt werde und welche Ermittlungen an das Gericht weitergeleitet würden. Bisher liege lediglich eine Vermisstmeldung vor. Erst wenn die Angehörigen Gygers eine Klage einreichten, würde er Ermittlungen einleiten.
Leibundgut fand dieses Vorgehen zwiespältig. Er schlug Felber vor, sich aktiv in diesen Fall einzubringen. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass Gyger einem Verbrechen zum Opfer gefallen sei. Man müsse sich auf die Suche nach möglichen Verdächtigen machen. Leibundgut meinte, dass er bereits jetzt im Frauenspital vorstellig werden und dort nachfragen würde, ob Gyger Feinde habe.
Felber wehrte sich gegen den Vorschlag des Wachtmeisters. Solange keine Klage vorliege, wiederholte er, werde er diesen Fall nicht bearbeiten.
Leibundgut war über Felbers Haltung enttäuscht, doch er musste vorerst auf weitere Ermittlungen verzichten.
In der gynäkologischen Abteilung des Unispitals waren viele entsetzt, dass der junge Arzt...
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