Schweitzer Fachinformationen
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Baikalsee, Sibirien
Freitag, 18. Januar
15 Uhr
Bittere Erfahrungen hatten Cotton Malone gelehrt, dass totale Abgeschiedenheit normalerweise Ärger ankündigte.
Und der heutige Tag bildete da keine Ausnahme.
Er flog eine 180-Grad-Schleife, damit er noch einmal hinuntersehen konnte, bevor er landete. Die blasse messingfarbene Sonne stand tief im Westen. Der Baikalsee lag unter einer winterlichen Eisschicht, dick genug, um darauf fahren zu können. Er hatte bereits Lkw ausgemacht, Autobusse und Pkw, die in alle möglichen Richtungen über die milchig-weißen Bruchkanten fuhren, und deren Reifenspuren diese vergänglichen Schnellstraßen anzeigten. Andere Autos parkten um Angellöcher herum. Er erinnerte sich aus dem Geschichtsunterricht daran, dass man im frühen 20. Jahrhundert Eisenbahnschienen über das Eis gelegt hatte, um während des Russisch-Japanischen Krieges Nachschub in den Osten zu transportieren.
Allein durch seine Zahlen wirkte der See fantastisch. Er wurde von einem uralten kontinentalen Grabenbruch gebildet, der dreißig Millionen Jahre alt war. Er galt als der älteste See der Welt und enthielt ein Fünftel des gesamten Süßwasservorrats weltweit. Dreihundert Flüsse speisten ihn, doch es gab nur einen einzigen Abfluss. Der See war fast 100 Meilen lang, bis zu fünfzig Meilen breit und erreichte eine Tiefe von bis zu 1600 Metern. Das Ufer hatte eine Länge von über 1200 Meilen, und dreißig Inseln verteilten sich auf der kristallklaren Oberfläche. Auf Landkarten sah der See in Südsibirien wie ein halbmondförmiger Bogen aus, er lag 2000 Meilen westlich vom Pazifik und 3200 Meilen östlich von Moskau, in dem großen, menschenleeren Gebiet Russlands nahe der Grenze zur Mongolei. Man hatte ihn zum Weltnaturerbe erklärt. Auch darüber dachte Malone nach, weil das normalerweise ebenfalls mit Ärger verbunden war.
Der Winter hatte Land und Wasser fest im Griff. Die Temperatur stagnierte um minus achtzehn Grad Celsius, überall lag Schnee, doch glücklicherweise fiel gerade keiner. Mit einem kurzen Zug am Steuerknüppel ging er auf eine Höhe von 700 Fuß. Die Kabinenheizung blies warme Luft auf seine Füße. Das Flugzeug stammte von einem kleinen Flugfeld außerhalb von Irkutsk und war ihm von den russischen Luftstreitkräften zur Verfügung gestellt worden. Weshalb es zu dieser intensiven russisch-amerikanischen Kooperation kam, wusste er nicht, doch Stephanie Nelle hatte ihm befohlen, sich das zunutze zu machen. Normalerweise wurden für eine Einreise nach Russland Visa benötigt. Während seiner Zeit als Agent beim Magellan Billet hatte er oft falsche Visa verwendet. Auch der Zoll hätte Probleme machen können, doch diesmal gab es überhaupt keinen Papierkram, und kein Behördenvertreter hatte ihm die Einreise erschwert. Stattdessen war er mit einem russischen Sukhoi/HAL-Kampfflugzeug der neuen Zweisitzer-Ausführung ins Land geflogen. Sein Ziel war ein Luftwaffenstützpunkt nördlich von Irkutsk gewesen, wo fünfundzwanzig Tupolew Tu-22M-Mittelstreckenbomber aufgereiht am Rollfeld standen. Ein Ilyushin-II-78-Tankflugzeug hatte während seines langen Fluges das Nachtanken ermöglicht. Am Luftwaffenstützpunkt hatte ein Helikopter gewartet, der ihn weiter nach Süden brachte, wo dieses Flugzeug für ihn bereitstand.
