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Stucki wollte mehr über Gerhard Zurbuchen wissen. Die Unterlagen, die Zurbuchen hinterlassen hatte, waren seine erste Informationsquelle. Zur Aufklärung des Verbrechens an ihm half auch ein längeres Gespräch mit seiner Ehefrau Paula.
Im Juli 2001 hatte Gerhard Zurbuchen gerade das fünfzigste Lebensjahr hinter sich und war seit einem halben Jahr Lehrer an der Mittelstufe der Primarschule Kandergrund. Seine bisherige Stelle im Berner Quartier Bümpliz hatte er aufgegeben. Das Unterrichten dort war schwieriger geworden. Er hatte Ideale, verabscheute Gewalt, doch die Jungen in seiner Klasse waren grob, sie lachten über ihn, den kleinen, dürren Mann. Streit war ihm ein Gräuel. Es widerstrebte ihm, durchzugreifen, und das machten sie ihm zum Vorwurf, die Eltern und auch die Kolleginnen und Kollegen.
Als ihn der Schulleiter an einer Konferenz mit der Bemerkung begrüsste: «Da kommt unser Weichei und auch noch zu spät», platzte Zurbuchen der Kragen, und er erwiderte: «Das lasse ich mir nicht bieten.»
Der Schulleiter lachte und demütigte ihn weiter: «Da bleibt dir wohl nichts anderes übrig.»
Zurbuchen schluckte diese Beleidigung. Als er nach Hause kam, nahm ihn seine Ehefrau in die Arme. «Gerhard, was hat man dir wieder angetan?» Er erzählte ihr unter Tränen, wie er bei der Lehrerkonferenz blossgestellt worden war.
«Reich die Kündigung ein und suche dir eine andere Stelle. Das dürfte kein Problem sein, es herrscht Lehrermangel.»
In Kandergrund war sein Neuanfang geglückt. Die Knaben waren auch im Kandertal ein Problem, aber wenigstens mischten sich die Eltern nicht in den Unterricht ein. So blieb Zurbuchen auch Zeit für anderes, für Wanderungen in der einzigartigen Natur der Gebirgslandschaft des Berner Oberlandes. Die Kander faszinierte ihn. Er folgte ihrem Lauf von Nord nach Süd, vom Thunersee bis zur Quelle am Berghang der Blüemlisalp.
Einige Kilometer oberhalb seines Wohnortes lagen der Weiler Mitholz und der Blausee. Mit seiner leuchtend tiefblauen Oberfläche hatte er weit über die Kantons- und Landesgrenzen hinaus Berühmtheit erlangt. Wenige hundert Meter höher war ein Steinbruch. Er lag über einem Grundwassersee, der nicht nur das Bijou speiste, sondern auch die Häuser und Gehöfte von Mitholz mit Trinkwasser versorgte.
Dieser Steinbruch beschäftigte Zurbuchen, nicht dass er ihn bewundernswert fand, im Gegenteil. Die Steinwüste stank bestialisch. Und das durfte doch nicht sein. Immerhin befand er sich seit Jahrzehnten über einem Gewässerschutzgebiet.
Zurbuchen überlegte sich, wem er diesen Missstand melden sollte.
Der Gemeinde? Die Schulkommission von Kandergrund stellte die Lehrer ein. Das könnte Probleme geben. Das wollte er vermeiden.
Der Polizei? Das war für ihn die letzte Möglichkeit. Meldete er diesen Verstoss, kam er um eine Anzeige nicht herum. Anklagen widerstrebten ihm, er wollte die Verantwortlichen lediglich darauf aufmerksam machen, dass in der Schweiz Gesetze gälten, die eingehalten werden sollten.
Zurbuchen erinnerte sich an die Stelle im Kanton Bern, die für die Einhaltung der Gesetze im Bereich Wasser verantwortlich ist. Das AWA, das Amt für Wasser und Abfall, das bei der Bau- und Verkehrsdirektion angesiedelt ist.
Paula Zurbuchen schüttelte, als sie sich daran erinnerte, den Kopf. «Das AWA war ein richtiger Reinfall. Gerhard las mir das Schreiben vor, das er von dem erhielt. Ich kann mich an den genauen Wortlaut nicht erinnern, aber so ungefähr lautete er: SA, steht in engem Kontakt mit uns. Sie deponiert dort nur unbedenkliches Material. Im Übrigen sendet sie uns wöchentlich Substanzproben des abgelagerten Aushubs. Zudem möchten wir Sie darauf aufmerksam machen, dass es Ihnen nicht erlaubt ist, das Areal des Steinbruchs zu betreten. Er ist Eigentum der Bahngesellschaft BLS, und die Villard SA betreibt die Anlage.>»
Stucki entgegnete: «Dieses Areal wurde damals und wird auch heute von zahlreichen Personen besucht. Man ist gar nicht in der Lage, diese Leute zu kontrollieren. Dass es bereits vor zwanzig Jahren dort stank, fiel auch den Angestellten der Betreiberfirma und den Chauffeuren, die den Müll dorthin transportierten, auf.» Das hatte ihm Manfred Gertsch auch schon gesagt.
Auf die Frage von Stucki, wie Gerhard Zurbuchen auf die Antwort des AWA reagierte, sagte Paula: «Wie er eben war. Die Leute dort stünden unter Druck der Kantonsregierung und der beiden Konzerne Marquardt und Villard. Er nehme an, dass ihre Probennahmen dort stattgefunden hätten, wo der Tunnelaushub nicht kontaminiert war. Er werde die Situation weiterverfolgen.»
