Schweitzer Fachinformationen
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1815
Nach fünf Wochen Schmalhans machten die gedünsteten Haie, die in Butter gewendeten Kartoffeln und das Cassoulet aus gepökeltem Fleisch, Speck und Bohnen den Magen schwer. Janna hatte dem deftigen Essen so reichlich zugesprochen, dass sie froh war, statt eines altmodischen Korsetts das kleine Kurzmieder gewählt zu haben. Selbst das hätte sie jetzt gerne gelockert. Noch musste das Weihnachtsessen mit einem Mince Pie abgerundet werden, das ihr der Steward soeben mit Weinschaumsoße begoss. Sie drückte die Dessertgabel in die verheißungsvolle Kruste. Nicht dass sie mit all den Köstlichkeiten letztlich die Fische fütterte!
«Einen Augenblick», raunte Reinmar in ihr Ohr.
Die gepflegte Hand ihres Verlobten legte sich auf ihren Oberschenkel, von den Anwesenden rund um den ausladenden Eichentisch unbemerkt. Von allen? Auf ihrer anderen Seite saß Frau Wellhorn, der gewöhnlich nichts entging. Janna zog die Serviette über ihren Schoß, um seine freche Hand zu bedecken. Seine andere nestelte in der Westentasche. Ein kleines, in Seidenpapier gewickeltes Kästchen kam zum Vorschein.
«Mein Aguinaldo für Sie, meine Liebe. So nennt man in Venezuela die Weihnachtsgeschenke.»
In seinen Augenwinkeln bildeten sich zauberhafte Fältchen, als er es ihr in die Hand schob. Er hätte gut und gerne warten können, statt den Ablauf des Essens zu stören, aber Reinmar Götz war das Gegenteil hanseatischer Akkuratesse. Seine Haare waren so dunkelblond wie ihre, und er trug sie nach der neuesten Herrenmode wild, als sei er in einen Sturm geraten. Er musste einige Zeit darauf verwendet haben, sie so dramatisch hinzubekommen. Janna riss den Blick von seinem markanten Gesicht mit der Kerbe am Kinn und schenkte der Runde ein entschuldigendes Lächeln. Dann zog sie die Schleife ab und wickelte das Papier auf. Die Männer am Tisch schauten neugierig, während sie sich weiterhin über die Wochen auf der Seuten Deern unterhielten: dass die Passatwinde günstig geweht hatten; dass die Mannschaft keinen Mann verloren hatte und dass man die Reise nicht vor der Ankunft loben solle, denn auch außerhalb der Orkanzeit könne das Wetter verrücktspielen. Nur Frau Wellhorn schwieg, während sie mit ihrem Spitzentaschentuch und geradezu bedrohlichen Bewegungen ihr Lorgnon polierte.
Janna öffnete das samtene Kästchen.
«Oh!»
«Darf ich?» Reinmar nahm die fingerbreite Goldkette heraus und legte sie ihr um den Hals. Eine in Gold eingefasste Granatrose ruhte schwer auf Jannas Haut. Dieser Schmuck war viel zu groß. Geradezu anstößig groß! So etwas trug man bestenfalls zu einem besonderen gesellschaftlichen Anlass. Den Herren wuchsen denn auch die Augen, und niemand Geringerer als der Kapitän stieß einen leisen Pfiff aus. Wie peinlich!
Dennoch reckte Janna stolz den Kopf. Sie sah sich aufs genaueste von Frau Wellhorn lorgnettiert.
Reinmar konnte es nicht lassen, noch einmal hinzugreifen und den Sitz zu korrigieren. Dass er Frau Wellhorn immer reizen musste! Nun hauchte er auch noch einen Kuss auf Jannas Nacken. Das tadelnde Räuspern Frau Wellhorns war wie ein Pistolenschuss.
«Ich habe auch etwas», sagte Janna leise. «Aber ich wollte erst nachher .»
Er drückte ihre Hand, was Frau Wellhorn ärgerlich mit der Gabel klappern ließ. «Nachher ist wunderbar», sagte er mit seiner dunklen Stimme, die Jannas Körper auf noch gänzlich ungeklärte Weise zum Schwingen brachte. «Nach der Christmette, wenn alle schlafen, treffen wir uns, ja?»
Er hatte es laut gesagt. Dieser Leichtfuß! Die alte Dame zerteilte ihr Küchlein so heftig, dass die Gabel über das Porzellan schrammte. Wahrscheinlich feilte sie hinter ihrer faltigen Stirn bereits an einer Standpauke. Sie war das schwerste Geschütz, das Hinrich Sievers hatte auffahren können, seine Tochter während der langen Reise vor Nachstellungen aller Art zu schützen. Die strenge Anstandsdame war schon in der elterlichen Villa auf der Bellevue keine angenehme Gesellschafterin gewesen. Doch während der Überfahrt von Hamburg an die Nordostküste Südamerikas hatte sie sich in einen Kettenhund verwandelt, der sich die Bezeichnung Anstandswauwau redlich verdiente. Matrosen waren schließlich ein so zügelloses Volk! In jedem Winkel der geräumigen Dreimastbark konnte eine Frau belästigt werden. Und der windige Reinmar Götz, bei Gott, sollte seine Rechte gefälligst erst dann wahrnehmen, wenn er die Tochter aus einer der besten hanseatischen Handelsfamilien an ihrer beider Ziel, Angostura am Orinoco, geehelicht hatte. Bei Gott!
«Eine Frau lungert nicht auf dem Oberdeck herum. Schon gar nicht nachts.» Frau Wellhorns dünnlippiger Mund bewegte sich kaum, doch die Worte waren scharf. «Versprechen Sie mir, dass Sie sich das aus dem Kopf schlagen.»
