Schweitzer Fachinformationen
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31. Januar 1992. Bern
In seiner rechten Hand hielt er fest umklammert eine Stoppuhr. Die Hand steckte in der Tasche des zerknitterten Regenmantels. Sein Blick war nach oben gerichtet.
Die kleine Schar von Leuten auf dem Münsterplatz warf verwunderte Blicke zu der greisenhaften Gestalt. Er zog die Hand mit der Uhr aus dem Mantelsack, drückte den Knopf darauf und sah zu Boden. Einen Augenblick später prallte ein menschlicher Körper etwa zehn Meter weit von ihm auf das Kopfsteinpflaster. Genau in diesem Moment drückte er nochmals und steckte die Uhr in die Manteltasche zurück. Sekunden danach landete ein Hut genau vor den Füssen des Alten. Ein Hut, verziert mit Eichenlaub, so wie ihn hohe Offiziere der Schweizer Armee tragen. Der Alte nahm den Hut, setzte ihn auf seinen Kopf und begab sich zu der Stelle, wo der Abgestürzte lag.
Schreie des Entsetzens hallten über den grossen Platz. Einige Minuten später hörte man die Sirenen von Polizei- und Ambulanzfahrzeugen.
Kurz danach umringten Uniformierte die Absturzstelle mit den beiden Personen, dem Liegenden und dem Stehenden.
Ein Polizist sah den Alten verwundert an. Ihm schien es die Sprache verschlagen zu haben. Es dauerte wohl eine halbe Minute, bis er zu reden begann: «Was um Himmels willen machen Sie denn hier?»
Der Alte zuckte mit den Schultern, ohne dass ein Wort über seine Lippen kam.
«Ich habe Sie etwas gefragt. Bitte antworten Sie mir. Ich bin Wachtmeister Gottfried Bucher von der Stadtpolizei Bern.»
Der Alte zog seine Stoppuhr aus der Manteltasche und hielt sie Bucher unter die Nase. «Da, vergewissern Sie sich selbst: Der Sturz hat genau 3,83 Sekunden gedauert. Ein unbedarfter Gymnasiast würde seinen Taschenrechner hervornehmen und die Fallhöhe auf einundsiebzig Meter fünfundneunzig berechnen. Das stimmt aber nicht genau. Die Höhe der Plattform, von der der Mann hinuntergestürzt ist, ist fünfundsechzig Meter über dem Boden. Warum diese Ungenauig-»
Bucher schnitt ihm das Wort ab. «Sie haben wohl nicht alle Tassen im Schrank .» Dann wurde auch er unterbrochen. Von einer Frau in der Kleidung einer Krankenschwester, die sich in den Kreis der Uniformierten drängte.
«Herr Professor, was ist denn hier geschehen? Bitte kommen Sie mit mir nach Hause.»
«Wer ist dieser Mann?», brachte Bucher sie barsch zum Schweigen.
«Professor Muralt. Er unterrichtete einst an der Universität Physik. Das ist aber schon viele Jahre her. Nun ist er fast neunzig und lebt in einer anderen Welt.»
«Verstehe», sagte Bucher kleinlaut, um gleich fortzufahren: «Wo wohnt der Mann jetzt? Das sollten wir noch wissen. Wir müssen ihn allenfalls später als Zeugen dieses Unfalls vernehmen.»
«Junkerngasse 33», kam die Antwort von Muralt wie aus der Pistole geschossen.
«Nein, das war einmal. Seit einem halben Jahrzehnt wohnt er im Burgerspittel. Von dort ist er heute Morgen wieder einmal abgehauen.»
«Danke, Schwester. Wir werden uns zu gegebener Zeit bei Ihnen melden. Ich nehme an, Sie sind die Betreuerin des Professors.»
Die Frau nickte und fragte: «Dürfen wir jetzt gehen?»
«Ja.»
Bucher sah dem seltsamen Paar kopfschüttelnd nach, wandte sich dann zu seinen Männern. «Etwas will mir nicht in den Schädel. Wer kann mir erklären, warum der Professor sich an diesem verschissenen Tag zum Münster begibt und den Sprung eines Selbstmörders auf die Hundertstelsekunde genau festhält? Hat er etwa im Voraus davon gewusst?»
«Hey, Chef», rief plötzlich ein anderer Polizist. «Hast du die Kleidung des Toten genau angeschaut?»
«Heiliger Strohsack. Das ist ja ein Brigadier der Violetten», platzte Bucher heraus.
«Ein Violetter?»
«Weisst du das denn nicht? Violett sind die Spiegel der Armeejustiz. Verdammt .» Bucher hielt inne. «Dieser alte Spinner ist mit seinem Hut weggegangen. Jag den beiden nach und bring diesen Hut sofort zurück.» Bucher bellte ihm noch zwei Befehle hinterher und drehte sich zu den andern. «Ihr fünf da, mischt euch unter die Leute, die den Sturz beobachtet haben, und befragt sie. Umgehend, bevor sich die Gaffer hier einfinden. Der Rest kommt mit mir in den Turm. Einige Besucher dürften sich noch darin aufhalten, und denen könnte etwas aufgefallen sein.»
«Guten Morgen, Emmi. Mach doch nicht so ein erschrecktes Gesicht», sagte Bucher zur Frau am Schalter hinter dem Eingang.
«Was ist denn so Schlimmes passiert, dass hier eine Schar von Tschuggern aufkreuzt?»
«Ach so, du hast das gar noch nicht mitgekriegt. Eine Person hat sich von der oberen Aussichtsgalerie in die Tiefe gestürzt.»
Emmi Grau legte beide Hände vors Gesicht und schluchzte: «Etwas gehört habe ich schon. Oh weh! Du lieber Gott! Warum muss das während meiner Dienstzeit passieren?»
