2.
»Und Mark hatte keine Lust, mitzukommen?« Tom lehnte im Türrahmen des Gästezimmers, während ich meine Sachen auspackte.
Ertappt. »Du musst gar nicht versuchen, deinen kritischen Unterton zu verbergen. Mark hatte einfach keine Zeit. Er steckt mitten in einer wichtigen Kampagne.«
Wie immer. Warum meinte ich, die Gedanken meines Bruders lesen zu können? Marks Charme hatte auf meinen Bruder eine eher gegensätzliche Wirkung. Beide kamen nicht richtig miteinander zurecht, was ich darauf schob, dass Tom nun mal mein großer Bruder war und meine Freunde immer schon skeptisch beäugt hatte. »Und ich hatte einfach Lust, euch zu besuchen«, fuhr ich besonders beschwingt fort, »hab euch vermisst.«
Toms Augen ruhten auf mir, und ich merkte, wie ich unruhig wurde, wusste ich doch, dass er in mir lesen konnte. Doch anstatt weiter nachzuhaken, fragte er etwas ganz anderes. »Dann gehst du morgen bestimmt zu deinem Abitreffen?«
Das Abitreffen. In meinem kreativen Loch samt kleinem persönlichem Gedankenchaos hatte ich den Termin vollkommen vergessen. Vielleicht auch, weil ich eh nicht vorgehabt hatte, teilzunehmen. »Ehrlich gesagt, ich weiß nicht.«
»Ich habe Nik getroffen.« Womit mein Bruder beim eigentlichen Grund meines Zögerns war. »Ruf ihn einfach an. Wie auch immer, ich muss los ins Lokal. Wir sehen uns morgen zum Frühstück.« Tom drückte mich, bevor er ging, und ich ließ mich auf das Bett fallen. Nik. Wie lange hatte ich nichts von ihm gehört? Fast zwei Jahre. Genauso lange, wie ich mich nicht bei ihm gemeldet hatte. Vielleicht hatte Tom recht. Je mehr ich darüber nachdachte, desto alberner schien es, Nik nicht einfach anzurufen. In zwei Jahren wuchs schließlich einiges an Gras. Warum also nicht? Ich nahm mein Handy. Ob Niks Nummer überhaupt noch stimmte? Ich würde es einfach herausfinden und drückte auf seinen Kontakt. Nach zweimal Klingeln war er dran.
»Hey.« Niks Stimme klang überrascht.
»Hey. Ich bin's. Es tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet .«
»Alles gut. Ich freu mich, dich zu hören. Sehr.« Ein kurzes Schweigen, das aber nicht unangenehm war, sondern sich angenehm vertraut anfühlte.
»Ich bin bei Tom.«
»Wir sind uns vor ein paar Tagen über den Weg gelaufen.«
»Ich weiß. Da wusste er aber noch nicht, dass ich komme. Ich bin sozusagen ein spontaner Überraschungsbesuch.«
Nik lachte. Sein vertrautes Lachen; herzlich und warm und echt. »Und was sind dann so deine spontanen Pläne hier in Köln?«
»Eigentlich habe ich keine spontanen Pläne hier, nur meinen besten Freund möchte ich wiedersehen, und das schon eine ganze Weile.« Und das war wirklich wahr, selbst wenn ich von dem, was ich da von mir gab, überrascht war.
»Ich dich auch«, antwortete er, und ich musste lächeln.
»Du lächelst«, sagte Nik durch den Hörer.
»Du auch.« Wieder das vertraute Schweigen.
»Gehen wir morgen zusammen zum Abitreffen?« Erneut überraschte ich mich selbst. »Ich meine natürlich, solltest du überhaupt daran teilnehmen wollen. Vielleicht hast du ja auch andere Pläne. Wenn nicht, können wir uns auch zu einem anderen Zeitpunkt treffen, ich bleibe für eine Woche in Köln.«
»Ich hatte sowieso vor, hinzugehen, und gehe gern mit dir. Soll ich dich bei Tom abholen?«
»Ist das kein Umweg für dich? Oder wohnst du nicht mehr in der Südstadt?«
»Doch, aber ich bin vorher ganz in der Nähe von euch.«
»Dann sehr gerne.«
»Um 20 Uhr?«
»Perfekt. Bis dann.«
»Bis dann, Paulsen.«
Noch immer lächelnd nahm ich mein Handy vom Ohr. Paulsen. Das sagte nur Nik zu mir. Seit ich ihn kannte. Eigentlich, seit ich denken konnte.
Es tat gut, von Nik in die Arme geschlossen zu werden. Ich musste zugeben, dass ich vorher ein wenig aufgeregt gewesen war und Angst gehabt hatte, wir könnten uns vielleicht fremd sein. Jetzt war ich erleichtert und glücklich, dass es sich nicht so anfühlte, als lägen zwei Jahre und ein unsäglicher Streit zwischen heute und unserem letzten Treffen. Im Gegenteil, ihn wiederzusehen fühlte sich wie selbstverständlich an.
Er hatte sich nicht groß verändert. Und doch .
»Stimmt etwas nicht?« Er sah mich fragend an.
»Der Bart ist neu.«
Er strich mit seiner Hand über den gepflegten, kurzen Bart, der in dem gleichen Dunkelblond schimmerte wie seine Haare, die er nach wie vor kurz trug. »So neu ist er auch nicht.«
»Steht dir gut.«
»Danke. Wobei, erkennst du mich eigentlich so ohne Brille, du Blindschleiche?«
Ich kniff die Augen zusammen und blinzelte. »Ich bin mir nicht ganz sicher. Aber bei dem Ausmaß an Unverschämtheit kannst nur du es sein. Und das nennt man Kontaktlinsen.«
Nik lachte. »Du trägst deine Haare wieder länger.«
Ich nickte.