«Versprochen», antwortete Reinmar an Jannas Statt. Er neigte sich Janna zu. «Ich wollte sowieso nach unten, nach Pizarro sehen. Wenn die Bilge ein genehmer Ort wäre, mir Ihr Geschenk zu überreichen?»
Diesmal hatte er es so leise gesagt, dass es Frau Wellhorns gespitzten Ohren entgangen sein musste. Ärgerlich verstaute sie ihre Scherenbrille wieder in ihrem Etui. Janna nickte Reinmar zu. Einverstanden, formten ihre Lippen.
«Ist Ihnen nicht gut, Frau Wellhorn?», fragte Pastor Jensen mitfühlend.
«Mir liegt das Essen schwer im Magen.»
Er klopfte sich den prallen Bauch. «Das geht uns allen so. Ich habe meine Seekrankheit erst überwunden, als heute früh die südamerikanische Küste in Sicht gekommen ist. Glücklicherweise rechtzeitig zum Weihnachtsessen. Wir sollten ein wenig frische Luft hereinlassen.»
Kapitän Vesterbrock nickte mit seinem bärtigen Seemannsgesicht dem Moses zu, der während des Dinners auf einer Fidel aufgespielt hatte und nun auf seinen nächsten Einsatz wartete. Der schlaksige Junge öffnete eines der schrägen Heckfenster. Janna reckte den Kopf. Man konnte in der Abenddämmerung, die hier in den Tropen sehr kurz war, die Küstenlinie Venezuelas erkennen. Ganz deutlich sah sie die Wipfel der gefährlichen Mangrovenwälder. Die helleren Flecken neugieriger Möwen huschten vorbei. Seit dem Morgen kreuzte die Seute Deern vor der nördlichsten Ecke des Orinocodeltas. Eines der Beiboote war an Land gerudert, um einen Lotsen anzuheuern. Die noch vom Tag aufgeheizte Luft wallte herein, schwer zu atmen und doch erfrischender als der stickige Geruch nach Holz, Tauwerk, Schweiß und den Hinterlassenschaften all der Menschen an Bord, den man sogar hier im feinen teakholzgetäfelten Salon nicht aus der Nase bekam. Durch das geöffnete Fenster erklang ein schöner, wehmütiger Shanty, unterbrochen von Gegröle und Gelächter und dem Quietschen eines Schifferklaviers. Mit einem Mal kam es Janna vor, als hätte die Reise nur fünf Tage gedauert und nicht fünf Wochen. Hatten sie nicht gestern erst in Port of Spain auf Trinidad haltgemacht? Und vorgestern die steilen Küsten Madeiras gesehen und tags zuvor die Kreidefelsen von Dover? Und dann die Zeit davor: Wohlig hatte Janna schlaflose Nächte damit verbracht, sich über Büchern zu gruseln, in denen anschaulich die Rede davon war, dass man von Stürmen und Haien verschlungen werden oder, falls man es ans Ufer schaffte, im Schlick der Mangrovensümpfe versinken konnte, welche die Küsten des östlichen Südamerika säumten. Und danach, wie würde es werden in dem fremden Land, wo alles andersartig war? Wo es Vögel gab, die wie eine Explosion aus Farben wirkten, wo Echsen fast so groß wie Drachen und raubzahnbewehrte Fische so gefährlich wie Wölfe waren?
«So, Sie wollen also in Pferden machen, wie man so schön sagt, Herr Götz», hörte sie durch ihre Träumerei hindurch den Kapitän. «Venezuela soll dafür ja eine außerordentlich gute Gegend sein. Die Ebenen am Orinoco sind die schönsten und besten Viehweiden der Welt, heißt es. Ein Pferdenarr kann dort wohl sein Glück machen.» Er hob sein Portweinglas in Reinmars Richtung.
Elegant erwiderte Reinmar den Trinkgruß. «Genau deshalb will ich dorthin.» Er strich sich eine Locke aus der Stirn, was Janna innerlich aufseufzen ließ. «Was dem Seemann sein Salzwasser, ist mir das Pferdeblut. Es liegt in der Familie. Alter Pferdezuchtadel, sozusagen. Das Gestüt meines Vaters hatte die Ehre, von Napoleon Bonaparte höchstpersönlich geplündert zu werden. Die besten Pferde landeten in den Bäuchen französischer Soldaten.»
«Ah, dann wissen Sie ja schon, wie das vor sich geht, wenn Milizen der Criollos, Llanero-Banden oder gar Cimarrónes eine Hazienda heimsuchen.»
Janna hob die Brauen.
«Verzeihung, Fräulein Sievers», Kapitän Vesterbrock nickte in ihre Richtung. «Criollos sind die Nachkommen spanischer Einwanderer, die mit Sklaven und Kakao fürchterlich reich geworden sind und die herrschende Kaste bilden; Llaneros sind das, was anderswo Gauchos oder Cowboys sind, und Cimarrónes nennt man entlaufene Haustiere und demzufolge auch flüchtige Sklaven.»
Das wusste sie wohl. Aber nicht, dass von ihnen Gefahr drohte. «Angostura soll ruhig und friedlich sein. Mein Vater hat sich bei berufener Stelle erkundigt.»
«Auf der ganzen Welt gibt es keinen ruhigen Flecken», ließ sich der Pastor vernehmen. «Dazu hätte man einige Jahrzehnte früher geboren sein müssen. Da hatte auch in Europa alles noch seine Ordnung: oben König und Adel, unten das arme Volk, und dazwischen konnte man sich irgendwie einrichten, wenn Gott es gut mit einem meinte. Aber dann kam ja dieser freigeistige Flächenbrand aus Frankreich und danach der gierige Korse. Ich zum Beispiel musste wegen der französischen Pferde meine Kirche zu einem Stall umfunktionieren. Einer der jungen Messdiener...
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