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Der Alte lag auf dem Mühlesteg gegenüber der Hauptwache Urania. Die erste Person, die ihn bemerkte, war eine betagte Dame. Sie führte einen winzigen Hund an der Leine.
«Oh mein Gott . kommt bitte und helft», rief sie mit zitternder, winselnder Stimme. Zwei Polizeimänner, die sich in der Nähe unterhielten, eilten herbei.
Der ältere der beiden, ein grauhaariger Untersetzter mit den Rangabzeichen eines Wachtmeisters, sprach die Frau freundlich an. Doch seine Worte gingen im ohrenbetäubenden Lärm eines Presslufthammers unter. Sein dünner, baumlanger Kollege, ein Gefreiter, eilte zur Baustelle etwa dreissig Meter flussabwärts. Dann wurde es still.
«Was haben Sie gesehen? Ist der Mann gestürzt?», fragte der Wachtmeister.
«Nein, der lag schon da, als ich die Brücke betrat», antwortete die Dame.
Der lange Dünne kam zurück, beugte sich über den am Boden Liegenden und konnte nur noch sein Ableben feststellen. Der kleinere Untersetzte tat es ihm nach. Die beiden Männer sahen einander lange an.
«Ist das nicht der alte Brugisser?», fragte der Gefreite.
Der Wachtmeister nickte.
Minuten später sassen die beiden Polizisten im Büro bei Hauptmann Arno Koch. Er gehörte nicht der Stadtpolizei an. Als Offizier der Kantonspolizei war er in der städtischen Hauptwache Ansprechperson für ungeklärte Todesfälle. Seine Aufgabe bestand darin, festzustellen, ob es sich dabei um vorsätzliches Fremdverschulden einer Zweitperson, also ob es sich um Mord handelte. War das so, musste die Kantonspolizei ermitteln. Der Wachtmeister beschrieb Koch den eigenartigen Vorfall. Brugisser sei tot, darüber gebe es gar keinen Zweifel. Er habe eine klaffende Wunde an der linken Schläfe, die mit grosser Wahrscheinlichkeit von einer Schusswaffe herrühre.
Ob es Spuren vom Täter gebe?, fragte Koch.
So schnell könne man das nicht sagen, bemerkte der Wachtmeister. Möglicherweise habe sich Brugisser selbst in den Kopf geschossen, er sei Linkshänder gewesen, und die Grösse des Einschusslochs spreche dafür, dass die Kugel aus nächster Nähe abgefeuert worden sei.
«Wo ist die Waffe?», fragte Koch.
«Das ist es eben. Wir haben sie noch nicht gefunden», sagte der Wachtmeister.
«Und dennoch schliessen Sie Suizid nicht aus.»
«Nein, das schliesse ich nicht aus. Aber es ist schwer vorstellbar, dass ausgerechnet in der Nähe der Hauptwache, am heiter hellen Tag, jemand einen Menschen erschiesst.»
Es gebe die verrücktesten Dinge; Spinner, die völlig absurde Verbrechen begehen, gab Koch zu bedenken. «Wir müssen zunächst die Ergebnisse der Spurensicherer und des Wissenschaftlichen Dienstes abwarten.»
Am Morgen danach, am Donnerstag, verbreiteten die lokalen Radiostationen folgendes Communiqué der Kantonspolizei:
Zürich, den 24. April 2014. Gestern am frühen Abend wurde vor der Hauptwache Urania der Zürcher Stadtpolizei die Leiche des ehemaligen Kriminalkommissärs, Dr. iur. Werner Brugisser, gefunden. Brugisser war dreiundneunzig Jahre alt. Der Tote wies eine Schusswunde an der Schläfe auf. Nach der Tatwaffe wird derzeit noch gesucht. Ob es sich um Suizid oder Mord handelt, ist Gegenstand der Abklärungen.
Als das Communiqué eine halbe Stunde später, um halb sieben Uhr, im Regionaljournal von Radio SRF zum zweiten Mal verlesen wurde, ergänzte der Nachrichtensprecher die Meldung.
Brugisser erlangte 1967 wegen der Affäre Sonderegger landesweit einen hohen Bekanntheitsgrad. Mathias Sonderegger arbeitete als Detektivwachtmeister der Stadtpolizei Zürich. Brugisser war sein Vorgesetzter. Sonderegger beschuldigte Brugisser eines im Jahre 1963 verübten Gelddiebstahls in der Hauptwache Urania. Brugisser konnte die Tat nie nachgewiesen werden. Sonderegger wurde entlassen und wegen übler Nachrede und Amtsgeheimnisverletzung zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. 1998 ist er vom Zürcher Stadtrat rehabilitiert und mit fünfzigtausend Franken entschädigt worden.
Sonderegger erlag Ende 2006 im Stadtspital Waid einer schweren Krankheit.
Stadtrat Rebstein, der Polizeidirektor, erkundigte sich bei Koch nach dem Stand der Untersuchung im Todesfall Brugisser. Man müsse sich fragen, ob die Stadtpolizei ermitteln sollte, fand Koch. Brugisser habe als Kommissär dieser Polizei gewirkt. Nicht ausgeschlossen sei, dass sein Ableben irgendwie mit dem Diebstahl von 1963 zusammenhänge, er habe ja zu dieser Zeit dort gearbeitet. «Ich finde es besser», sagte Rebstein, «wenn die Kantonspolizei hier Hand anlegt. Könnten Sie, Herr Koch, diese Sache übernehmen? Sie kennen sich bei uns ja gut aus, sind mit den Gepflogenheiten der Stadtpolizei bestens vertraut.»
