Schweitzer Fachinformationen
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1. Die Verhaftung
Um halb neun am Dienstagmorgen des 22. Dezember 1925 machte Wendolin Roder eine kurze Pause, weil das Wartezimmer sich ausnahmsweise geleert hatte. In dieser dunklen Jahreszeit mit Schneestürmen und Nebel litten die Menschen im Emmental an Erkrankungen der Atemwege. Viele davon hatten sich bereits um sieben Uhr ins Arzthaus begeben und auf die Behandlung gewartet. Der junge Mediziner praktizierte erst seit fast einem Jahr in Langnau. Er hatte sich bereits in dieser kurzen Zeit einen guten Ruf als tüchtiger Landdoktor erworben.
Roder vertrat sich die Füsse auf dem Vorplatz seines aufwendig renovierten herrschaftlichen Gebäudes. Er übernahm es, nachdem sein Vorgänger Ende 1924 in den Ruhestand gegangen war. Roder hatte sich deswegen in hohe Schulden gestürzt. Die vielen Patienten liessen ihn hoffen, zügig das aufgenommene Geld zurückzahlen zu können. Doch heute vor vier Tagen hatte ihn ein Schicksalsschlag getroffen; seine Gattin war unter ungeklärten Umständen verstorben.
Er war gerade daran, den Stummel seiner eben gerauchten Zigarette wegzuwerfen, als der Landjäger Armin Wäfler am Eingang des Gartens auftauchte. «Herr Doktor», rief er, gut zehn Meter bevor er zu ihm getreten war, «ich möchte mit Fräulein Borelli sprechen, sie soll sich in Ihrem Hause aufhalten.»
«Stimmt, sie wohnt bei mir. Um was geht es?»
«Das möchte ich mit ihr unter vier Augen besprechen.»
«Darf ich wirklich nicht zugegen sein, wenn Sie mit ihr reden?»
Wäfler überlegte. «Meinetwegen, das dürfte an der Angelegenheit kaum mehr etwas ändern.»
Roder ging mit Wäfler ins Besucherzimmer seiner Wohnung im ersten Stock. «Laura, jemand möchte dich sprechen. Kommst du rasch in die Stube?»
«Um Himmels willen, die Polizei?», rief sie entsetzt.
«Nehmt doch Platz am runden Tisch, ich setze mich dazu», sagte Roder mit leicht bebender Stimme.
Wäfler zog aus seiner Jackentasche ein Papier und reichte es Fräulein Borelli.
Regierungsstatthalteramt SIGNAU
VERHAFTUNGSBEFEHL
gegen
Borelli Laura Agostina,
geboren am 7. Mai 1894, heimatberechtigt in Burgdorf. Zurzeit wohnhaft bei Dr. Roder Wendolin, Arzt, Kirchgasse, Langnau.
Grund der Festnahme: Todesfall Frau Dr. Linda Roder.
Fräulein Borelli ist in das Bezirksgefängnis Langnau zu überstellen.
Der Regierungsstatthalter
sig. Dr. iur. Friederich Wüterich
Amtshaus Langnau, 22. Dezember 1925
Laura Borelli begann heftig zu schluchzen. Roder legte den Arm um ihre Schultern. «Beruhige dich, alles wird wieder gut. Es muss sich um ein Missverständnis handeln.»
Roder fragte den Landjäger, ob er Fräulein Borelli mit seinem Ford zum Gefängnis fahren dürfe.
Wäfler dachte einige Augenblicke nach. Das sei möglich, unter einer Bedingung, sagte er. Das Auto dürfe nur so schnell fahren, dass er ihm mit seinem Fahrrad folgen könne.
Eine halbe Stunde später war Roder wieder in seiner Praxis. Mittags um Viertel nach zwölf hatte er alle Patienten behandelt. Er war nun allein. Das Kindermädchen, das er nach dem Tod seiner Frau engagieren musste, hatte die kleine Rosemarie in seine Obhut genommen.
Roder machte sich Gedanken darüber, wie es am nächsten Tag weitergehen sollte. Er hoffte, dass Laura bis am Abend wieder freikommen, die Verhaftung sich als Missverständnis herausstellen würde.
Hunger verspürte er trotz seines Arbeitsaufwands kaum. Die letzten Tage hatten ihn mitgenommen. Nicht dass er seiner am Abend des 18. Dezember verstorbenen Frau nachtrauerte. Aber dass sich seine Nachbarn von ihm abwandten, das machte ihm zu schaffen. Besonders wenn sie in seiner Gegenwart verhalten, aber doch vernehmbar das Wort «Mörder» aussprachen.
Er bereitete sich einen Schwarztee zu, ass ein Käsebrot und einen Apfel. Das war das Minimum, das er für den kommenden Nachmittag brauchte. Eine Reihe von Hausbesuchen stand an.
Er machte sich auf den Weg zu seinem Ford, der in einem kleinen Häuschen neben der Arztpraxis untergebracht war. Es fiel ihm auf, dass am Garteneingang der Landjäger Armin Wäfler, begleitet vom Gefreiten Jenni, stand. Die beiden steuerten auf ihn zu. Wäfler sprach Roder freundlich an. «Herr Doktor, ich habe Ihnen eine Mitteilung zu machen.»
«Wollen wir zusammen in meine Wohnung gehen? Dort können wir uns ungestört unterhalten.»
Das sei nicht nötig, sagte der Landjäger. «Herr Roder, Sie sind verhaftet.»
