DIÄTEN WERDEN ZUM TRAUMA
In den letzten zehn Jahren haben wir im Rahmen unseres Easy-Weight-Programms Erfahrungen mit hunderten von Menschen gemacht, die sich von ihren unerwünschten Essgelüsten geplagt fühlen. Alle haben übereinstimmend berichtet, dass die richtigen Heißhungerphasen und bedenklichen Kühlschrank-Überfälle eigentlich erst nach dem ersten Versuch einer Reduktionsdiät-Versuch oder gar einer Fastenkur auftraten. Zuerst nimmt man zwar ab, doch ein paar Wochen oder Monate später setzte ein völlig unsinniges Essverhalten ein, wogegen man trotz besseren Wissens Willen völlig machtlos war.
EIN CHRONISCH PANISCHES ESSZENTRUM
Wir sind der Auffassung, dass Heißhungeranfälle aus dem gleichen Stoff wie Panikattacken gemacht sind. Wann immer ein biologischer Organismus eine einschneidende verletzende Erfahrung macht, ist er traumatisiert. Viele Kinder lieben beispielsweise Hunde. Wird ein kleines Kind aber von einem Hund gebissen, kann es noch als Erwachsener eine panische Angst vor Hunden behalten. Auch hierfür ist - wieder einmal - das limbische System mit seinen Mandelkernchen zuständig. Eine für viele andere Menschen freundliche, harmlose oder neutrale Situation ist jetzt für diese Person mit der schlechten Erfahrung mit einem Stressgefühl und einem damit verbundenen übertriebenen Verhalten verknüpft. Eine radikale Reduktionsdiät kann nach diesem Prinzip ebenfalls zu einem traumatisch übertriebenen, entfesseltem Hunger führen.
Diese fatale Gegenreaktion des verängstigten Esszentrums geht auch mit einer bemerkenswerten Veränderung unserer Appetit-Hormone einher. Denn wir haben ein Hormon, welches normalerweise wunderbar für unser Sattsein-Gefühl sorgt: Leptin nennt sich dieser natürliche Appetitzügler. Schon nach einer Woche Reduktionsdiät sinkt der Leptinpegel nachweislich bei allen Versuchspersonen um 54 %. Somit hat der Hunger dann sehr schnell keine natürliche Bremse mehr, die Heißhungerattacken nach Beendigung der Diät oder des Fastens sind programmiert.
Vorschläge für Reduktionsdiäten unter 1500 Kalorien oder gar für Fastenkuren werden täglich millionenfach angepriesen. Dadurch entsteht der Eindruck, dass es sich beim Abnehmen um einen völlig harmlosen Vorgang handelt - wie der Besuch beim Friseur oder der Kauf eines neuen Kleides. Tatsächlich aber gerät der Körper bei einer täglichen Essensmenge unter 1500 kcal physisch und psychisch schon in die gefährliche Nähe eines dramatischen Überlebenskampfes. Der Ernährungswissenschaftler Michael Hamm sagte hierzu: »Unter 1500 kcal gibt es nicht die Chance, dass der erwachsene menschliche Körper alle Stoffe, die er täglich benötigt, im ausreichenden Maße erhält - und sei die Diät auch noch so reichhaltig kombiniert. 1200 kcal sind noch gerade eben noch zu vertreten, darunter ist einfach zu wenig.«
Natürlich haben unsere Vorfahren früher auch gehungert. Doch Unterernährung über mehrere Tage hat ihr ganzes Denken sofort auf das Thema Essensbeschaffung konzentriert. Wie wir bereits wissen, misst unser Gehirn stets sorgfältig am Gemisch unseres Stoffwechselzustands, ob der Körper genug Nahrung erhalten hat. Fallen irgendwelche Werte über ein paar Tage zu niedrig aus, wird Essen zum wichtigsten Handlungsmotiv des Tages. Das gilt auch für einen gezielten Stoffwechselbedarf. Ein Mangel an Vitamin C kann beispielsweise dazu führen, dass man »Gelüste« auf Früchte entwickelt und diese vorübergehend gegenüber anderen Nahrungsmitteln bevorzugt.
Vielleicht denken Sie nun »Aber Fasten ist da doch sicher eine Ausnahme, denn es entschlackt und man fühlt sich wohl dabei.« Es spricht jedoch vieles dafür, dass das euphorische Schwebegefühl, welches man beim Fasten erleben kann, nichts anderes ist als ein sicherer Hinweis auf die körperliche Gefährlichkeit dieser Methode. Unser Nervenstoffwechsel verfügt nämlich über »autonome Reserven«, die sich nur bei drohender Lebensgefahr freisetzen. Dabei handelt es sich vor allem auch um eine übermäßige Ausschüttung der körpereigenen Endorphine, unseren Glückshormonen.