Stucki lachte. « Villard SA wusste genau, an welchen Stellen der Giftmüll deponiert wurde. Sie haben dem AWA angegeben, wo es zu messen hatte .»
In den Jahren um 2000 sei noch nicht von einem Forellensterben die Rede gewesen. «Damit werden sich die Leute vom AWA herausreden», meinte Paula. Doch wer das behaupte, verkenne die Geografie des Steinbruchs. Der Neat-Hügel, der nach Baubeginn des Basistunnels aufgeschichtet worden sei, liege am Abhang zur Kander. Bei Niederschlägen auf die Giftmülldeponie werde alles in die Kander geschwemmt.
«Neat-Hügel?», fragte Stucki nach. Er habe zwar diesen Ausdruck schon gehört, aber sich weiter nichts gedacht.
Paula Zurbuchen lachte. So ergehe es den meisten, die von dieser Bezeichnung hörten. Die Mengen an Aushub des Basistunnels seien gigantisch. So gross, dass sie im Steinbruch zu grossen Hügeln aufgeschichtet wurden.
«Und das Forellensterben?»
«Ach ja», seufzte Paula Zurbuchen. «Das hört man immer wieder. In den Fischzuchten beim Blausee starben während des Basistunnelbaus zwischendurch Forellen, das ebbte nach 2007, als der Tunnel fertiggestellt war, wieder ab, aber wurde mit der Sanierung des Scheiteltunnels um das Jahr 2018 erneut beobachtet.»
«Weshalb gingen die Fische ein?»
«Das ist es ja. Statt den Ursachen nachzugehen, wurden Behauptungen aufgestellt: Die Betreiber der Zuchten hätten die Tiere nicht sachgemäss gehalten, sie hätten die Hygienevorschriften missachtet. Solche Anschuldigungen liessen sich nie beweisen.»
Vermutungen machten die Runde. Man stritt sich.
Stucki erinnerte sich, einiges darüber in Zeitungen gelesen, am Radio gehört oder in den Nachrichten gesehen zu haben. «Gab es denn keine wissenschaftlichen Untersuchungen darüber?»
«Natürlich gab es die, doch die Verantwortlichen für die Missstände nahmen die Ergebnisse der Studien von Fachpersonen nicht zur Kenntnis.»
Das interessierte Stucki, und er bat Paula Zurbuchen, ihn gründlicher zu informieren.
«Nach Niederschlägen quoll die Giftschwemme vom Steinbruch abwärts, also vom Neat-Hügel in die Kander. Im Jahr 2000 wurden im Thunersee zum ersten Mal Felchen gefangen, deren Keimdrüsen Missbildungen aufwiesen.»
Stucki bemerkte, immer wieder habe es geheissen, die Ursache dafür sei seit Jahren ein Geheimnis, es gäbe keine plausible Erklärung für dieses Phänomen. Viele hätten als Grund die grossen Mengen Munition und Sprengstoff, die von der Armee nach dem Zweiten Weltkrieg dort versenkt worden waren, gesehen.
«Warten Sie einen Moment, Herr Stucki», sagte Paula Zurbuchen. «Mir fällt etwas ein. Mein Mann und ich haben seinerzeit darüber diskutiert. Es ging um eine These, die um 2010 publiziert wurde. Irgendwo in meinen Unterlagen werde ich das Papier finden.»
Sie bereitete einen Kaffee zu und servierte ihn mit Süssigkeiten Stucki. Er trank und ass genüsslich. Eine Viertelstunde später kam sie mit einer Klarsichtmappe zurück. Stucki las, was darin stand. Es war eine Zusammenfassung von Gerhard Zurbuchen, die als Leserbrief im «Kandertaler» erschienen war.
Aber wie kommt das Gift ins Plankton?
Zwei Biologen befassten sich mit dem «Rätsel vom Thunersee», so die Studie. Sie hatten seit 2000 zusammen mit Berufsfischern und Behörden daran gearbeitet. Das Ergebnis: Das Zooplankton spiele bei der Entstehung der Missbildungen die entscheidende Rolle.
Zooplankton, das sind winzige tierische Lebewesen, die im Wasser schweben und den Felchen als Nahrung dienen. Sie fressen noch kleinere pflanzliche Organismen, das Phytoplankton. Dieses Phytoplankton ernährt sich von allerlei Schwebstoffen im Wasser.
Die Studie wurde in der Berner Zeitung von 2010 publiziert. Was darin aber nicht steht: Wie kam das Gift ins Phytoplankton? Darüber unterhielt ich mich mit einem Biologen. Er sagte mir, er habe diese Studie gelesen. Es sei eine fundierte wissenschaftliche Arbeit, für Fachleute nachvollziehbar. Doch sie erkläre nicht, wie das Gift in das Phytoplankton gelangen konnte. Ich fragte ihn, ob es nicht denkbar wäre, dass der toxische Tunnelaushub dafür verantwortlich sei. «Durchaus möglich», war seine Antwort. Man hätte auch das Phytoplankton auf diese Gifte untersuchen müssen. Hätte man von Behördenseite diese Studie ernst genommen, wäre eine weitere Forschungsgruppe beauftragt worden, auch das Phytoplankton zu untersuchen.
Die Giftschwemme vom Neat-Hügel wird auf ihrem Weg zum Thunersee sehr stark verdünnt. Das Phytoplankton im See nimmt immer wieder allerlei Schwebstoffe auf, verwertet, was verdaubar ist, und reichert Gifte im Körper an, so wie wir im Körperfett.
Die zuständigen Berner Behörden waren gar...
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