Das liege drin, er müsse sich aber zuerst mit seinem Vorgesetzten absprechen. Da es sich beim Opfer um Brugisser handle, sehe er kein Hindernis, diesen mysteriösen Hinschied durch die Kantonspolizei abklären zu lassen.
«Mysteriös? Man hat mir angedeutet, es gebe Gerüchte, der betagte alte Kommissär habe aus freien Stücken seinem Leben ein Ende gesetzt», sagte Rebstein.
«Das wird herumgeboten, doch daran glaube ich nicht.»
Nach einem Telefonat Kochs mit seinem Vorgesetzten an der Kasernenstrasse stand fest, dass die Kantonspolizei den Fall Brugisser übernehmen werde. Koch wurde mit den Ermittlungen betraut und angewiesen, dafür eine Arbeitsgruppe aus den Beständen der Kantons- und der Stadtpolizei zusammenzustellen. Je nach Verlauf der Recherchen könnte sie die Funktion einer Mordkommission erhalten.
Koch stieg ins Archiv der Hauptwache hinunter und suchte nach Akten über den Diebstahl von 1963 und über Brugisser. Er fand wenig Brauchbares. Dann startete er den PC, suchte im Intranet und googelte viele Stunden. Danach wusste er zwar mehr über den Diebstahl, aber zum Stichwort «Brugisser» war die Ausbeute mager.
Als Koch am nächsten Tag mit der zehnköpfigen Arbeitsgruppe «Brugisser» zusammensass, erfuhr er einiges über den verstorbenen Kriminalkommissär, den er nur dem Namen nach kannte. Brugisser sei zu einem Sonderling geworden. Die Geschichte mit dem unaufgeklärten Gelddiebstahl soll ihm zugesetzt haben. In all den Jahren seit dem Vorfall habe er immer wieder versichert, nichts mit dem Raub zu tun gehabt zu haben.
Nach seiner Pensionierung vor vierunddreissig Jahren sei er hin und wieder beim Haupteingang der Hauptwache gesehen worden, allerdings ohne diesen jemals betreten zu haben. Er habe jeweils ein Stück Fleisch auf die unterste Stufe gelegt, sich dann in eine Nische verzogen und laut durch die Finger gepfiffen. Momente später sei einer der in diesem Quartier häufig herumstreunenden Stadtfüchse aufgetaucht, habe den Happen weggeschnappt und sich rasch verzogen.
Koch schüttelte ungläubig den Kopf. «Aha - der war das. Und ich dachte immer, das sei ein Penner. Das kann ich mir nicht verzeihen. Schliesslich sitze ich im selben Büro wie er seinerzeit. Tut mir echt leid, dass er von dieser Welt gegangen ist. Warum hat mir niemand gesagt, wer der einsame Mann auf der Treppe vor der Wache war? Ich hätte ihn zu einem Kaffee eingeladen.»
Koch schaute einige Augenblicke lang in die Runde. Er hob beide Hände und verkündete: «Wir müssen dieser Sache nachgehen. Schade, dass es keine einzige Person in diesem Team gibt, die mehr als dreissig Jahre im Dienst ist. Kannte jemand von euch Werner Brugisser?»
Niemand meldete sich.
«Ich weiss nicht, ob der gewaltsame Tod von Brugisser etwas mit dem Diebstahl von 1963 zu tun hat. 1963! Das ist nun einundfünfzig Jahre her. Zu schön wäre es, wenn wir den Fall nochmals aufgreifen könnten, um vielleicht herauszufinden, wer der Dieb war.»
«Oder die Diebin», rief eine junge Polizistin dazwischen.
Koch lächelte. «Damals war es anders. Wir leben heute in einer anderen Zeit. Vor einem halben Jahrhundert gab es nur drei weibliche Wesen in diesem Gebäude. Zwei Putzfrauen und die Sekretärin. Das Reinigungspersonal durfte sich allein während der normalen Bürozeiten in den Räumen der Kriminalpolizei aufhalten, das galt auch für die Sekretärin. Der Diebstahl musste nach sechs Uhr abends stattgefunden haben. Der Täter, so weit bin ich informiert, kann nur einer aus den Reihen der Kriminalpolizei gewesen sein.»
«Das waren aber wenige. Wie viele eigentlich?», fragte ein junger Gefreiter.
Koch seufzte. «Das können wir kaum mehr herausfinden. Die Ermittlungen in diesem Verbrechen sind abgeschlossen. Wir dürfen den Fall nicht wieder aufrollen. Im Archiv des zuständigen Gerichts gibt es zwar mehrere Laufmeter Akten über den Diebstahl von 1963. Wir haben dazu aber nur bedingt Zutritt. Dafür benötigten wir die Bewilligung des Staatsanwaltes. Und diese würden wir nur erhalten, könnten wir einen plausiblen Grund vorweisen. Der fehlt uns aber im Moment. Ganz abgesehen davon, dass das Durchkämmen der Dossiers im Archiv Hunderte von Arbeitsstunden kosten würde. Gäbe es in diesen Papieren nur einen einzigen überzeugenden Hinweis auf den Täter, wäre er längst gefasst worden.»
Ein älterer grauhaariger Detektiv meldete sich. «Nein, im Archiv zu stöbern wäre verlorene Zeit. Das Problem ist, dass schwerwiegende Fehler bei der Untersuchung passiert sind. Man hat nur Polizisten aus den Mannschaftsgraden vom Wachtmeister abwärts verhört. Und die Ermittlung hat der Kommissär höchstpersönlich durchgeführt. Die Polizeioffiziere sind dabei nicht berücksichtigt worden. , soll er gesagt haben.»
Koch nickte verlegen. «Ich denke, Kollege, da hast du recht, leider. Es...
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