«Beruhige dich, gute Emmi. Niemand macht dir deswegen einen Vorwurf. Wir von der Stadtpolizei schon gar nicht. Geh doch einen Kaffee trinken und warte, bis du dich wieder gefasst hast. In der Zwischenzeit wird dich einer meiner Mannen vertreten.»
«Vielen Dank, Gottfried, aber ich wage mich jetzt nicht nach draussen. Ich könnte es nicht ertragen, einen blutenden, zerschmetterten Körper zu sehen.»
«Das wirst du auch nicht. Wir haben die Leiche mit einer Plache zugedeckt. Aber zuerst musst du mir noch eine Frage beantworten. Sind noch Besucher im Turm?»
«Ja, eine Gruppe Deutscher und einige Einheimische. Sie dürften etwa in fünf Minuten hier ankommen.»
Bucher wartete geduldig und beobachtete Emmi, die sinnlos ihr Kabäuschen aufzuräumen versuchte.
«Grüss Gott. Wollen Sie uns etwa festnehmen?», spottete der Besucher, der die Gruppe anführte.
«Gottfried Bucher, Wachtmeister der Stadtpolizei Bern. Nein, eine Verhaftung steht noch nicht an, wenigstens vorläufig nicht. Aber wir kommen nicht umhin, Sie und Ihre Begleiter als Zeugen zu vernehmen. Es hat sich ein Vorfall ereignet, den wir aufklären müssen.»
«Ein Vorfall? Hat jemand einen Diebstahl begangen? Einen Geldbeutel entwendet? Übrigens: Schmidt ist mein Name, Egon Schmidt.»
«Nein, zum Glück nicht, Herr Schmied. Ein Mann hat sich von der oberen Plattform gestürzt. Wir nehmen an, dass Sie die Person auf der Plattform angetroffen haben. Sie trug eine Uniform.»
«Schmidt, nicht Schmied.»
«Schon gut, in Bern heisst das eben Schmied.»
«Ein Mensch, der sich das Leben nimmt, das ist immer schrecklich, besonders auf diese Weise. Und Sie sagen . Ich fass das nicht. Aber Diebstahl ist in diesem Land wohl das Schlimmste. Hätte das ja wissen müssen.»
«Ist Ihnen auf der Plattform ein Mann in Uniform begegnet?»
«Genau, der ist uns natürlich schon aufgefallen. Die Hotelportiers in Bern tragen schmucke Uniformen, ich hätte das nie gedacht.»
«Sie!» Bucher bohrte dem Mann seinen Zeigefinger in den Brustkasten. «Das war ein Brigadier der Schweizer Armee.»
«Diese Berufsbezeichnung sagt mir nichts.»
«Ich glaube, in Deutschland würde man Brigadegeneral sagen.»
«Wahnsinn, echt Wahnsinn! Na ja, ich denke, bei Ihnen hat es eine ganze Menge dieser Typen. Der halbe Zug von Basel her war voll mit Soldaten. Man könnte meinen, in der Schweiz sei gerade ein Militärputsch im Gange.»
«Sparen Sie sich diese Respektlosigkeiten, Herr . Herr Schmidt. War der Mann allein?»
«Nein, neben ihm standen zwei, vor ihm einer.»
«Hat der Brigadier mit diesen gesprochen?»
«Nein, keiner hat ein Wort gesagt.»
«Was ist Ihnen am Mann mit der Uniform sonst noch aufgefallen?»
«Er hat erbärmlich gekeucht. Ich habe noch zu meinen Kumpels gesagt, diesem Kerl ist es hundeelend.»
Bucher notierte Namen und Wohnort jedes Deutschen und stellte ihnen in Aussicht, allenfalls als Zeugen bei einem Prozess aussagen zu müssen.
«Da hätten wir überhaupt nichts dagegen. Unter einer Bedingung allerdings: Sie müssten für die Reisespesen und die Unterkunft in der Schweiz aufkommen. Das Leben hier ist nämlich unverschämt teuer.»
«Das würden wir selbstverständlich tun.» Bucher bedankte sich, was von den Deutschen mit Erstaunen aufgenommen wurde.
Es dauerte weitere Minuten, bis die mutmasslichen Begleiter des Abgestürzten unten ankamen. Bucher stellte sie zur Rede. Ob sie den Verunfallten gekannt hätten. Sie gaben an, ihn nicht gekannt zu haben. Ob sie seinen Sturz beobachtet hätten. Nein, davon hätten sie nichts mitbekommen. Auch von diesen nahm Bucher die Personalien auf. Keiner von ihnen trug einen Ausweis auf sich. Deshalb wurden alle drei fotografiert.
Ihre Angaben würden überprüft, sollten sie sich als gefälscht erweisen, würden ihre Bilder den Medien weitergereicht. Bucher hatte das Gefühl, dass mit den drei Männern etwas nicht stimmte. Dennoch entschied er sich, sie vorerst laufen zu lassen.
* * *
Mein Freund Jacques ist vorgestern gestorben. Ihm war furchtbares Unrecht widerfahren. Er war ein Mensch mit Schwächen, aber mit einem goldenen Herzen. Er war ein Mensch, dessen politische Einstellung ich nicht teilte. Aber er respektierte andere Meinungen. Er redete viel, bisweilen zu viel. Er bildete sich oft vorschnell ein Urteil über andere. Doch er konnte zugeben, dass er sich geirrt hatte. Konnte Mitmenschen, denen er zugesetzt hatte, um Vergebung bitten.
Warum hat man gerade ihn ausgewählt, um ihn einer Grossmacht zu opfern? Einer Grossmacht, dessen Präsident von der ganzen Welt als Gauner entlarvt wurde.
Mein Freund wurde Opfer...
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