Schweitzer Fachinformationen
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Oberleutnant Alfons Gross, Chefermittler der Kriminalpolizei St. Gallen, war am 31. Juli 1982, einem Samstag, bereits um halb acht in seinem Büro. Seit der Trennung von Sandra vor zwei Monaten arbeitete er auch an den Wochenenden. Sandra hatte zwei Jahre lang mit ihm zusammengelebt. Eine grosse Liebe war es nicht, doch ganz praktisch: Sie kochte für ihn, machte seine Wäsche und gab ihm auch das, was ein Mann in seinem Alter von einer Frau erwartete. Die Trennung hätte Gross eigentlich problemlos verkraftet, wenn sie nicht auf Sandras Wunsch erfolgt wäre. Dass ausgerechnet ein ehemaliger Kollege aus der Polizeischule sie ihm ausgespannt hatte, kratzte an seinem Ehrgefühl. Dabei hatte es dieser nur zum Gefreiten gebracht. Man sprach im Klosterhof, dem Hauptsitz der Kripo, mit Häme und Schadenfreude darüber.
Gross war etwas überrascht, als es an seiner Tür klopfte. Es war Leutnant Bernasconi, sein Stellvertreter.
«Hei, hast du mir ein Aspirin? Mich plagen verdammte Kopfschmerzen.»
«Das ist der Föhn. Sensible Menschen wie du leiden darunter. Nicht gerade optimal für unser Metier. Dieses erfordert knallharte Burschen, die belastbar sind.» Gross zog eine Schublade heraus, griff hinein und warf Bernasconi einen Schlüssel zu. «Fass, er passt ins Türschloss des Büros meiner Sekretärin. Sie hat Aspirin oder so was Ähnliches in ihrem obersten Schreibtischfach. Weiber dürfen ja ab und zu Migräne haben … Doch sag mal, warum arbeitest du überhaupt an einem Samstagmorgen?»
«Deinetwegen. Bis Montagmorgen muss ich dir den Einsatzplan für die geplanten Razzien im Rotlichtmilieu abgeben.»
Gross sagte nichts darauf, stattdessen grinste er gemein.
Kaum hatte er sich wieder in seine Akten vertieft, schellte das Telefon. Der Anrufer war sein direkter Vorgesetzter, Walo Metzler, der Kommandant der Kriminalpolizei. «Arbeitest wieder einmal zu Unzeiten? Mir scheint, ich wüsste, weshalb. Mir soll’s recht sein. Warum rufe ich an? Meierhans, unser oberster Boss, sitzt mir im Nacken. An der nächsten Regierungssitzung soll die Kripo traktandiert werden. In letzter Zeit sei einiges bei uns nicht rundgelaufen. Er verlangt einen Tätigkeitsbericht der letzten drei Monate. Und du bist genau der richtige Mann für solches Geschreibsel. Bis Montagmittag liegt der Bericht auf meinem Schreibtisch. Hast du Fragen dazu?»
«Was gibt es da noch zu fragen?»
«Natürlich nichts. Hör nochmals zu … fast hätte ich es vergessen. Ich gratuliere dir zu deinem Dreissigsten. Vorgestern hattest du Geburtstag, nicht? Ich wünsche dir noch ein schönes und geruhsames Wochenende.»
Metzler legte auf, ohne die Antwort von Gross abzuwarten. Gross fluchte, dass die Wände zitterten.
* * *
Um die Mittagszeit am selben Samstag betrat ein jüngerer Mann die Wirtschaft «Taube» in Kobelwald. Es waren noch zwei Einheimische dort. Der Ankömmling – er sprach einen Dialekt, der einen an Rorschach oder Umgebung erinnerte – war den beiden nicht bekannt, setzte sich zu ihnen und begann gleich ein Gespräch. Kurz darauf gesellte sich der Wirt dazu. Die beiden und der Wirt sagten später auf dem Polizeiposten Oberriet aus, der Fremde habe blaue Turnschuhe getragen und einen sportlichen Eindruck gemacht. Sein Alter schätzten sie auf etwa zwanzig Jahre. Ihnen seien auch seine guten Ortskenntnisse aufgefallen. Etwas verblüfft habe sie eine sonderbare Frage von ihm: ob es möglich sei, vor der Kristallhöhle ein Zelt aufzuschlagen. Nach einem kurzen Imbiss habe er sich auf den Weg Richtung Kobelwies gemacht.
Der neunjährige Bruno Bänziger und sein um ein Jahr jüngerer Bruder Ulrich weilten bei ihren Grosseltern in Kobelwies. Sie waren mit der Umgebung vertraut, und so durften sie allein die Gegend erkunden und im Freien spielen. Bruno und Ulrich hatten im Wattwald ein kleines Versteck eingerichtet. Das erlaubte ihnen, alles zu beobachten, was sich an der Kreuzung der Kobelwies- und Wattstrasse abspielte, ohne selber gesehen zu werden. So konnten sie sich stundenlang die Zeit vertreiben.
Als die Kirchturmuhr halb vier geschlagen hatte, wollten sie sich auf den Heimweg machen. Zum Zvieri gab es bei der Grossmutter stets ein rechtes Stück frisches Brot und zwei Reihen Schokolade.
Doch gerade als die letzten Glockenklänge verklungen waren, vernahmen sie hohe Stimmen. Sie kamen von zwei schon fast erwachsenen Mädchen, die mit ihren Velos das steile Strässchen hinuntergefahren waren und an der Weggabelung haltmachten.
Das eine sagte: «Diese Typen haben Verspätung.»
Das andere: «Und wenn sie nicht kommen?»
