Schweitzer Fachinformationen
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1896
Noch hatte der Wilde sie nicht entdeckt. Gottlob trug sie dunkle Kleidung, und das fremdartige Gebüsch, hinter dem sie sich versteckt hatte, war dicht belaubt. Er bewegte sich geschmeidig. Seine dichten Brauen auf vorgewölbten Wülsten ließen ihn bedrohlich wirken. Seine Faust umklammerte den Wurfspieß, bereit, zu erlegen, was immer sich ihm näherte. Die andere Hand befingerte nervös ein flötenähnliches Instrument, das von seinem Hals hing: ein Blasrohr - eine Waffe, die so leise wie tödlich war.
Ihr Herz schlug schnell. Hatte sie je eine furchterregendere Gestalt erblickt? Durch die Nase hatte er einen Tierzahn gestochen, der so dick war, dass sie sich fragte, wie er atmen konnte. Sogar seine Stirn verunstalteten beinerne Nadeln. Blaue und grüne Tätowierungen bedeckten die Wangen; lederne Stränge mit bunten Holzperlen umwanden Oberarme und Handgelenke. Und die Schnüre und Lappen um seine Lenden betonten sein Geschlecht. War dies überhaupt ein Mensch?
«Julius», wisperte Amely. «Julius, wo bist du?»
«Nur zwei Schritte hinter dir. Bleib ganz ruhig.»
Der Kopf des Indios fuhr herum, und sein Blick schien sie zu treffen. Aus dem fremdartigen Gesicht sprach Feindseligkeit. Sah er sie? Oder witterte er sie?
«Knie dich hin», flüsterte Julius.
Amely raffte den Rock. Der Stoff knisterte unnatürlich laut, dessen war sie sich sicher. Auch das Korsett saß plötzlich noch enger als sonst. Langsam ging sie in die Knie. Auf der Schulter spürte sie Julius' schweißfeuchte Hand. Sein Atem strich über ihren Nacken.
«Keine Angst, Liebes.» Seine Stimme war dicht an ihrem Ohr. «Das Scheusal wird dir nichts antun. Vorher hole ich ihm nämlich mit der Flinte die Knochen aus dem Gesicht.»
«Aber wenn . wenn du nicht triffst? Er ist bestimmt nicht allein. Hier sind noch mehr Wilde. Sie sind überall!»
«Schscht. Hast du so wenig Vertrauen in deinen Großwildjäger? Wenn's sein muss, nehme ich es mit einer ganzen Horde auf.»
Ihre Nackenhärchen stellten sich auf. Täuschte sie sich, oder hatte Julius tatsächlich einen Kuss auf ihre bloße Haut gehaucht, unterhalb ihres Ohrs? In dieser Situation? Sie sehnte sich danach, sich umzuwenden und ihn zu umarmen. Mehr noch, seinen Kuss zu erwidern. Aber dann spürte sie, wie er sich auf seinen Schuss zu konzentrieren begann. Sie durfte sich nicht rühren, ja, nicht einmal atmen . Auch der Wilde war erstarrt. Er umklammerte seine Waffen, doch er machte keine Anstalten, sie zu nutzen. Als wüsste er, dass er sich dem Stärkeren zu beugen hatte.
«Was machen Sie denn da?»
Amely fuhr auf den Knien herum. Ein Schutzmann stand wie aus dem Boden gewachsen wenige Schritte entfernt. Mit seinem Schlagstock tippte er gegen ein blechernes Schild, sodass es schepperte. «Sehen Sie nicht, was hier steht? Also weg mit dem Stecken, junger Mann!»