Die An-2 war eine einmotorige Doppeldeckermaschine mit einem abgeschlossenen Cockpit und einer Fahrgastkabine, in der zwölf Passagiere Platz hatten. Wegen des Vierblattpropellers rüttelte der dünne Aluminiumrumpf unablässig, als er sich in unruhigem Flug durch die eiskalte Luft schraubte. Er wusste nur wenig über dieses sowjetische Arbeitspferd aus dem Zweiten Weltkrieg, das langsam und ruhig flog und dabei kaum Steuerungskorrekturen erforderte. Diese Maschine war mit Kufen ausgestattet, die es ihm ermöglicht hatten, von einer verschneiten Bahn aus zu starten.
Er flog die Kurve aus und änderte dann den Kurs nach Richtung Nordosten, über dicht bewachsene Wälder hinweg. Große Felsbrocken ragten wie die Zähne eines Tieres in gezackten Linien über die Bergrücken. In der Ferne glitzerten an einem Hang ganze Batterien von Hochspannungsleitungen im Sonnenlicht. Das Land hinter dem Seeufer lag teils brach, dann und wann unterbrochen von kleinen Gruppen von Holzhäusern. Es gab aber auch Birken-, Tannen- und Lärchenwälder, und schließlich kamen die schneebedeckten Berge. Auf einem Felsgrat entdeckte er sogar einige alte Artilleriestellungen. Und er konnte eine Gruppe von Gebäuden erkennen, nahe am östlichen Ufer, gleich nördlich der Stelle, wo der Selengafluss nach seinem langen Weg durch die Mongolei in den See strömte. Das versandete Flussdelta bildete ein beeindruckendes, zu Eis erstarrtes Gewirr von Kanälen, Inseln und Schilfflächen.
»Was sehen Sie?«, fragte Stephanie Nelle über das Headset.
Das Kommunikationssystem der An-2 war mit seinem Handy verbunden, sodass sie miteinander reden konnten. Seine ehemalige Chefin überwachte alles von Washington aus.
»Eine Menge Eis. Es ist unglaublich, dass etwas so Großes so fest zusammenfrieren kann.«
Tiefblauer Dampf schien im Eis eingebettet zu sein. Ein wirbelnder Nebel aus Pulverschnee fegte über die Oberfläche. Der diamantartige Staub glitzerte in der Sonne. Er machte einen weiteren Überflug und inspizierte die unter ihm liegenden Gebäude. Zur Vorbereitung hatte er Satellitenaufnahmen der Gegend bekommen.
Jetzt sah er alles aus der Vogelperspektive.
»Das Hauptgebäude liegt abseits vom Dorf, circa eine Viertelmeile nördlich«, sagte er.
»Irgendwelche Aktivitäten?«
Das Dorf mit den Holzhäusern wirkte ruhig, nur flauschige Rauchschwaden kräuselten sich aus den Schornsteinen und ließen auf Bewohner schließen. Die Siedlung zog sich in die Länge, ohne sich irgendwo zu verdichten, und eine einzige geteerte Straße, die von Schnee gesäumt war, führte hinein und ein Stück weiter wieder hinaus. Eine Kirche aus gelben und rosafarbenen Holzbohlen mit zwei Zwiebeltürmen markierte das Zentrum. Sie befand sich in Ufernähe. Zwischen den Häusern und dem See erstreckte sich ein Kiesstrand. Man hatte ihm erzählt, dass das östliche Ufer weniger besucht werde und dünner besiedelt sei. In den etwa fünfzig Gemeinden lebten nur knapp 80 000 Menschen. Das südliche Ufer des Sees hatte sich zu einer Touristenattraktion entwickelt und war im Sommer bevölkert, doch das restliche Ufer, das sich über Hunderte von Meilen hinzog, blieb unberührt.
