Schweitzer Fachinformationen
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In der Nacht hatte es wieder geschneit. Als wollte die Natur die Landschaft für den nächsten Tag immer wieder aufs Neue in Unschuld hüllen, fiel seit über einer Woche regelmäßig zwei, drei Stunden vor Sonnenaufgang Schnee. Oder besser: bevor es hell wurde. Denn die Sonne zeigte sich nicht. Über den Himmel von Rügen hatte sich ein graues Tuch gelegt, das die Insel abzuschotten schien. Selbst Wind kam kaum noch auf. Das Thermometer schien bei minus zehn Grad eingefroren zu sein.
Karsten Schwinka stapfte durch eine kniehohe Schneedecke den Feldweg nach Gratzitz entlang. Er trug die dunkelblaue Hose eines Ski-Anzugs. Die hielt warm und trocken. Er hatte sie über seine gefütterten Winterschuhe gezogen, sodass der frische Pulverschnee nicht in die Schäfte rutschen konnte.
Unter der grob karierten Baumwolljacke mit eingeknöpftem Fell trug der Mann einen grauen Pulli, dessen Kapuze er sich tief ins Gesicht gezogen hatte.
Schwinka hielt an und blickte hinüber zum Dorf, dessen erste Häuser hinter der eben genommenen Anhöhe aus dem weißen Meer emporstiegen.
Dorf? Eigentlich war es das ja nicht mehr. Als nach 1989 auf der Insel neue Gemeinden gestrickt worden waren, hatten unzählige kleine Orte ihren Status als eigenständige Verwaltungseinheit verloren. Jetzt waren das nur noch Ansammlungen von ein paar Häusern, durch die eine Straße führte, die den alten Namen trug. Das wussten aber nur jene, die dort wohnten, denn eine Ortstafel gab es schon seit 30 Jahren nicht mehr und Straßenschilder hatte niemand in Auftrag gegeben.
Schwinka stapfte weiter. Der Schnee knirschte im stoischen Rhythmus seiner Schritte. Es war das einzige Geräusch, das ihn auf dem Weg nach Gratzitz - oder vielmehr in die Dorfstraße Gratzitz begleitete. Aber so war Winter. Tiefer Winter.
Er wechselte seine Reisetasche aus der linken in die rechte Hand. Denn mit der Zeit wurde die um den Griff geballte Faust kalt. Dabei war sein Gepäck gar nicht so schwer, denn er hatte wenig mit: Unterwäsche, Waschzeug, zwei Pullover, noch eine Jacke, ein paar Hemden und T-Shirts. Vielleicht machten die drei Bücher das Gewicht aus. Das Tablet jedenfalls wog kaum etwas. Aber leider hatte der Polizist seine Handschuhe vergessen. Bei der Kälte äußerst ungünstig.
Ein Taxi hatte Schwinka die Straße Groß Volksitz in Richtung Hagen hinaufgebracht und auf halber Strecke am Abzweig nach Gratzitz abgesetzt. Hier war einfach kein Durchkommen mehr gewesen.
Winterdienst gab es in diesen abgelegenen Gebieten nicht. Weder bei zehn noch zweihundert Zentimetern Schnee. Die Straßen hatten hier oben auf Jasmund keine Bedeutung, verbanden sie doch lediglich kleine Siedlungen, in denen jeweils eine Handvoll Menschen lebte. Die mussten sich selbst helfen. Was sie in der Regel auch taten. Irgendein Bauer fand sich immer, der für die Anwohner wichtige Wege mit einem Traktor freiräumte.
Die Zufahrtsstraße nach Gratzitz dürfte das letzte Mal vor zwei, drei Tagen geschoben worden sein. An den Rändern türmte sich der Schnee schon gut einen Meter auf. Dass Karsten Schwinka allerdings schon wieder so tief einsank, war Zeugnis der momentanen Witterungsverhältnisse. Denn jede Nacht schneite es. Und die Menschen stöhnten, wenn sie morgens aus den Fenstern schauten. Wieder den Zugang zum Haus fegen, wieder das Beräumen der Straße zum Ort organisieren. Und wenn Kinder zur Schule mussten, kamen weitere logistische Herausforderungen hinzu.
Schwinka erreichte die Siedlung. Das erste Haus befand sich rechter Hand und war ein frisch erbautes Eigenheim. Vielleicht 120 Quadratmeter Wohnfläche. Es gehörte der Familie Krüger. Die war vor drei Jahren nach Gratzitz gekommen, hatte sich ein Stück Land gekauft und angefangen zu bauen. Die Krügers drückten den Altersdurchschnitt im Ort enorm: Torsten, 31, war Leiter eines Discounters in Bergen. Seine fünf Jahre jüngere Ehefrau Maja hatte einen Job in der Splash Erlebniswelt in Neddesitz gefunden. Zu ihnen gehörte der vierjährige Sohn Tibor.
Das Haus stand auf einem winzigen Hügel und wirkte einsam. Eher wie eine Wetterstation. Ganz ohne Nebengelass, ohne Garage oder Schuppen. Obwohl ein SUV vor dem Gebäude parkte, schien niemand zu Hause zu sein. Eigentlich nicht ungewöhnlich - gegen 10 Uhr. Nur, wie waren die drei hier rausgekommen?
