Schweitzer Fachinformationen
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Das Institut für Rechtsmedizin im Universitätskrankenhaus Eppendorf, kurz UKE, war ein schnörkelloser zweigeschossiger Containerbau im Zentrum Hamburgs. Mehr sollte man dazu nicht sagen. Als Frederica und Christian die Stufen zum verglasten Eingang hochgingen, fiel Frederica auf, wie perfekt die hässliche, lieblose Atmosphäre ihren Zweck erfüllte und sie auf die bevorstehende Leichenschau einstimmte.
Es war früh am Morgen und bitterkalt. Der Himmel hatte eine geschlossene, graue Wolkendecke zusammengeklebt und machte keinerlei Anstalten, diesen Zustand in absehbarer Zeit zu ändern. Frederica verkroch sich tief in ihren riesigen hellbraunen Kaschmirschal und versuchte, ihren Partner zu ignorieren, der sie wegen der Hauruckaktion von gestern immer noch böse ansah.
Ihr war nicht gut.
Hatte sie tatsächlich gestern den Hilferuf einer Toten gehört und danach gehandelt? Oder hatte sie ihn sich nur eingebildet? Was wäre, wenn sie alles lediglich falsch verstanden hätte? Vielleicht hatte jemand ganz anderer nach ihr gerufen oder womöglich sogar überhaupt keiner? Was wäre, wenn Sabine Gross sich doch umgebracht hätte, weil sie es so gewollt hatte? Wenn sie eine Entscheidung getroffen hätte, die nur ihr allein zustand und die niemand anderer für sie hätte treffen dürfen? Was wäre, wenn sie jetzt völlig überflüssigerweise hier stünden?
Sie sah auf ihre Hände und versuchte, sich wieder zu beruhigen. Doch die Stimme in ihr wurde lauter. Die zweifelnde, anklagende Stimme, die sie ein ums andere Mal auf sie selbst zurückwarf. Die eine ebenso unsichtbare wie unüberwindbare Grenze zwischen dem Leben und dem Sein gezogen hatte.
Nicht schon wieder. Mit dem Wechsel zur Polizei hatte sie gehofft, die Toten hinter den Lebenden zurücklassen zu können. Wäre Sofie gestern Abend nicht so müde gewesen . sie hätte sie beruhigen können.
Frederica sah vor sich auf die letzten Stufen und musste stehen bleiben. Die Natur zeigte ihr Desinteresse am menschlichen Sterben mit einer solch lakonischen Wucht, dass sie nur noch umdrehen und nach Hause fahren wollte. Sich nicht drauf einlassen, die Lieblosigkeit ihrer Umgebung wegstoßen, wegrennen, die Autotüren verriegeln, atmen. Atme, Frederica.
Papa, ich weiß. Sie wartet auf mich. Und ich?
Christian zog an ihrem Arm. »Was ist los? Unterzuckert? K. H. wartet nicht gern, das weißt du.«
Sie zählte die letzten Stufen bis zum Eingang und fing an, in ihrem Rucksack nach der Tüte Saft-Gummibärchen zu kramen, die sie sicherheitshalber zu Hause eingesteckt hatte.
»Willst du auch? Ich hab ein dunkelrotes für dich. Kaspar Hauser kann sich noch einen Moment gedulden.«
Sie wartet auch auf mich.
Christian kaute auf seiner Handvoll Gummibärchen rum, die er sich mit einer ruckartigen Bewegung in den Mund geschossen hatte, und trieb Frederica vor sich her ins Foyer Richtung Treppe.
Fredericas Miene verfinsterte sich. Sie zog ihren Rucksack fester an sich und sah nach oben.
Okay, it's Showtime.
*
K. H., kurz für Kaspar Hauser, hieß bürgerlich Dr. Klaus Hausschildt und war heute ihr zuständiger Pathologe. Er war so lang, so dünn, so blass und so wortkarg, dass sich der Spitzname rein zwangsläufig hatte ergeben müssen. Es wurde kolportiert, dass ihn noch nie jemand außerhalb der Pathologie - nicht einmal aus der Ferne - lebend gesichtet hätte. Wusste er, wie man ihn nannte?, fragte sich Frederica oft, und wenn ja, was dachte er wohl darüber?
Momentan sah K. H. sie von oben herab an und gab sich verächtlich. »Die Herrschaften von der Kripo, diesmal fast pünktlich, ich möchte beginnen.«
Frederica musterte ihn amüsiert. Er hatte sich hinter dem Obduktionstisch aufgebaut und sah gelangweilt aus. Aber da war noch etwas anderes - ein leichtes Blitzen in seinen Augen, frohe Erwartung . nein, eher eine etwas selbstgefällige Grundstimmung, die K. H. verströmte, wie es früher der schnipsende Klassenstreber getan hatte. Herr Lehrer, ich weiß was!
Er hat also etwas herausgefunden. Frederica schob sich beruhigt noch ein paar Gummibärchen in den Mund, trat etwas zur Seite und überließ Christian das Feld.
»Hallo, Herr Dr. Hausschildt, lange nicht gesehen.« Christian versuchte, sich wirksam neben dem Zweimetermann aufzubauen, was ihm aufgrund der fehlenden 20 Zentimeter nicht gelang. Er tänzelte daher etwas zur Seite und mühte sich, Präsenz durch mehr Breite zu zeigen.
»Und? Was haben Sie herausgefunden? War es ein Suizid?« Christian beugte sich erwartungsvoll über den Seziertisch, als läge dort ein Geschenk für ihn.