»Ich mag sie so lieber als kurz«, bemerkte er und wuschelte durch meinen braunen, leicht gelockten Bob.
»Hey, lass das.«
Nik grinste sein unverschämtes Nik-Grinsen und legte den Arm um mich. »Komm«, sagte er, »dann wollen wir mal.«
»O mein Gott«, entfuhr es mir, als wir in das Millers traten, das schon recht gut gefüllt war. Alles sah genau so aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Zu Oberstufenzeiten war das Millers mein zweites Zuhause gewesen. Jetzt war es Jahre her, dass ich das letzte Mal hier gewesen war. Der schwarz-weiß geflieste Boden, die Bistrotische und -stühle, die schwarze Holzbar mit den wackeligen Barhockern, die Tanzfläche am anderen Ende der Kneipe mit der Diskokugel an der Decke, die alten Sofas davor, der Geruch nach abgestandenem Kölsch, Rauch und langen und ausgelassenen Partys, das schummrige Licht .
»Ich habe das Gefühl, ich bin auf Zeitreise.«
»Na dann, willkommen in der Vergangenheit.« Nik grinste.
»Luisa! Nik! Das ist ja so toll, dass ihr gekommen seid!« Jemand kam auf uns zugestürmt.
»Hallo, Becky«, sagte Nik.
Natürlich. Wie hätte es auch anders sein sollen? Becky, unsere ehemalige Jahrgangsstufensprecherin, die gute Seele des Jahrgangs, begrüßte uns euphorisch. Sie hatte die Feier selbstverständlich organisiert.
»Luisa, wie lange ist es her? Seit dem Abi?«
»Jup.« Ich nickte.
»Nein, das kann doch gar nicht sein. Kinder, wie die Zeit vergeht. Wenn ihr was zu trinken sucht, bestellt einfach an der Bar, bei Hunger ist drüben im Nebenraum ein kleines Buffet aufgebaut. Luisa, du bist, soweit ich mich richtig erinnere, nicht angemeldet. Kannst du bitte bei Michi deinen Unkostenbeitrag begleichen?« Becky lächelte uns selig an, dann hatte sie die nächsten lang Verschollenen entdeckt und stürmte davon.
»Willkommen in der Vergangenheit«, wiederholte ich Niks Worte.
»Darauf ein Kölsch?«
Als Antwort nahm ich Niks Hand und zog ihn in Richtung Bar.
»Hast du noch zu vielen aus der Klasse Kontakt?«
Nik schüttelte den Kopf. »Zu Yannik, klar, und auch zu Daniel seit ein paar Jahren wieder mehr. Und was den Rest betrifft, läuft man sich in Köln immer mal wieder über den Weg. Und du?«
»Ich telefoniere hin und wieder mit Bine, und wir schreiben uns recht häufig. Von ein paar Leuten bekomme ich über Insta und Facebook etwas mit. Aber das war's.« Direkt nach dem Abi hätte ich es nie für möglich gehalten, dass man sich so schnell aus den Augen verlieren würde, aber so war es wohl einfach.
»Hey, Nik, altes Haus.« Ein Mann klopfte Nik auf die Schulter.
»Daniel, wenn man vom Teufel spricht«, grüßte Nik ihn herzlich. Beide lachten und nahmen sich in den Arm.
»Daniel?«, fragte ich verwundert.
Der Mann drehte sich um. »Luisa. Da hat es sich doch glatt gelohnt, aus Singapur angeflogen zu kommen.«
»Mensch, Daniel, ich hätte dich fast nicht erkannt«, entfuhr es mir.
»Ich weiß.« Er grinste zufrieden. Hatte ich Daniel eher korpulent in Erinnerung, war er nun schlank und durchtrainiert.
»Der gute Daniel hat Triathlon für sich entdeckt«, klärte Nik mich auf, und ich hob anerkennend die Augenbrauen.
»Und, Nik, was meinst du, schaffen wir es vor meinem Abflug auf eine gemeinsame Runde?«
Nik hob abwehrend die Hände. »Lieber nicht. Beim letzten Mal habe ich eine gefühlte Ewigkeit gebraucht, bis ich mich wieder erholt hatte.« Er lachte.
»Ich frag dich später einfach noch mal.« Doch dann schien Daniel plötzlich abgelenkt und blickte zur Eingangstür. »Da kommt Sandra. Auf die habe ich mich besonders gefreut. Nichts gegen euch zwei, aber ihr entschuldigt mich?« Und schon war er unterwegs in Richtung Eingang.
»Sandra scheint die gleiche Anziehungskraft auf ihn zu haben wie früher.« Nik drückte mir ein Kölsch in die Hand.
»Danke. Aber schau, wie sie guckt.« Beide mussten wir lachen. War Sandra dem dicklichen Daniel immer mehr als abweisend begegnet, sosehr er sich auch ins Zeug gelegt hatte, strahlte sie ihn jetzt nicht nur überrascht, sondern auch recht angetan an.
»Was zehn Jahre alles ändern können«, bemerkte Nik. »Zum Wohl.«
Ich prostete zurück. »Manche Dinge ändern sich dann aber doch nicht.« Mein Blick fiel auf die Tanzfläche, wo eine Frau alles gab und versuchte, andere zum Mittanzen zu animieren. »Jaqueline, ganz die Stimmungskanone wie eh und je.« Am anderen Ende der Bar hing eine Gruppe Männer...