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Kapitel 2
Seit dem frühen Morgen tobte der Sturm und es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass er bald nachlassen würde. Vom Küchenfenster aus konnte Barbara sehen, wie sich im Westen mächtige graue Wolken in riesigen Wellen immer neu am Horizont auftürmten und vom Wind gepeitscht Richtung Osten getrieben wurden. Der Regen prasselte in heftigen Güssen gegen die Fensterscheiben, im Kies der Einfahrt hatten sich inzwischen große Pfützen gebildet. Sie hatte das Haus, entgegen ihrer eigentlichen Absicht, einkaufen zu gehen, seit dem Morgen nicht verlassen und es stattdessen mit dem Erledigen liegen gebliebener Hausarbeit versucht. Inzwischen war es kurz vor zwölf und sie schaute, das Bügeleisen in der Hand, in den stürmischen Himmel. Den ganzen Morgen war es nicht richtig hell geworden, sie hatte das Licht im Haus brennen lassen müssen. An solchen Tagen kam der alte Schmerz wieder hoch und mit ihm die Zweifel, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, hierzubleiben und nach dem Tod ihres Mannes in diesem Haus allein zu leben. Vor drei Jahren war Yann verstorben, und immer wenn Stürme über die Bretagne zogen, erinnerte sie sich daran, wie sehr er dieses Wetter geliebt hatte. Während sie keinen Fuß vor die Tür setzen mochte, zeigte er sich vom Kampf der Elemente begeistert und versuchte sie zu überreden, mit ihm einen >Sturmspaziergang< zu machen: am liebsten entlang des Zöllnerpfades, der unterhalb ihres Grundstückes verlief und am Ufer der Flussmündung bis hin zum offenen Meer führte. Wenn im Frühjahr oder im Herbst während der Tagundnachtgleiche die Stürme besonders heftig waren, war sie manchmal mit Yann im Auto zum Leuchtturm von Pléven gefahren, um die wütenden Angriffe des Meeres auf die Betonquadern vor der Mole zu beobachten. Die groben Wellenbrecher wirkten unter der Wucht der Wassermassen wie zerbrechliches Kinderspielzeug. Das Schauspiel mussten sie allerdings vom Auto aus genießen, um nicht von Gischt und Regen vollkommen durchnässt zu werden.
Bei den Gedanken an die Vergangenheit begann die Trauer, sich wie ein Ring aus Stahl um Barbaras Kehle zu schließen. Das Bügeleisen in ihrer Hand wurde immer schwerer, sodass sie es abstellen musste. In diesem Moment klingelte das Telefon. Sie atmete einmal kräftig durch und nahm den Hörer in die Hand.
»Was machst du gerade?«
Die vertraute Stimme ihrer Freundin Elsa brachte sie sofort ins Hier und Jetzt zurück.
»Ich bügele! Aus lauter Verzweiflung! Und du, was hast du heute Morgen gemacht?«
»Ich habe versucht, an einer Hafenansicht zu arbeiten, komme aber nicht so richtig voran. Das Licht ist zurzeit ganz anders als an dem Tag, als ich damit angefangen habe.«
Seit der Kindheit malte Elsa in Öl, Kreide und Aquarellfarben. Aber erst seit ihre Kinder erwachsen waren und ein eigenes Leben führten, war aus ihrem Hobby eine Leidenschaft geworden. Auf diese Art und Weise füllte sie die Tage in den verschiedensten Orten Europas, an die der Beruf ihres Mannes sie führte. Sven Krug war ein erfolgreicher Immobilienmanager, der sich nach einem Architekturstudium auf Planung, Entwicklung und Bau von exklusiven Ferienanlagen und Hotels spezialisiert hatte. Seine Arbeit hielt ihn oft von zu Hause fern, was, wie Barbara wusste, seiner Ehe beinahe zum Verhängnis geworden wäre. Doch seitdem die Kinder aus dem Haus waren, konnte Elsa ihrem Mann folgen und ihre Beziehung schien eine Wende zum Positiven genommen zu haben. Die Bilder, die Elsa von ihren Aufenthalten an Europas Küsten oder aus den Bergen mitbrachte, wurden von Zeit zu Zeit in einer kleinen Galerie ihrer Heimatstadt ausgestellt und sie konnte für das eine oder andere Werk sogar einen Käufer finden.
»Bist du allein zu Hause?«, fragte Barbara, nachdem sie die üblichen Flosken über die Wetterlage ausgetauscht hatten.
»Ja, Sven musste heute Morgen in aller Frühe nach Rennes fahren. Er hat dort einen Termin und wird wohl nicht vor dem späten Abend wieder zurück sein.«
»Dann komm doch zu mir und wir machen uns einen gemütlichen Nachmittag zu zweit«, erwiderte Barbara.
»Danke, sehr gerne, allerdings kann ich nicht lange bleiben, ich habe mich heute Abend mit Anita zum Skypen verabredet.«
Anita, Elsas Tochter, lebte seit einem Jahr in Mexico City. Ursprünglich wollte sie dort nur ihren Bruder Martin besuchen, der einen gut bezahlten Job bei einer internationalen IT-Firma gefunden und sich in der Stadt niedergelassen hatte. Aber sie hatte sich in Mexiko so wohlgefühlt, dass sie nach ein paar Wochen durch Vermittlung ihres Bruders als Grafikdesignerin im selben Unternehmen Arbeit gefunden hatte, in dem er als Manager arbeitete. So waren die Monate vergangen. Barbara wusste, dass Elsa ihre Kinder vermisste, besonders Anita, ihre Jüngste. Über das Internet konnte sie allerdings regelmäßig Kontakt zu ihr halten, da Anita in ihrem Hightechbüro per Videoanruf zu erreichen war.
