Kapitel 1
Halifax, Kanada, August 1937
Donner grollte und erzeugte ein Echo in Helens Herzen. Blitze durchzogen den grauen Himmel über ihr. Schwarze und schwere Wolken hingen drohend über dem Crystal Crescent Beach, doch sie rannte ungeachtet des Windes weiter, der an ihrem blauen Rüschenkleid zerrte. Die Regentropfen auf ihrer erhitzten Haut zu spüren rief in ihr das Gefühl von Freiheit wach.
Helens nackte Füße hinterließen Spuren im feuchten Sand, in den sich ihre Zehen gruben, während ihr das blonde Haar ins Gesicht peitschte.
Den spitzenbesetzten Saum zog sie hinter sich her, mit größter Wahrscheinlichkeit war er voller Sand. Wenn Mutter das sehen würde, dachte Helen, würde sie der Schlag treffen.
Doch Mutter war nicht hier, sie hingegen schon. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, das immer breiter wurde, je schneller sie rannte. Ihre Lungen füllten sich mit Luft. Schwüler, salziger Luft.
Die junge Frau hielt nicht an, rannte weiter den Strand entlang. Das Rauschen der Wellen war ohrenbetäubend laut, während sie immer höher und höher wurden und sich schließlich am Strand brachen. Kühles Wasser umspielte die schlanken Beine und entlockte ihr ein Lachen. So klar und echt, dass sie gar nicht mehr aufhören konnte. Helen war glücklich wie schon lange nicht mehr.
Ihr Herz pochte wild in ihrer Brust, versicherte ihr, dass sie noch lebte und nicht in der Stube ihres Elternhauses langsam dahinsiechte, während sie mit einer Stickarbeit beschäftigt war.
Auch ihr Vater wäre wütend auf sie, wüsste er, wo sich Helen aufhielt. Sie war die jüngste Tochter und die einzige, die noch zu Hause lebte.
Ihre zwei älteren Schwestern Ernestine und Clementine waren bereits verheiratet und Teil des kanadischen Adels geworden. Nur sie, Helen Ashton, war noch zu haben und das in einer Zeit, in der vereinzelte Frauen studierten und werden konnten, was sie wollten, aber ihr Vater, Arthur Ashton, war kein Freund dieses Fortschrittes. Er liebte die Beständigkeit der Aristokratie, der Oberschicht, die verstaubt war und überschätzt wurde.
Mit ihren sechzehn Jahren war sie noch zu jung, um an eine Heirat zu denken oder eine Familie zu gründen. Sie wollte unabhängig sein, und vor allem wollte sich Helen nicht wegen dieser Liebessache in etwas drängen lassen, das sie nicht glücklich machte.
Das hier, dachte sie und drehte sich um ihre eigene Achse, sah dabei zum Himmel und zuckte nicht mit der Wimper, als ein Blitz für einen Augenblick alles illuminierte, machte sie glücklich. Allein am Strand zu sein, während der Sturm tobte und sich keine Menschenseele aus dem Haus wagte.
Es zog sie weiter, und je mehr Helen an Tempo gewann, desto mehr fing ihre Lunge an zu rebellieren. Sie ignorierte es, bis es nicht mehr ging. Das Stechen in der Seite machte ihr zu schaffen, genauso wie das Brennen in den Waden. Sie wurde langsamer und blieb auf einer kleinen Anhöhe stehen, überblickte die aufgebrachte See, während der Regen sie bis auf die Haut durchnässte.
Mit ihren Fingern strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und kam zu Atem. Die Zunge klebte an ihrem Gaumen.
Wie lange sie gerannt war, konnte Helen nicht sagen, aber dem Durstgefühl nach zu urteilen, das sie nun beschlich, war es lange genug gewesen.
Aus einem kindlichen Impuls heraus legte sie den Kopf in den Nacken und streckte die Zunge heraus. Tropfen um Tropfen landete darauf und linderte das Trockenheitsgefühl zumindest etwas. Immer wieder sammelte sie den Regen und schluckte ihn herunter. Salzig und doch süß zugleich.
Helen runzelte die Stirn und sah sich um.
Hatte sie jemanden gehört? Vom Haus kommt niemand her, dachte sie, als sie niemanden sehen konnte.
Der dünne Stoff des Kleides klebte an ihren Armen und hatte sich zwischen den Beinen verheddert. Mit zwei Handgriffen war dies behoben. Ein plötzliches Geräusch ließ sie aufhören
»Hallo?«, rief Helen laut, um das Grollen des Donners zu übertönen. Den Atem anhaltend, um es besser hören zu können, stand sie da, während das Rauschen des Meeres und das Tosen des Windes ihr unmöglich machten, etwas anderes wahrzunehmen.
»Ist hier irgendwer?«, versuchte sie es erneut.
Langsam setzte sich Helen in Bewegung in die Richtung, aus der sie glaubte, etwas vernommen zu haben. Der Sand hatte sich mit Regen vollgesogen, sodass sie aufpassen musste, wohin sie trat. Trotz ihrer Vorsicht rutschte sie aus und schlitterte einen kurzen Augenblick, ehe Helen das Ende des Hügels erreicht hatte.
»Hallo? Ist hier jemand?«
Mit den Händen formte sie einen Trichter und wiederholte die Worte. Dies tat sie so oft, bis sie sich sicher war, dass sie sich nicht getäuscht hatte.
»Ich . bin hier!«, hörte sie in dem Moment, als ein greller Blitz die Umgebung erhellte.