Genau das war der Grund, weshalb es das Dorf unter ihm überhaupt gab.
Seine Bewohner nannten es Chayaniye, was »Hoffnung« bedeutete. Sie wünschten sich nichts weiter, als in Ruhe gelassen zu werden, und die russische Regierung hatte ihnen über zwanzig Jahre lang diesen Gefallen getan. Sie waren die Rote Garde: die letzte Bastion eingefleischter Kommunisten, die es im neuen Russland noch gab.
Man hatte ihm gesagt, das Haupthaus wäre eine alte Datscha. Jeder angesehene Sowjetführer seit Lenin hatte ein solches Landhaus besessen und die Statthalter der Provinzen im fernen Osten waren da keine Ausnahme gewesen. Das Haus direkt unter ihm stand auf einem Felsbuckel, der in den gefrorenen See hineinreichte, und lag am Ende einer gewundenen Teerstraße, die durch ein dichtes Gewirr schneebedeckter Fichten verlief. Es war auch kein kleines Gartenhäuschen aus Holz, vielmehr schienen die ockerfarbenen Wände aus Ziegeln und Zement zu bestehen. Das Haus war zweigeschossig und hatte ein Schieferdach; zwei vierrädrige Fahrzeuge parkten an der Seite. Aus dem Schornstein des Hauses stieg dichter Rauch auf, auch aus dem Schornstein eines der hölzernen Nebengebäude, von denen es etliche gab.
Es war allerdings kein Mensch zu sehen.
Malone vollendete seinen Vorbeiflug und zog nach rechts für einen weiteren engen Kreis zurück über den See. Er liebte es zu fliegen, und hatte ein Talent dafür, die Maschine in der Luft zu steuern. Er würde schon bald die Kufen brauchen, wenn er fünf Meilen südlich in der Nähe der Stadt Babuschkin auf dem Eis landen und die Maschine bis zu den Docks rollen lassen würde, wo es, wie man ihm gesagt hatte, in dieser Jahreszeit keinen Schiffsverkehr gab. Dort sollte für sein Fortkommen über Land gesorgt sein, sodass er nach Norden fahren konnte, um sich diese Siedlung noch genauer anzusehen.
Ein letztes Mal flog er über Chayaniye und die Datscha hinweg, dann ging er in den Landeanflug auf Babuschkin. Er kannte die Geschichte vom Großen Sibirischen Marsch während des russischen Bürgerkriegs. Dreißigtausend Soldaten hatten sich über den gefrorenen Baikalsee zurückgezogen, wobei die meisten gestorben waren. Ihre Leichen waren bis zum Frühling im Eis eingeschlossen gewesen und erst dann endgültig im tiefen Wasser untergegangen. Dies war ein grausamer und brutaler Ort. Wie hatte ihn einst ein Schriftsteller genannt? Kaltschnäuzig gegenüber Fremden, rachsüchtig gegenüber Unvorbereiteten.
Er glaubte es.
Ein Aufblitzen zwischen den hohen Kiefern und Lärchen erregte seine Aufmerksamkeit. Die grünen Zweige bildeten einen starken Kontrast zu dem weißen Boden darunter. Etwas kam aus den Bäumen auf ihn zugeflogen und zog eine Rauchspur hinter sich her.
Eine Rakete?
»Ich bekomme Probleme«, sagte er. »Jemand feuert auf mich.«
Er reagierte nach seiner jahrelangen Erfahrung instinktiv, wie ein Autopilot. Er zog hart nach rechts, senkte die Nase des Flugzeugs tiefer und verlor rasch an Höhe. Die An-2 reagierte wie ein Sattelschlepper, deshalb setzte er die Kurve steiler an, um schneller an Höhe zu verlieren. Der Mann, der ihm das Flugzeug übergeben hatte, hatte ihm eingeschärft, den Steuerknüppel fest im Griff...
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