Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
1
Es war Flut. Eine strahlende Sonne beherrschte den wolkenlosen Himmel über dem Ärmelkanal. Von Südwest kommend, kräuselte eine leichte Brise die von tiefblau bis silbrig changierende Oberfläche des Meeres rund um die Halbinsel. Unablässig trieb die Strömung das Wasser in die breite Mündung des Jaudy hinein. Der höchste Tidenstand war fast erreicht, überall an den Ufern trafen kurze, stetige Wellen auf die steinige Küste. Auch an den Granitquadern am Ende der alten Mole von Port Béni leckten sie in gleichmäßigem Rhythmus. Im offenen Hafenbecken wiegten sich an runden weißen Bojen festgemachte Barken und Boote.
Es war Mittag, Anfang Juli. Nach der allmorgendlichen Betriebsamkeit lag der kleine Küstenort wieder verlassen da. Touristen und Spaziergänger waren unterwegs zu ihrem Mittagstisch, die einheimischen Hummer- und Krabbenfischer würden erst mit der nächsten Flut spätabends zurückkehren. Selbst der Spielplatz auf dem Rasenstück hinter den Parkplätzen war verwaist. Die Kinderstimmen, die den halben Morgen die Luft zum Schwingen gebracht hatten, waren verstummt.
Ganz still war es allerdings nicht. Oberhalb des Hafens, auf einem von der Straße durch eine Reihe zerzauster Eiben getrennten Feld wurde geerntet. Im Schritttempo bewegte sich ein Traktor laut brummend durch die akkuraten Artischockenreihen, gefolgt von zwei Erntehelfern, einem Mann und einer Frau. Mit geübten Handgriffen schnitten sie die kinderkopfgroßen Artischockenknospen von den Stielen und warfen sie auf den Anhänger hinter dem Traktor. Die Arbeit ging nur langsam voran, sie hatten noch gut ein Drittel des Felds vor sich.
Am äußersten Ende der Mole, oberhalb der Steintreppe, die zum Wasser hinunterführte, saß eine Möwe und beobachtete die Fluten. Von der offenen See, weit hinter dem Leuchtfeuer, das nachts die Einfahrt in die Flussmündung anzeigte, näherte sich gemächlich eine höhere Welle, schwappte heran, klatschte im zweiten Anlauf hoch an die Kaimauer, bespritzte den Granit. Mit einem kurzen Schrei erhob sich die Möwe in die Luft und flog einen eleganten Bogen durch den blauseidenen Himmel Richtung Land. Flugs hatte sie Hafen und Mole überquert und kreiste dann in einer ruhigen Aufwärtsspirale einige Male über das Feld. Minutenlang ließ sie sich mit ausgebreiteten Flügeln von der Thermik höher tragen. Nichts schien die Leichtigkeit und Mühelosigkeit ihres Gleitflugs stören zu können.
Plötzlich unterbrach sie das Segeln, um steil zu sinken und nach ein paar wenigen abrupten Richtungswechseln in einer Furche zwischen zwei Artischockenpflanzen einzutauchen. Sie war nicht mehr zu sehen, als wäre sie von der Erde verschluckt worden.
Vom anderen Ende des Felds kroch der Traktor mit seinem Anhänger langsam näher. Der Fahrer, ein junger Mann mit Sturmfrisur und braun gebrannten, nur knapp von einem verschwitzten T-Shirt bedeckten Oberarmen, fuhr geradeaus weiter, ohne vom Kurs abzuweichen. Von seinem hohen Sitz aus überblickte er das regelmäßige Muster, das die Artischocken auf der dunklen Erde hinterließen. Während seine Hände das große Steuerrad fest umklammert hielten, achtete er darauf, die Maschine samt Anhänger genau zwischen den Pflanzenreihen zu lenken.
Mittlerweile hatte der Trecker die Stelle, wo die Möwe zwischen den Artischocken verschwunden war, beinahe erreicht. Kurz bevor es so weit war, erhob sich der Vogel mit einem jähen Flügelschlag vom Boden, streifte das linke Vorderrad und flog quer über das Feld zurück zum Wasser, in seinem Schnabel einen abgerissenen Fetzen von dem, was in der Furche lag. Unter den ausladenden stacheligen Blättern einer besonders großen Artischocke zeichnete sich der Rest seiner Beute undeutlich ab.
Der Fahrer hatte die Möwe beobachtet und blickte nun von oben direkt in die Erdfalte hinein. Er sah etwas Längliches, schmutzig Graues. Es ähnelte einem abgestorbenen Ast, dessen krallenartiges Ende wie eine freigelegte Wurzel aus dem Ackerboden herausragte. Das ließ ihn erschrocken auf die Bremse treten. Mit einem Ruck stoppten Traktor und Anhänger mitten auf dem Feld. Der junge Mann stierte nach unten. Er wollte seinen Augen nicht trauen, schaffte es aber auch nicht, sich abzuwenden. Sein Magen reagierte schneller als sein Verstand. Der Brechreiz ließ ihm keine Wahl, er musste sich sofort zur Seite drehen und übergeben.
Auf die wiederholten Zurufe seiner beiden Helfer, die verwundert hinter dem Anhänger stehen geblieben waren, konnte er zunächst nicht antworten. Erst als sie nach vorne kamen, deutete er auf die Stelle.
Im Schattenspiel der langen Artischockenblätter lag ein abgehackter menschlicher Arm. Die feingliedrige Hand mit den leicht gekrümmten Fingern zeigte nach oben, der Unterarm war noch intakt, während am Ende des Oberarms, da, wo er von der Schulter getrennt worden war, ein Fetzen menschlichen Fleischs vom Knochen hing, blassrosa. Der ganze Arm war von einer anthrazitgrauen Farbe bedeckt, die Haut darunter erschien wie marmoriert.