Ihr Herz blieb stehen, denn keine zwanzig Meter vor ihr sah sie jemanden. Einige Felsbrocken, die sich von der Klippe gelöst hatten, lagen in einer kleinen Kurve des Strandes. Zwischen den Steinen hatten sich Hohlräume gebildet.
Helen wusste, wie gefährlich es dort war, und fragte sich, was dieser Mann an diesem Ort wollte. Ein erneuter Hilferuf riss sie aus ihren Gedanken. Sie raffte ihren Rock und rannte los.
»Ich komme, halten Sie durch!«, rief sie.
In ihrem Kopf purzelten die Gedanken herum, überschlugen sich, und als sie nahe genug war, erkannte Helen, dass ein junger Mann zwischen zwei Felsen feststeckte. Genau, wie sie geahnt hatte. Ohne Hilfe würde er es nicht herausschaffen.
»Keine Sorge, ich bin bei Ihnen, Mr«, sagte sie selbstbewusst, obwohl sie so etwas noch nie getan hatte.
»Menschen helfen kann ich, einen Fuß aus einer Felsspalte befreien ist etwas, wovon ich nur gehört habe«, sagte sie zweifelnd. Einer von Vaters Geschäftspartnern war einmal in der Karibik in einer ähnlichen Lage gewesen. Er hatte ihnen davon erzählt. Wie viel ausgeschmückt war, um sie zu beeindrucken, wusste sie nicht, aber Helen war auf dem besten Weg, es herauszufinden.
Das kraftlose Stöhnen des bis auf die Knochen durchnässten Mannes riss sie aus ihren Gedanken.
»W-woher k-kommen Sie?«, fragte er stotternd.
Helen sah ihm in seine blauen Augen, die sich mit dem Ozean an friedlichen Tagen messen konnten, und lächelte.
»Mich hat der Himmel geschickt«, antwortete sie und zwinkerte ihm zu, was er mit einem schiefen Lächeln erwiderte.
»Nein, i-im Ernst. Was . was machen Sie hier?«, brachte er mühevoll hervor, während sie sich von seinem verwegenen Antlitz losriss, um sich seinem Fuß zu widmen.
Wenigstens passten ihre schmalen Finger zwischen die Steine, um die Ferse zu ertasten. Sie versuchte, ihn nach oben zu drücken, doch das änderte nichts an der beinahe ausweglosen Situation.
Außer, dass es den Mann zum Schreien brachte, weshalb Helen ihn entschuldigend ansah. Sie biss sich auf die Lippe und bemerkte, wie er sie betrachtete. Die Röte schoss ihr ins Gesicht, sodass sie sich abwandte und die Hand aus dem Felsspalt zog. Nachdem Helen aufgestanden war, wischte sie die eiskalten Finger an ihrem Rock ab.
»W-wollen S-sie g-gehen?«, fragte er panisch. Seine Stimme klang brüchig, was ihr Herz zusammenziehen ließ.
»Nein, ich lasse Sie bei diesem Sturm nicht zurück.«
Der Mann nickte zaghaft, als würde er ihren Worten nicht allzu sehr trauen.
»Ich werde es schaffen, Sie müssen aber mithelfen, ja?«, fragte sie und kniete sich wieder in den Sand.
Das Kleid war ruiniert, und Mutter wäre deswegen bestimmt erzürnt, doch das war ihr gleich. Allein die Rettung des Unbekannten erschien ihr wichtig, und so probierte sie es erneut.
Helen steckte ihre Hand in die Felsspalte und ertastete seine Ferse. Der robuste Schuh war zu groß für ihre Hand, sodass sie sich etwas mehr anstrengen musste, um ihn zu umfassen.
»Wenn ich jetzt sage, werden Sie versuchen, den Fuß herauszuziehen, ja?«
Seine blauen Augen fixierten Helen, als wäre sie tatsächlich ein Wesen des Himmels. Sie war nur ein junges Mädchen, das ausgebüxt war, um dem öden Alltag zu entkommen. Dass sie jemals einem Mann helfen würde, hätte sie nie für möglich gehalten.
Er nickte.
»Jetzt!«, rief Helen mit bebender Stimme. Sein Gesicht verzog sich zu einer seltsamen Grimasse, während er mit aller Kraft versuchte, den Fuß herauszuziehen. Der Schuh war zu groß und das Material zu glatt, sodass sie durch den Regen abrutschte und erneut scheiterte.
»Oh Gott! Das tut mir leid.«
Er stieß ein Fluchen aus, das sie erneut erröten ließ. Derartige Ausdrücke war sie nicht gewohnt, und doch nahm sie diese nicht als störend wahr.
»Nicht nachgeben«, presste sie hervor und gab ihm erneut das Zeichen. Wieder zog er sich ein Stück heraus, und dieses Mal funktionierte es. Helen bekam die Ferse zu fassen, drehte sie ein Stück, sodass der Fuß aus der Spalte herauskonnte, und sah, wie der Mann das Gleichgewicht verlor und hinfiel.
»Gott, verflucht!«, stöhnte er und hielt sich die verletzte Stelle.
Es blutete, bemerkte Helen erschrocken und richtete sich auf. Auch an ihrer Hand befand sich Blut, was ihre Lunge verkrampfen ließ.
Helen spürte, dass sie sich wie eine hysterische Frau verhielt, und atmete tief ein und aus. Nachdem sie sich beruhigt hatte, wischte sie das Blut an ihrem Kleid ab und ging auf ihn zu.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte sie besorgt. Der Regen hörte nicht auf, wurde stärker und wieder etwas schwächer. Mittlerweile war sie, obwohl es Sommer...