Endorphine sind dem Morphium verwandt. Wir alle verfügen über einen gewissen Endorphinspiegel, der uns das Leben freundlich und positiv erscheinen lässt. Beispielsweise werden auch beim Lachen größere Endorphinmengen ausgeschüttet. Geraten wir nun in körperliche Gefahr oder an körperliche Grenzen, spendiert uns das Nervensystem eine große Extraportion dieser Glücksdusche. Das soll uns dazu befähigen, körperliche Qualen für eine Weile nicht zu spüren, um der gefährlichen Situation entkommen zu können.
So spüren Menschen mit schweren Verwundungen im Schock manchmal keinerlei Schmerzen. Auch Marathonläufer erleben beim kilometerlangen Laufen nach einer unerträglichen Erschöpfungsphase plötzlich einen »Endorphin-Kick« und »schweben« dann weiter auf ihr Ziel zu. Viele dieser Läufer berichten sogar über eine regelrechte Sucht nach diesem Glückserlebnis. Dieses mit körperlichen Exzessen herbeigeführte Glückserlebnis ist allerdings ein sicheres Zeichen dafür, dass unser Überlebenszentrum von der Existenz einer äußerlichen Lebensgefahr ausgeht.
In diese Kategorie der »rosaroten Wolke« gehört auch das »tolle Gefühl« beim Fasten. Eine Stoffwechseldusche benebelt die quälenden Hunger- und Erschöpfungsgefühle oder gar aufkommende Angst vor dem Hungertod.
Und sollte es tatsächlich zu diesem traurigen Ende kommen, sorgen die Endorphine auch dafür, dass man es nicht gar so schlimm findet, jetzt zu sterben.
Man sollte sich daher bewusst machen, dass die autonomen Reserven wirklich nur für körperliche Grenzerfahrungen reserviert sind und es deshalb nicht empfehlenswert ist, diese Notreaktionen künstlich herbeizuführen. Denn alle Notreaktionen können im Nervensystem Stressspuren hinterlassen, was man im Fachjargon Traumatisierung nennt.
Das »tolle Gefühl« beim Fasten ähnelt übrigens auch frappierend dem Krankheitsbild der so genannten »Manie« - dem Gegenspieler der Depression. Menschen haben in manischen Phasen ebenfalls kaum oder gar keinen Appetit und erleben ein Hochgefühl an Leistungsvermögen und prächtiger Laune. In diesem Zustand überschätzen sie sich total, verausgaben sich in körperlicher Überanstrengung und richten in ihrer ungehemmten Euphorie oft auch noch finanziellen Schaden an. Es ist nicht auszuschließen, dass sich Menschen beim Fasten schlichtweg auf künstlichem Wege in eine manische Phase hinein entwickeln, die auch aus einem psychiatrischen Blickwinkel heraus keinesfalls als gesund zu bezeichnen ist.
Meistens wird das Argument genannt, die Menschen hätten schon seit Jahrhunderten gefastet, auch aus religiösen Gründen, daher könne doch nichts Falsches dabei sein. Aber allein die Tatsache, dass Menschen bestimmte Sachen schon seit Jahrhunderten praktizieren, beweist noch lange nicht ihre Richtigkeit. Denken Sie z. B. an China, wo den Frauen über Jahrhunderte die Füße geschnürt wurden. Sie wurden dadurch so verkrüppelt, dass die Frauen ihr Leben lang nur unter brutalen Schmerzen und in winzigen Schritten laufen konnten. Der Spruch »Hat man schon immer so gemacht!« ist gewiss nicht automatisch ein Gütesiegel für das Statement: »Dann muss es auch gut sein.«
Zusätzlich bergen Fasten oder andere radikale Reduktionsdiäten die große Gefahr, dass sich statt Fettgewebe Muskelgewebe abbaut. Im Alter über 30 kann der Schwund an Muskelgewebe so groß sein, dass man ihn auch durch Sport nur sehr schwer wieder aufholen kann. Übrigens ist der viel zitierte und als harmlos dargestellte »Flüssigkeitsverlust« beim Abnehmen ein sicheres Zeichen dafür, dass Muskelmasse abgebaut wird, da Muskulatur zu einem großen Teil aus Wasser besteht. Der Verlust von Muskelmasse führt leider langfristig zu einer hartnäckigen Verfestigung von Übergewichtsproblemen.
Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass unser Nervensystem radikale Hungerkuren als traumatische Stresserinnerungen abspeichert, selbst wenn wir uns in diesen Phasen subjektiv wohl und leistungskräftig gefühlt haben. Dieses subjektive Wohlgefühl war nur eine durch den Nervenstoffwechsel organisierte emotionale Fata Morgana, die uns an der völligen Verzweiflung und damit an der Vernichtung unseres Überlebenswillens gehindert hat.
WAS IST EIN TRAUMA?
Um die Auswirkungen von Traumatisierung zu verstehen, muss man sich wieder ein bisschen mit der Arbeitsweise des Gehirns beschäftigen. Eine chronische Traumatisierung entsteht, wenn eine schlimme emotionale oder auch lebensbedrohliche Erfahrung allzu tiefe Gedächtnisspuren hinterlassen hat. Diese emotionalen Erlebnisqualitäten können sein:...