Die Frau stieß einen Schrei aus, drehte sich um und rannte davon. Beide Männer schauten fassungslos auf den Fund, unfähig, sich zu rühren. Nach einer Weile gelang es dem älteren, den Blick von der Furche loszureißen.
Mit atemloser Stimme wandte er sich an den jungen Mann, der immer noch wie erstarrt auf dem Fahrersitz des Traktors saß. »Ruf die Gendarmen an, schnell!«
***
Adjudant-chef Robert Le Clech parkte seine Harley-Davidson neben den Hortensienbüschen entlang der engen Einfahrt zum Haus von Barbara Leport. Die vor wenigen Jahren renovierte Bauernkate lag geschützt oberhalb einer flachen Bucht an der Mündung des Flusses Jaudy. Von dort hatte man einen weiten Blick, im Osten bis zum offenen Meer. Er war bereits ein paarmal da gewesen, um sich nach ihr zu erkundigen, das lag inzwischen mehrere Wochen, sogar Monate zurück. Es waren kurze Besuche gewesen, bei denen es lediglich eine Tasse Kaffee gegeben hatte. Die Unterhaltungen drehten sich hauptsächlich um ihre Genesung von einem Knöchelbruch und um den bevorstehenden Sven-Krug-Mordprozess, bei dem die Ehefrau des Ermordeten, ihre einstige Freundin, als Hauptangeklagte vor Gericht stehen würde.
Le Clech wäre es durchaus recht gewesen, wenn es außer dem Mordfall, der sie beide seit dessen Aufklärung trotz oder vielleicht wegen der belastenden Umstände miteinander verband, andere Gesprächsthemen gegeben hätte. Die Ereignisse, bei denen sie sich kennengelernt hatten, waren höchst unerfreulich gewesen und er merkte, dass es ihr noch nicht gelungen war, sich völlig davon zu erholen. Aber er hatte sich vorgenommen, ihren Schmerz zu respektieren, und versuchte nicht, ihre Zurückhaltung zu überwinden.
Obwohl er sie mit »Barbara« anredete - so waren sie einander zu Lebzeiten von ihrem verstorbenen Ehemann vorgestellt worden -, siezten sie sich immer noch. Dabei verhielt sie sich ihm gegenüber durchaus freundlich, jedoch leicht distanziert, als wären seine Besuche vor allem seiner Dienstpflicht geschuldet. Das frustrierte ihn ein wenig, denn er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass sie ihn als Freund und nicht als Amtsperson behandelte. Eigentlich wünschte er sich mehr - emotionale Nähe. Daran war allerdings vorerst nicht zu denken, er musste sich in Geduld üben.
Nachdem ihr Knöchel verheilt war, nutzte Barbara Leport ihre wiedergewonnene Bewegungsfreiheit dazu, nach Deutschland zu reisen, angeblich um dort Familienangelegenheiten zu regeln. Le Clech vermutete, dass sie Abstand von den schrecklichen Ereignissen nehmen wollte, in die sie hineingezogen worden war. Da sich ihre Abwesenheit über Monate hingezogen hatte, fürchtete er, dass sie nicht mehr in die Bretagne zurückkehren würde und dabei war, den Rückzug in ihr Heimatland vorzubereiten.
Schließlich hatte Barbara Leport in den letzten Jahren hautnah zwei tragische Todesfälle erleben müssen. Wenige Monate nach ihrer gemeinsamen Übersiedlung in die Bretagne kam Yann, ihr Mann, beim Fischen auf See um, dann, keine drei Jahre später, versuchte Elsa Krug, ihre bis dato beste Freundin aus Studientagen, auf deren Besuch sie sich gefreut hatte, nicht nur, ihren Ehemann Sven umzubringen, sondern verhielt sich anschließend auch kalt und skrupellos ihr gegenüber, ließ sie hilflos und verletzt zurück.
Nach solchen Erlebnissen wäre es nicht verwunderlich, wenn Barbara die Halbinsel von Lézardrieux, Le Clechs Revier, fortan nicht mehr als einen für sie geeigneten Wohnort empfinden würde und woanders einen Neubeginn versuchen wollte. Daher war ihre Einladung zum Mittagessen eine freudige Überraschung für ihn gewesen. Er hoffte nur, dass es kein Abschiedsbesuch sein würde.
Le Clech zog an der Schnur, die von einer Miniaturschiffsglocke an der Wand neben der Haustür hing.
»Kommen Sie herein, die Tür ist nicht abgeschlossen.«
Sie stand am Herd in der zum Wohnzimmer offenen Küche und schob gerade eine flache Auflaufform in den Ofen. Eilig streifte sie den Ofenfäustling ab und gab ihm zur Begrüßung die Hand. Ein Küsschen auf die Wange rechts und links, wie unter guten Freunden in Frankreich üblich, wäre ihm lieber gewesen, doch er schob den Gedanken beiseite.
»Das Wetter zeigt sich von seiner besten Seite. Und laut Wetterdienst soll es die nächsten Tage so bleiben.« Dabei schaute er aus dem Küchenfenster, das die Aussicht auf den nördlichen Teil der Bucht freigab.
Der lag im strahlenden Sonnenschein, nur die Neigung der Strandgräser und der erstarkte Wellengang zeigten, dass der Wind aufgefrischt war.
»Ja, ich habe schon überlegt, ob ich den Tisch nicht draußen auf der Terrasse decken soll, aber der Wind ist zu unangenehm, ich glaube, wir bleiben lieber drinnen.« Sie deutete auf den langen Tisch...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: ohne DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet – also für „glatten” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Ein Kopierschutz bzw. Digital Rights Management wird bei diesem E-Book nicht eingesetzt.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.