«Herr Roder .?» Der Arzt zog beleidigt die Augenbrauen zusammen. «Verhaftet weswegen?»
«Wegen der Ermordung Ihrer Gattin.»
«Jetzt komme ich noch ins Zuchthaus.»
«Interessant. Das haben Sie gesagt, Roder.»
«Sie werden immer unfreundlicher. Nach der Begrüssung vergassen Sie den , nun lassen Sie bereits den weg.»
«Das tun wir bei allen Verhafteten.»
Wäfler legte Roder Handschellen an, griff ihn unsanft am Arm und führte ihn geradewegs in Richtung «Hirschenstöckli», das Bezirksgefängnis von Langnau. Das erregte Aufsehen, denn es war ein Weg von gut fünfhundert Metern, an vielen Häusern vorbei.
Das Gefängnis bot Platz für acht Insassen. Im Erdgeschoss für sechs Männer, im ersten Stock für zwei Frauen. Doch Roder wurde vorerst nicht dort hingebracht.
Vom Innenhof wurde er direkt in den Verhörraum geführt. Ein Verlies, das eher an eine Folterkammer erinnerte.
Kahle, feuchte Mauern, kleine, vergitterte Fenster, ein Holztisch, an dem vier Stühle standen. Staatsanwalt Christian Lauener und Regierungsstatthalter, Untersuchungsrichter und Gerichtspräsident Friederich Wüterich sassen bereits. Landjäger Wäfler und der Gefreite Jenni setzten sich dazu. Roder kannte jeden der vier.
Wüterich begrüsste Roder, ohne ihm die Hand zu reichen. «Grüessech Untersuchungshäftling Roder.» Und er stellte ihm die drei Anwesenden vor. Die Aufgabe des Gefreiten Jenni war, die Vernehmung zu protokollieren.
Roder suchte nach einer Sitzgelegenheit, aber es gab nur die vier Stühle am Tisch.
«Lieber Friederich, warum siezt du mich plötzlich? Wir trafen uns seit rund einem Jahr fast jeden Donnerstag anlässlich der Herrenabende im .»
«Was fällt Ihnen ein, mich zu duzen?»
«Herr Regierungsstatthalter, auch ich möchte mich setzen. Ich nehme an, das steht mir zu.»
Wüterich lachte. «Roder, Sie kennen unsere Sitten nicht. Mörder haben keinen Anspruch auf schonungsvolle Behandlung.»
«Herr Regierungsstatthalter, Sie behandeln mich respektlos.»
«Roder, was unterstehen Sie sich. So spricht ein Mörder einen Vertreter der Justiz nicht an. Für diese Frechheit verordne ich Ihnen vier Tage verschärfte Haft.»
Roder schluckte leer. «Das mit den Haftbedingungen können Sie ja mal durchziehen, aber es wird auf Sie zurückfallen. Irgendwann. Dass Sie mich, bevor überhaupt ein Urteil gesprochen wird, als Mörder bezeichnen, ist juristisch nicht haltbar. Eindeutig eine Vorverurteilung.»
Wüterich hörte mit offenem Mund zu, und vor Ärger wurde sein Gesicht immer röter. «Das werden Sie mir büssen, Roder.» Wüterich zog aus einer schwarzen Mappe ein Papier. «Lesen Sie das bitte!»
Landjägerposten Langnau, 19. Dezember 1925
Bericht betreffend mündliche Mitteilung von verschiedenen Zeugen aus Langnau an Landjäger WÄFLER ARMIN
Weitergeleitet an das
Regierungsstatthalteramt SIGNAU in Langnau
In der Nacht vom Freitag auf Samstag, den 18./19. Dezember 1925, verstarb Frau Dr. Roder, geboren am 21. April 1890, Tochter des Charles und der Bertha Henriette Schneeberger von Zürich, Ehefrau des Roder, Wendolin, Paul, Theodor, Arzt in Langnau, verheiratet seit dem 23. November 1925.
Die Verstorbene wurde Mitte Dezember noch im Dorfe gesehen und als vollständig gesund betrachtet.
In der hiesigen Ortschaft geht nun das Gerücht um, es dürfte sich beim plötzlichen Ableben der Frau Roder um einen unnatürlichen Tod handeln (Vergiftung oder dergleichen).
Wie dem Unterzeichneten bekannt ist, hält sich zurzeit bei der Familie Roder ein gewisses Fräulein auf. Borelli, Laura, Agostina, geboren 1894, welche seinerzeit bei Herrn Dr. Roder als «Haushälterin», zwischenzeitlich auch als «Praxishilfe», angestellt ist und sich als seine Braut ausgibt.
Da diese Person der Verstorbenen ein Dorn im Auge war und sie nicht dulden mochte, dass dieses Frauenzimmer noch in ihrer Nähe war, dürfte nicht ausgeschlossen sein, dass Frau Roder aus Gram Hand an ihr Leben legte. Ohne Zweifel war das Einvernehmen der Verstorbenen und des Fräulein Borelli kein schönes, und es dürfte deshalb auch dahingehend untersucht werden, ob das Fräulein Borelli eine Schuld am Ableben der Frau Roder hat.
Warum sich die Borelli, nachdem Dr. Roder verheiratet war, immer noch bei ihm aufhielt, ist nicht zu verstehen. Dieselbe soll sich geäussert haben, dass Herr Dr. Roder schon wisse, warum er sie noch in seinem Haus dulde.
Um Klarheit über das Gerücht zu verschaffen, wäre es wohl angezeigt, eine...
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