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2.
Der Fundort
CHRISTOPH BRANDES WÄRE gerne zu der Fundstelle mit hinausgefahren, wegen des Anlasses und wegen der Örtlichkeit, aber sie sagten ihm, er solle das noch den älteren Kollegen überlassen. Ein Toter sei meistens kein schöner Anblick. Dabei hatte er sich vorgenommen, in kürzester Zeit alles Notwendige für seine Tätigkeit hier in dieser Region und über die Region selbst zu lernen. Ereignisse und Abläufe, Personen, Institutionen, Namen, Örtlichkeiten. Danach hätte er Zeit, sich mit der Historie zu befassen, um das Land und die Menschen besser zu verstehen. Mit der Geschichte des Meldorfer Domes etwa, dieser alten, weit über das flache Land blickenden Kirche, die er täglich auf dem Weg zur Zentralstation umrunden musste. Deren Renovierung nach vielen Jahren noch nicht abgeschlossen war, wie er bei einem ersten kurzen Blick in das Gotteshaus festgestellt hatte, die vielleicht auch nie beendet werden könnte. Mit den Eigentümlichkeiten der Dithmarscher Bauernrepublik, die in der Fehde von 1559 unterging, nachdem sie sich in der Schlacht bei Hemmingstedt im Jahre 1500 gegen ein mächtiges Heer verteidigen konnte und die im Selbstbewusstsein der Bewohner und im Sprachgebrauch weiterlebte, als hätte sie bis gestern bestanden. Mit dem Dithmarscher Landesmuseum, das einen tiefen Blick in die Vergangenheit des Gebietes bot, das sich selbst einst ein 'Land' genannt hatte. Und um die jungen Frauen würde er sich kümmern. Sich vielleicht sogar eine Partnerin suchen. Sie waren anders als in der Heimat seiner Jugendjahre. Schlanker, blonder, so kamen sie ihm vor. Nordischer. Interessierter und aufgeschlossener, selbst wenn er in der Disco gerade keine Uniform, sondern gewöhnliche Alltagskleidung trug.
Jetzt nahm Brandes sich die Zeit, sich den Weg zum Alten Meldorfer Hafen auf dem Übersichtsplan zu suchen und einzuprägen. Den Weg, den der Streifenwagen nehmen würde. Die Strecke, die die Kriminalbeamten aus Heide zu fahren hätten.
Nähert man sich von Süden, von der Hafenstraße kommend, dem Alten Meldorfer Hafen, so führt die Straße 'Unter dem Deiche' zunächst an wenigen Wohnhäusern entlang über einen Nebenarm der Miele, eines kleinen Flüsschens zur Entwässerung der flachen Landschaft, auf die Miele-Insel.
Einige Ort- und Straßennamen waren für Brandes auch nach den ersten wenigen Wochen seiner Tätigkeit in Meldorf noch verwirrend, aus verständlichen Gründen nicht nur für ihn, was vielleicht ein schon früher Zugereister, aber nie ein Einheimischer eingestanden hätte. Sie spotteten höchstens einmal über den Namen einer Straße in der weiter südlich gelegenen Stadt Brunsbüttel. 'Wurtleutetweute'.