»Ich mache uns etwas zu essen, danach kannst du wieder nach Hause fahren, es ist ja nur eine Viertelstunde Fahrzeit«, sagte Barbara.
»Okay, bis gleich!«
Barbara legte auf und räumte das Bügeleisen weg. Sie freute sich auf den Besuch ihrer Freundin, der den Tag weniger einsam machen würde, und begann mit den Vorbereitungen für ein spätes Mittagessen. Draußen war der Himmel immer noch mit schweren Wolken verhangen und eine frühe Dämmerung legte einen grauen Schleier über eine Landschaft ohne Horizont. Aber der Regen hatte schon etwas nachgelassen, er fiel nur noch in unregelmäßigen Schauern. Der Sturm hatte jetzt seinen Höhepunkt überschritten und im Laufe des Abends würde der Wind nach und nach, so wie sich das Meer bei Ebbe langsam zurückzieht, das Land loslassen.
Adjudant-chef Robert Le Clech von der Gendarmerie in Lézardrieux war noch tief im Schlaf versunken, als sein Handy, das auf Kopfhöhe neben seinem Bett lag, zu brummen anfing. Fast gleichzeitig meldete sich mit einem lauten Krächzen das Funkgerät, das er gestern im Wohnzimmer abgestellt hatte. Es dauerte allerdings noch eine volle Minute, bis beide Lärmquellen das bewirkten, was sie sollten, und Le Clech, immer noch schlaftrunken, den Arm endlich nach seinem Mobiltelefon ausstreckte. Die Nacht war kurz gewesen. Seitdem er die fünfzig erreicht hatte, brauchte er eine längere Nachtruhe, wenn er, wie gestern, bis nach Mitternacht im Einsatz gewesen war, um die Verkehrssicherheit in seinem Bezirk aufrechtzuerhalten. Der Sturm hatte Bäume umgeworfen, Strommasten und Dächer beschädigt sowie Geröll auf die Fahrbahn gespült. Die Gendarmen waren bis zum Abend damit beschäftigt, Straßen zu sperren, Umleitungsschilder aufzubauen und der freiwilligen Feuerwehr beim Aufräumen zu helfen. Es mussten etliche Protokolle von Unfällen, die sich ereignet hatten trotz aller Warnungen und Ermahnungen in Rundfunk und Fernsehen, aufgenommen werden. Le Clech hatte den ganzen Tag sowohl vor Ort als auch von der Funkzentrale aus die Einsätze seiner Einheit koordiniert. Danach hatte er in seinem Büro in der Gendarmerie eine Abschlusssitzung einberufen, bei der eine Bilanz des Tages gezogen wurde und die notwendigen Schichten für die nächsten Tage verteilt wurden. Während seine Männer dann in ihren Dienstwohnungen, die lediglich ein paar Meter entfernt auf dem Gendarmeriegelände lagen, in ihre Betten fielen, musste Le Clech gegen Mitternacht noch den Abschlussbericht für die Präfektur in Saint-Brieuc verfassen. Erst danach konnte er sich auf sein Motorrad schwingen, um im allmählich abklingenden Sturm sieben Kilometer bis nach Hause zu fahren. Es war zwar seine Entscheidung gewesen, nicht, wie er sagte, »in der Kaserne« zu wohnen, aber dafür musste er längere Strecken in Kauf nehmen. Trotzdem hatte er diese Entscheidung nie bereut, auch jetzt nicht, als er mit Mühe versuchte, seine Augen auf das Display seines Handys zu fokussieren. Als er sah, dass der Anruf aus der Gendarmerie von Lézardrieux kam, drückte er die Anzeige weg, stand mit steifen Gliedern auf und ging zu seinem Funkgerät, das nebenan auf dem Sofatisch lag.
Kaum hatte er sich gemeldet, war die Stimme von Marceau zu hören, seines Stellvertreters in der Zentrale. Sie klang ungewöhnlich erregt: »Chef, wir haben einen Leichenfund am Strand von Pors Rand!«
Le Clech wurde augenblicklich wach. Es entsprach den Dienstvorschriften, wichtige Ereignisse per Funk zu melden, und Gendarm Marceau verhielt sich immer regelkonform. Deshalb hatte er Le Clech lediglich eine Nachricht geschickt, mit der Bitte, sofort per Funk die Gendarmerie zu kontaktieren. Le Clech fand diese Art der Kommunikation seit jeher mühsam und hätte sich lieber per Handy mit seinem Kollegen unterhalten, um mehr Details zu erfahren. Aber Marceau war ein junger, ehrgeiziger Gendarm, der immer alles richtig machen wollte und sich penibel an die Vorschriften hielt. Daher begnügte sich Le Clech mit einem kurzen Gespräch und ließ sich von Marceau den genauen Fundort der Leiche beschreiben. Anschließend gab er ihm die Anweisung, sich mit ein paar Kollegen als Verstärkung dorthin zu begeben, ohne auf ihn zu warten. Denn Le Clech zog es trotz des unbeständigen Wetters vor, sich wieder auf sein Motorrad zu schwingen und direkt an den Einsatzort zu fahren. Da sein Wohnort näher an Pors Rand lag als die Gendarmerie, wollte er vor seinen Männern am Fundort der Leiche anzukommen. Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihm, dass sich im Osten über dem Meer die Morgendämmerung mit einem zarten blaugrauen Streifen am Horizont ankündigte.
Es hatte aufgehört zu regnen und die Sonne war gerade an einem klaren, blank gereinigten Himmel aufgegangen. Trotz der frühen Stunde hatte sich ein Dutzend Männer und Frauen am Strand von Pors Rand versammelt, als der typische...
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