Julius ließ den Ast fallen und rückte verlegen seine Nickelbrille zurecht. Eilends half er Amely auf die Füße. Sie strich sich den bodenlangen Rock glatt, ordnete ihren Herbstpaletot und das verrutschte Barettchen auf der Hochsteckfrisur. Ihr Gesicht war vermutlich rot wie das eines Kindes, das mit den Fingern im Marmeladetopf erwischt wird. Trotzdem konnte sie das Lachen nur mit Mühe unterdrücken. Eine Entschuldigung murmelnd, traten sie durch ein Türchen zurück auf den Kiesweg. Nun erst merkte Amely, dass es nieselte, und ihre Knie fühlten sich klamm an. Sie nahm den Schirm, den sie an den Zaun gehängt hatte, und spannte ihn auf. Über die Schulter blickte sie zurück. Das Gelände dahinter war kein Dschungel mehr, sondern eine Wiese, vollgestellt mit riesigen Kübeln, in denen tropische Pflanzen wuchsen. Der Wilde hatte sich eine Decke um die Schultern geworfen. Sein Blick in den wolkenverhangenen Himmel war trübselig. Er stapfte, seinen Spieß als Stock nutzend, zu den drei Strohhütten, vor denen eine Frau und ein paar Kinder um ein Kochfeuer hockten. Auch sie trugen beinerne Schmucknadeln im Gesicht und wenig Stoff an den milchkaffeebraunen Leibern. Sie rieben ihre Füße aneinander, während sie dicke Wurzeln schnitten. Ihre Lider waren tief gesenkt. Auch als sich zwei Jungen in Matrosenanzügen näherten, um in den Kessel zu glotzen und sich gegenseitig lachend die Ellbogen in die Seiten zu hauen, hoben sie nicht den Blick.
«Sie frieren», murmelte Amely.
«Das ist ja auch ein Mistwetter heute.» Julius drehte sie an der Schulter zu sich um. «Sollen wir rüber nach Afrika? Da scheint zwar auch nicht die Sonne, aber es wird gleich ein Stammestanz aufgeführt.»
Sie dachte, dass in seinen hellen Augen, unter denen die Sommersprossen tanzten, immer die Sonne stand. Dass er tagein, tagaus im düsteren Kontor ihres Vaters, des Fahrradfabrikanten Theodor Wehmeyer, die Ärmelschoner am Schreibtisch abnutzte, konnte daran auch nichts ändern. Großwildjäger, dachte sie lächelnd. Ich war deine einzige Beute, und so bleibt's auch für den Rest unseres Lebens. «Ich möchte lieber ins Terrarium. Da soll es Pfeilgiftfrösche geben, so bunt wie Edelsteine. Oder doch erst ins Tansania-Café? Ich brauche etwas Warmes.»
«Ganz, wie du möchtest, wertes Fräulein.» Er bot ihr den Arm, und sie hakte sich unter. Die Menschen strömten über die Wege, sammelten sich an den Zäunen um die nachgebauten Neger- und Indiodörfer, schnatterten und klatschten, wenn es irgendwo wieder eine völkerkundliche Sensation zu bestaunen gab. An der Seite des Liebsten zu spazieren ließ Amely sich ungemein erwachsen fühlen. Zwar bestaunte niemand das Pärchen, denn überall gab es wesentlich Interessanteres zu sehen. Aber gerade das machte es so wahr. Plötzlich zog Julius sie hinter eines der mannshohen Plakate, die überall an den Wegen Carl Hagenbecks Exotenschau hier in Berlin anpriesen. Er war so schnell, dass sie seines Mundes erst gewahr wurde, als er fast schon ihre Lippen berührte. Hastig schob Amely die Ellbogen vor.
«Nicht! In aller Öffentlichkeit - das geht doch nicht!»
«Aber hier ist das Plakat.» Julius klopfte gegen den hölzernen Aufsteller. «Und da dein Schirm. Niemand kann uns sehen.»
Er machte Anstalten für einen zweiten Versuch. Amely erwehrte sich seiner Hände um ihre Taille. «Hör auf. Wenn nun mein Vater zufällig herschaut! Er muss ganz in der Nähe sein. Und dann ist uns ein Donnerwetter gewiss. Er hat in letzter Zeit ohnehin so eine komische Laune.»