Fast parallel auf der gegenüberliegenden Straßenseite bildete die etwas heruntergekommene Bleibe des Waldarbeiters Winfried Kauritz einen auffälligen Kontrast zu dem neuen Einfamilienhaus. Seine 56 Lebensjahre hatte er hier in Gratzitz verbracht. Ob der schon mal mit einer Frau zusammenwohnte, wusste Schwinka nicht. Woher auch? Menschen wie Kauritz kamen auf Rügen zur Welt, wurden in irgendein Geburtenregister eingetragen und verschwanden von da an aus der öffentlichen Wahrnehmung. Nicht selten wurde so einer sogar von der deutschen Bürokratie vergessen.
Das Haus von Kauritz war ein dunkelbrauner Quader. Die Mauern sahen feucht aus. In einem Umkreis von gut zehn, fünfzehn Metern ragten Gerätschaften, Stapel und so etwas wie Zaunelemente aus dem Schnee. Vielleicht befand sich rechts hinter dem Katen ja sogar ein kleiner Garten. Aber auch das blieb vorerst unter der kalten weißen Decke verborgen.
Keine zehn Meter weiter fiel Schwinkas Blick auf jenes Haus, in dem bis vor Kurzem noch Margarete Zoske ihr Rentnerdasein gefristet hatte. Es hätte fast unmittelbar an der Straße gestanden, gäbe es da nicht diesen kleinen, circa zwei Meter breiten Vorgarten. Neben der Eingangstür stand eine hölzerne Bank, die vielleicht vor 50 Jahren gezimmert worden war. Sie sah marode aus. Eine knapp 40 Kilogramm schwere Frau dürfte sie aber noch getragen haben.
Jetzt lebte hier Hermann Zoske allein. Er sei krank, hieß es. Kaum in der Lage, sich mit seinen 76 Jahren allein zu versorgen. Laut Ermittlungsakte gab es Nachkommen, die in Wismar zu Hause waren. Ob die allerdings nach der Nachricht der Polizei über das Ableben ihrer Mutter in irgendeiner Weise aktiv geworden waren, wusste niemand.
Zoskes Haus machte ebenso wenig einen einladenden Eindruck, wie die Hütte von Kauritz. Wohl aber konnte man sich durchaus vorstellen, dass es im Inneren einen warmen Ofen oder eine funktionierende Heizung gab. Wogegen es Schwinka beim Anblick des Waldarbeiterhauses schon fröstelte.
20 Meter weiter ging es rechts ab zum Gratzitzer Wald. Der Weg war schmal. Mit einem Traktor kam man noch durch. Gegenverkehr durfte es allerdings nicht geben. Rechts erstreckte sich zwischen Abzweig und Waldrand auf eine Länge von gut 300 Metern das Grundstück der Piepers. Es war mit einem drei Meter hohen engmaschigen Sicherheitszaun komplett eingefriedet. Spitze, nach außen gebogene Stahlstreben machten deutlich, dass Gäste nicht willkommen waren. Es gab nur ein stählernes Zufahrtstor ganz am Ende des Grundstücks. Es war verschlossen.
Auf die Söhne der 72-jährigen Lydia Pieper hatten sich bereits die Ermittlungen von Schobel und seinem Team konzentriert. Ja, das war vorurteilsbehaftet. Allerdings brachten der 56-jährige Sigismund Pieper und sein jüngerer Bruder Krisztoph, von dem man ausging, dass er 15 Jahre jünger war, alle Eigenschaften mit, die man mindestens als merkwürdig bezeichnet. Sie waren ungepflegt, häufig betrunken, dann außerordentlich aggressiv, und sie gingen keiner geregelten Arbeit nach. Und da sie obendrein keine Form von staatlicher Unterstützung erhielten, stellte sich ernsthaft die Frage, wovon das Trio lebte. Die Rente der alten Frau konnte es nicht sein.
Hinter dem großen, zweistöckigen Wohnhaus, das seit seiner Erbauung in den Zwanzigerjahren keine wesentliche Renovierung gesehen hatte, befand sich eine Werkstatt. Zu welchem Zweck: unklar. In der Flucht zu diesem Anbau stand die Scheune. Vor Jahrzehnten war sie noch zum Teil als Stall für ein paar Schweine und Kühe genutzt worden. Und schließlich existierte da noch ein Holzschuppen mit einem schwarzen Anstrich. Dessen Wände standen schief und erweckten den Eindruck, nicht standzuhalten, wenn sich jemand an sie lehnen würde.
Außer zweier Schäferhunde, die über den Hof trotteten und den Fremden aufmerksam beobachteten, regte sich auf dem Gehöft kein Leben. Weil sie nicht wild umhersprangen und sich dabei heiser bellten, sondern einfach nur durchdringlich schauten, wirkten sie besonders bedrohlich
>Hoffentlich haben die nicht irgend ein Schlupfloch im Zaun<, dachte Schwinka und erstarrte. Im selben Moment seiner Überlegungen hatte er wieder zu den Hunden geschaut, die auf gleicher Höhe mit ihm unmittelbar hinter einem Riss im Stahlgeflecht verharrten. Schwinka wurde es heiß. Vermutlich sonderten seine Poren gerade jenen berühmten Angstschweiß ab, der Hunde angeblich erst richtig aggressiv machen soll.
Die Vierbeiner standen steif, hatten die Ohren aufrecht gestellt und ließen den ihnen unbekannten Mann nicht eine Sekunde aus den Augen. Der vordere Schäferhund senkte plötzlich ruckartig seinen Kopf, als machte er Anstalten, durch die...
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