Der Weg von der Stadt aus zu dem nahe gelegenen alten Hafen führt über die Landesstraße mit der Ordnungsnummer L 153 und dem Namen 'Hafenchaussee'. Sie erreicht aber nicht den Hafen, sondern wendet sich bereits frühzeitig ab nach Norden, auf Wöhrden zu. Auch die in der Kurve nach Süden abzweigende 'Hafenstraße' umrundet lediglich das Hafengebiet in respektvollem Abstand, um nach Westen in das an die Nordsee angrenzende Naturschutzgebiet des Speicherkooges zu führen, zu dem dortigen kleinen Sportboothafen, dem jüngeren, aber heute eigentlichen 'Meldorfer Hafen'. Der 'Alte Meldorfer Hafen', auch 'Meldorferhafen' geschrieben und als Wohnplatz amtlich so bezeichnet, als fiele es dann leichter, ihn von dem jüngeren Bruder zu unterscheiden, der 'Alte Meldorfer Hafen' hat dagegen als Hafen seit Jahrzehnten keinerlei Bedeutung mehr, noch nicht einmal eine für Sportboote taugliche Verbindung zum Meer. Hier gibt es ein paar Wohnhäuser, deren Besitzer gegen eine Minderung ihrer beschaulichen Ruhe durch Gewerbebetriebe kämpfen, durch wenige seit Jahren bereits ansässige Unternehmen und durch befürchtete neue Ansiedlungen. Einige Gewerbebetriebe nutzen noch immer die historischen rechtlichen Standortvorteile des Gebietes, ohne einen Hafen zu benötigen. Trotzdem sieht es am Hafenstrom mehr nach Verfall aus, nach einem ungeliebten Friedhof gewerblicher Träume. Ein verfallendes Dach hinter einer noch immer beeindruckenden Ziegel-Fassade eines seit Jahrzehnten nicht mehr benötigten Speichers. Eingeschlagene, nur notdürftig mit ausgebleichten Brettern verschlossene Fenster. Wie ein unbeabsichtigtes Symbol hat sich ein Abbruchunternehmen neben der früheren Papierfabrik niedergelassen, auf die wenige Jahre nach ihrer Schließung noch nicht einmal ein kleines, einsames Schild verweist, junge Birken in der aufgeplatzten Dachhaut.
Auch der Straßenname 'Unter dem Deiche' war für Brandes zunächst unverständlich gewesen, weil sich die Straße nicht unter dem Deich, sondern daneben befindet. Genau genommen liegt sie hinter dem Deich, da die Vorderseite eines Deiches seiner Zweckbestimmung nach der See zugewendet ist. Aber die Straße heißt nicht 'Neben .' oder 'Hinter .' oder auch nur 'An .' dem Deich. Nein, da ein Deich mit seiner geschätzten imposanten Höhe von etwa sieben oder vielleicht auch acht Metern die flache Marsch weithin dominiert, liegt alles Flachere 'Unter .' ihm. Das hatte er bald verstanden.
Geht man auf dem anschließenden 'Schleusenweg' entlang des Meldorfer Hafenstromes, darf man nicht an große Schleusen wie die des Nord-Ostsee-Kanals in dem wenige Kilometer südlich gelegenen und bereits erwähnten Brunsbüttel denken, die Seeschiffe auf den Weg quer durch das Land in die Ostsee oder zurück in die Elbe lassen. Schleusen sind in der Marsch zumeist unsichtbare Bauwerke, die dem Niederschlagswasser einen Weg durch den Deich in die Nordsee öffnen. Und so ist der Meldorfer Hafenstrom nur noch ein kurzer Abschnitt im Wasserlauf der Miele, die für die unverzichtbare Entwässerung der weiten, flachen Landschaft sorgt, und die der Straße ihren Namen gebende Schleuse dient nicht dem Schiffsverkehr, sondern der Regulierung des Wasserstandes im Binnenland.
Brandes' Augen folgten auf dem Stadtplan der Straße, der kurzen Fortsetzung des Schleusenweges, die hinter der Brücke über den Hafenstrom durch das Gebiet nach Norden verläuft. Sie endet nach zwei weiteren Namensänderungen an der bereits genannten, nach Norden führenden Landesstraße, hier unter der plattdeutschen Schreibweise ihres anfänglichen Namens 'Ünnern Diek' und nicht wie ihre Fortsetzung in die entgegengesetzte Richtung nach Südwesten, die nach ihrer rechtzeitigen Übersetzung ins Hochdeutsche 'Unterm Deich' heißt. Sie hatten auf der Polizeischule lange darüber gesprochen, über die Notwendigkeit einer präzisen Ansprache des Einsatzortes. Brandes hatte es verstanden, erinnerte sich jetzt an ihre Wichtigkeit, er nickte bestätigend mit dem Kopf.