Mit einem entsagungsvollen Seufzer ließ Julius sie los. «Gut, das Gewitter möchte ich gerne verpassen. Obwohl, in letzter Zeit wirft er gar keine Blitze mehr. Gestern hat der Lehrjunge den Ofen im Kontor mit wichtigen Papieren angefeuert, und da hat's nicht mal eine Backpfeife gesetzt. Herr Wehmeyers Kopf ist von den neuen Zeichnungen und Plänen und Listen nicht mehr wegzukriegen.»
Amely hakte sich wieder bei ihm unter, und sie flanierten weiter. «Er lebt ja schon seit jeher fürs Geschäft. Aber in letzter Zeit ist es besonders schlimm.»
«Kautschuk boomt. Da muss er mithalten, das ist heute so.»
«Kautschuk macht was?»
«Das nennt man so. Kautschuk hat Konjunktur. Das ist schon seit Jahrzehnten so, seit Charles Goodyear die Vulkanisation erfunden hat, aber im Moment sind die Preise besonders hoch. Überall braucht man heutzutage Gummi - für Reifen, Motoren, Kleidung .»
«Schon, aber muss er jetzt diesen neumodischen Unfug bauen? Ein Fahrrad ist nützlich, aber eine Kraftdroschke? Wer soll diese teuren Dinger denn kaufen? Und wozu?»
«Also, ich habe von ein paar reichen Leuten gehört, die sich ein Automobil zugelegt haben.»
«Eben, das ist ein Spielzeug für Männer, die nicht wissen, wohin mit ihrem Geld. Und so viele gibt's davon leider nicht. Darauf will er jetzt sein Geschäft aufbauen? Und warum? Nur, weil ein Automobil im Gegensatz zu einer Pferdekutsche in zehn Minuten startbereit ist? Wann hat man es schon so eilig?»
«Liebes, die Welt will stets schneller werden, auch wenn sie es nicht muss.» Er grinste, weil sie sich so ereiferte. «Das jedenfalls hat dein Herr Papa neulich zu mir gesagt.»
«Kannst du ihn denn nicht von diesem Automobilistenunsinn abhalten?»
«Ich?» Er tat, was er täglich tausendmal tat: Er schob sich die Nickelbrille hoch. «Ich bin doch nur sein Kontorist. Aber tät er mich nach Brasilien schicken, um einen Kautschukwald für die Firma zu erschließen, ich würd's machen.»
«Du? Im Leben nicht.» Sie knuffte ihn in die Seite. «Du könntest es sowieso nicht ertragen, ohne mich zu leben.»
«Du würdest natürlich mitkommen.»
«Niemals!» Sie rief es so inbrünstig, dass er sie festhielt, als fürchte er, sie könne ihm weglaufen. «So eine Völkerschau ist ja ganz spannend, aber im wahren Leben muss ich nicht auf einen Regenwaldindianer treffen. Wirklich nicht. Bleib du schön hier, du Möchtegerngroßwildjäger. Deine Zukunft sind Papiere, Tinte und Stempel.»
«Wenn es dein Wille ist, Holde, werde ich auf ewig Aktenwagen durchs Wehmeyer'sche Kontor schieben. Schau, dort ist der Herr.»
Amely winkte dem Vater, und Theodor Wehmeyer schwenkte zur Begrüßung den Hut. Er saß unter einem großen Strohdach, wo zwischen kleinen Rundtischen Neger in weißen Burnussen herumliefen und Kaffee und Kuchen servierten. Julius machte einen Diener und schob Amely formvollendet den Korbstuhl zurecht. Der Vater zog eine Zigarre aus der Westentasche und reichte sie ihm. Zu Tisch bat er ihn jedoch nicht; es gehörte sich nicht, dass ein Angestellter beim Firmeninhaber saß. Auch nicht, wenn es der zukünftige Schwiegersohn war. Julius schob die Zigarre in seine Rocktasche und wartete in...
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