Dann wieder das eine: «Die kommen ganz bestimmt. Der Oskar steht auf mich. Nur eben: Mir gefällt er gar nicht, er hat zu viele Pickel im Gesicht. Und übrigens, die wollen uns ja nur etwas zeigen. Sie werden sich hüten, uns zu betatschen.»
Ulrich fand das komisch und fragte Bruno, wie denn ein Mann auf eine Frau stehen würde. Bruno hielt ihm den Mund zu und flüsterte: «Sei still, die dürfen uns nicht hören.»
Kurze Zeit später kam ein grauer VW Käfer in forschem Tempo von Eichberg her angerauscht und riss vor der Kreuzung einen Stopp. Zwei jüngere Männer sprangen aus dem Fahrzeug. Die beiden Mädchen hoben freudig die Arme zur Begrüssung.
Ich kniete am Sterbebett meiner Mutter. Sie flüsterte mir ins Ohr: «Du wurdest am 31. Juli 1950 in der Kristallhöhle gezeugt. Der Erzeuger ist nicht der Mann, von dem du glaubst, er sei dein Vater.»
Das war ein harter Schlag für mich. Dann geschah ein Wunder. Die Mutter wurde wieder gesund. Sie durfte weiterleben, offenbar weil sie mir ihre Last abgegeben hatte.
Ich ging in die Höhle und suchte die Stelle auf, wo mein Leben vor genau zweiunddreissig Jahren begann, ich tat das immer am 31. Juli.
Als ich etwa zwanzig Meter tief drin war, hörte ich Schritte, die mir entgegenkamen. Ich zwängte mich in eine Nische, denn ich wollte nicht gesehen werden. Es konnte nur der Höhlenwart sein. Er durfte nicht wissen, dass ich heimlich einen Schlüssel nachgemacht hatte. Doch es war nicht der Höhlenwart, sondern meine beiden Lehrerkollegen. Ich rief ihnen sofort zu: «Hei, was für eine Überraschung!»
«Ihr habt euch verspätet. Wir haben uns Sorgen gemacht. Das darf nicht wieder passieren», schimpfte der Grossvater. Die Grossmutter nickte stumm und sah Bruno und Ulrich vorwurfsvoll an.
Bruno versuchte sich zu rechtfertigen, indem er berichtete, was sie an der Kreuzung beobachtet hatten.
«Es ist normal, dass sich Männer mit jungen Frauen treffen. Da hättet ihr euch nicht zu verstecken brauchen. Vor solchen Leuten braucht man sich nicht zu fürchten», klärte der Grossvater seine Enkel auf.
Um Viertel nach fünf betrat ein ziemlich durchnässter junger Wanderer mit auffallend dreckigen Schuhen das Gasthaus «Bad Kobelwies». Er war der einzige Gast dort. Der Wirt persönlich kam an seinen Tisch und erkundigte sich, was er konsumieren mochte. Es werde allerdings etwas dauern, die Serviertochter habe wegen Unwohlseins vor einer Stunde nach Hause gehen müssen.
Er wolle nur ein Bier trinken und, wenn’s möglich sei, ein Sandwich essen.
Die angespannten Gesichtszüge des Wirts hellten sich schlagartig auf. Kein Problem, er habe bereits einige zubereitet. Grosse Eingeklemmte mit Schinken, Essiggurken und Mayonnaise. Ob das passe.
«Genau das, was ich mir wünsche», stimmte der Wanderer zu.
«Darf ich mich zu Ihnen setzen und mit Ihnen zusammen essen?»
«Aber sicher, tun Sie sich keinen Zwang an.»
Einige Minuten später sassen der untersetzte grauhaarige Wirt und der eher kleine, feingliedrige jungenhafte Wandersmann bei zwei Flaschen Bier und vier Sandwiches am grossen runden Tisch der kleinen Wirtschaft.
Mit den Worten «Walter heisse ich, führe dieses Lokal nun schon seit zehn Jahren» hob der Gastgeber sein gefülltes Bierglas.
«Mein Name ist Paul. Es soll gelten. Prost.»
«Dem Dialekt nach kommst du vom Toggenburg.»
«Du hast ein feines Gehör. Na klar, ich bin ein Toggenburger.»
«Was um Himmels willen treibt dich in diese gottverlassene Gegend?»
«Ich wollte mir die Kristallhöhle ansehen, habe sie aber bis jetzt noch nicht gefunden.»
Der Wirt pfiff durch die Zähne. «Hätte dir auch nicht viel gebracht, denn sie ist nicht frei zugänglich. Das Betreten dieser Grotte ist nur mit einem Führer möglich. Aber ich könnte dir dabei behilflich sein. Ich bin nämlich der Höhlenwart. Das Dumme ist nur: Heute und morgen geht es nicht, ich muss mich voll meinem Restaurant widmen. Und mein Stellvertreter ist leider auch für einige Tage abwesend.»
«So dringend ist es jetzt auch wieder nicht. Ich melde mich in den nächsten Wochen noch einmal bei dir.»
«Danke für dein Verständnis.»
Der junge Mann erkundigte sich noch, wie er zum Bahnhof Oberriet komme, ob es ein Postauto gebe.
Von Kobelwies nach Oberriet fahre kein Bus. Er müsse zu Fuss gehen, es seien ungefähr zwei Kilometer. Er solle einfach den Wegweisern folgen.
Ein jüngerer Mann fuhr mit seinem grauen VW gegen Abend auf den Parkplatz der Wirtschaft «Taube» in Kobelwald. Unmittelbar nach ihm parkierte ein alter Opel Kadett auf dem Feld daneben.
«Hallo, Gustav, schön, dich wieder mal zu sehen.»
«Grüss dich, Gottfried, freut mich.»
«Geht’s dir nicht...
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