Kriminalhauptkommissar Hans Jensen hatte es da leichter. Als die Meldung in seinem Büro in der Kriminalpolizeistelle Heide in dem großen Ziegelsteingebäude am Heider Marktplatz einging, hatte er eine genaue Vorstellung von der Örtlichkeit. Jensen war in Hemmingstedt aufgewachsen, etwa auf halber Strecke zwischen Heide und Meldorf. Sein Vater arbeitet dort als Anlagenfahrer in der Erdölraffinerie, noch wenige Jahre, er zählt sie bereits, bis er 'in Rente' gehen wird. Seine Mutter arbeitete schon damals als Erzieherin im Kindergarten. Er erinnerte sich, in seinen Jugendjahren mit Freunden im Hafenstrom gebadet zu haben, geschwommen zu sein. Der Weg zur Küste, zum Strand war ihnen oft zu weit und die Gelegenheit im Hafenstrom war origineller. Die neue Schleuse staute im trockenen Sommer den Wasserstand in dem kleinen Fluss auf, um den landwirtschaftlich genutzten Flächen genug Feuchtigkeit zu lassen, und niemand von ihnen fragte nach der Qualität und Sauberkeit des Wassers. Er sah in Gedanken die Brücke, den Wasserlauf, die zum Teil bereits verfallenden Gebäude auf seinen Ufern. Er sah die sich balgenden Freunde und hörte ihre Freudenschreie, wenn einer von ihnen ungewollt ins Wasser musste.
Der Wachhabende hatte die Mitteilung der Polizeizentralstation Meldorf aufgenommen: Alter Meldorfer Hafen, Leichenfund an der Brücke über den Hafenstrom, Meldung neun Uhr fünfzehn. "Gibt es Anzeichen von Einwirkung fremder Gewalt?", hatte er gefragt. "Bisher keine Erkenntnisse", lautete die Antwort, "ein Streifenwagen ist unterwegs, sieht wohl eher nach einer Selbsttötung aus." Also musste einer von ihnen raus. Anderenfalls wäre es ein Fall für die Mordkommission in Itzehoe gewesen.
Als Polizeioberrat Stoldt, der Leiter der Polizeistelle Heide, den Fall einem Mitarbeiter zuteilen wollte, scherzten die Kollegen: "Lassen Sie das den Jensen machen. Der gibt doch wieder erst Ruhe, wenn er einen zur Leiche passenden Mörder gefunden hat." Sie erinnerten sich alle noch zu gut an den Tod von Deichbaumeister Peters vor zwei Jahren, den alle für einen Unfall gehalten hatten, bis Jensen einen Mörder präsentieren konnte. Stoldt mochte diese Scherze unter den Mitarbeitern nicht, sah aber, dass auf diese Art Vorbehalte unter den Kollegen abgebaut werden konnten. Und Jensen blieb, wenn er solche Bemerkungen hörte, gelassen, unterdrückte aufkommenden Unwillen. Sah eher die Anerkennung in den Äußerungen, die ihn ein wenig stolz machte und seinen Eifer anregte.
Hans Jensen war 36 Jahre alt. Er war ernsthaft und ehrgeizig und wegen seiner Ermittlungserfolge vorzeitig zum Hauptkommissar ernannt worden. Das machte ihn zwar nicht beliebt, hinter seinem Rücken nannten sie ihn abwertend "den Streber", aber sie hatten sich auf kollegialer Ebene miteinander arrangiert. Vielleicht würde er ja nicht mehr lange in der Kriminalpolizeistelle Heide bleiben, sagten sie sich. Es war ein offenes Geheimnis, dass er auf andere Aufgaben hoffte, am liebsten als Lehrer an der...
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