Frederica konzentrierte sich auf das glatte blütenweiße Leichentuch, das den aufgebahrten Körper vor den Blicken der Männer beschützte. Wie ordentlich und adrett es aussah. Als gehöre alles genau so zusammen und nicht anders. Nichts Natürliches schien die Tote aus der Ruhe zu bringen, bitte so lassen, genau so lassen, nicht berühren, nichts bewegen. Sie war nicht mehr da, aber ihr Körper wusste das noch nicht.
Ruckartig, als wollte er ein Pflaster von einer Wunde reißen, zog K. H. das Tuch zur Seite.
Ihr Gesicht war wunderschön. Ihre Haut ebenmäßig, klar, fast durchsichtig. Unberührt rein wie bei einer Geisha. Es mutete an, als hielte sie einen friedlichen Nachmittagsschlaf, und sie wirkte im kalten Neonlicht des Sezierraumes seltsam angekommen. Fredericas Blick wollte hierbleiben, sie wollte glauben, dass alles gut sei und sie gleich fertig wären und ins Wochenende gehen könnten.
Doch sie musste weiter, den Hals hinunter zum Oberkörper. Brutal zog sich der Y-Schnitt grellrot über den schönen starken Frauenkörper, über die Brust hinweg zum flachen Bauch, wie ein Peitschenhieb durch die Seele, durch Frederica. Ein zweiter Schnitt hatte ihre Anmut verunstaltet, lang, gewaltig und ebenso hässlich, dort, wo die rechte Brust hätte sein sollen. Eine Öffnung unterhalb des Schlüsselbeins schimmerte metallen. Fredericas Körper begann zu schmerzen. Ihr Atem stockte.
Papa, das tut weh.
»Bei Ihrer Leiche handelt es sich um eine weibliche Person, Anfang/Mitte 30. Beide inneren Handgelenke weisen längsseitige Schnittverletzungen an den Pulsadern auf. Aufgrund fehlender weiterer äußerer Verletzungen und nach der Blutanalyse kann ich davon ausgehen, dass sie aufgrund der beigebrachten Schnittverletzungen verblutet ist.«
K. H. sah zufrieden aus. »Sie wird nach ein paar Minuten das Bewusstsein verloren haben und innerhalb von 30 Minuten verblutet sein.«
»Keine weiteren äußeren Verletzungen? Das soll wohl ein Scherz sein?«, brummte Christian ihn an. »Und was ist mit der fehlenden Brust? Das wird ja wohl kein Geburtsfehler gewesen sein?«
Frederica schluckte. »Brustkrebs, Christian. Man hat ihr die Brust abgenommen. Wann wird das gewesen sein, Herr Dr. Hausschildt?«
Der Pathologe wuchs um weitere fünf Zentimeter und fing tatsächlich an zu strahlen. »Also, das ist sehr interessant. Da das Port-System noch aktiv ist .«
»Port-System?« Christian sah ihn fragend an. »Sie meinen diese kleine metallene Öffnung?«
»Ja, exakt. Ein Port wird Chemotherapie-Patienten gelegt, um einen Zugang zum Gefäßsystem zu schaffen. Ein Silikonschlauch führt über das Venensystem direkt in die großen Blutgefäße vor dem Herzen, wo die Medikamente aufgrund der größeren Blutmengen weniger Schaden anrichten können. Daraus habe ich geschlussfolgert, dass die Chemo entweder erst kürzlich abgeschlossen wurde oder die Behandlung tatsächlich noch anhält. Genaueres kann ich sagen, wenn Sie mir den zuständigen Onkologen herausgefunden haben.«
Christian starrte auf den Port. »Na, da haben wir ein Motiv für den Suizid. Chemo hat nicht angeschlagen, Brust weg, halbe Frau ist tote Frau.«
Frederica riss sich von dem entstellten Körper los und sah Christian eher verwundert als verärgert an. »Sag mal, wenn ich es nicht besser wüsste, könnte ich denken, du meinst das ernst - ich hoffe mal nicht.«
K. H. hüstelte. »Das ist etwas vorschnell gedacht, Herr Lauterbach. Wir haben es hier nämlich mit einer merkwürdigen Konstellation zu tun.«
»Inwiefern?«, wollte Frederica wissen. »War sie auf dem Weg der Besserung?«
»Kann man so nicht sagen.« Er machte eine Kunstpause. Da war es wieder, das Blitzen. Frederica und Christian forderten ihn mit Blicken auf weiterzusprechen. Als beide keine Anstalten machten, ihn zu hofieren, erklärte er beleidigt weiter: »Die Blutanalyse hat keinerlei Auffälligkeiten ergeben. Weder Alkohol noch Drogen, aber auch keine erhöhten Tumormarker. Die habe ich mitbestimmen lassen wegen der Amputation. Es gibt außerdem keinerlei Metastasen und alle inneren Organe sind in vorbildlichem Zustand.«
»Das war ja dann mal eine sehr erfolgreiche Chemo«, meinte Christian, während er ungerührt in der Gummibärchentüte herumkramte. Er sah K. H.s entgleisenden Blick und hielt ihm die Tüte hin. »Möchten Sie auch?«
»Danke, gern.« K. H. griff zu, schob sich direkt ein paar in den Mund und begann, versonnen zu kauen. »Weniger eine erfolgreiche Chemo als der Umstand, dass sie wohl eher gar nicht an Krebs erkrankt war. Ihre chemotherapierte Badewannenleiche war vollkommen gesund.«
»Du fährst, während ich Tanja anrufe und sie bitte, ins Dezernat zu kommen.«
Frederica nickte. »Die Spusi sollte auch noch mal los, ärztliche Unterlagen suchen. Noch ist der Suizid nicht vom...
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