Schweitzer Fachinformationen
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ERSTES KAPITEL
Karl Müllers Stimme kam keuchend mit einem Rauschen im Hintergrund und war kaum zu verstehen.
»Ich habe noch immer keinen Kontakt zu Quelle Sechs.«
»Er hat sich auch hier nicht gemeldet«, erwiderte Sowinski. »Tut mir leid, Junge. Wir nehmen an, er ist tot, in irgendeinem Gefecht erschossen oder schlicht von den Rebellen massakriert. Vielleicht sogar von den eigenen Leuten, weiß der Teufel. Soll ich dich zurückholen, hast du die Nase voll?«
Immer wenn er einen Agenten direkt steuerte, war es unvermeidlich, dass er ihn duzte. In einer Konferenz war er deswegen einmal scharf angegriffen worden, hatte den Vorwurf fehlender Distanz zu Untergebenen aber wütend zurückgewiesen. »Sie sind einsam da draußen. Ich bin in einer solchen Situation schließlich so was wie ihr Vater, verdammt noch mal!«
Müller war seit vierundzwanzig Stunden in der Stadt, er antwortete gelassen: »Dafür ist es zu früh, ich will noch nicht aufgeben. Heute Morgen hatte ich so was wie eine Erscheinung, ich habe gedacht, mich laust der Affe. Ich habe Atze gesehen.«
»Wie bitte? Wo denn?«
»In meinem Hotel, hier in Tripolis. Er hatte allerdings keine Haare mehr, stattdessen eine spiegelglatte sonnengebräunte Birne. Aber kein Zweifel: Er war es! Und er hatte eine junge Frau bei sich. Schön, schlank und ein bisschen wie aus der Retorte, mindestens zwanzig Jahre jünger als er.«
»Hat er dich erkannt?«
»Nein, ich glaube nicht. Er wirkte irgendwie abgehetzt und nicht sehr konzentriert. Er wird den Libyern in diesen Tagen die ganze Welt verkaufen, von Toilettenpapier bis zu Kühlschränken. Aber in erster Linie den ganzen Krankenhauskram, und natürlich Computer, vor allem billige und gebrauchte. Im Chaos läuft er immer zu Hochform auf.«
»Wo genau bist du jetzt?«
»In Gaddafis heiligem Bezirk, auf dem Gelände seines Palastes. Da gibt es eine Reihe von Garagen. Keine Autos mehr drin, aber Leichen, jede Menge Leichen .«
Müllers Stimme versagte, und Sowinski wartete geduldig.
»Sorry«, sagte Müller schließlich, jetzt war er besser zu verstehen. »Aber in den Garagen ist er auch nicht. Gaddafis Leute haben jeden Rebellen oder alle, die sie für Rebellen hielten, einfach sicherheitshalber ohne Anhörung erschossen und weggeräumt. Quelle Sechs kann überall sein. Ist er jemand, der sich den Rebellen anschließen würde?«
»Sein Psychogramm gibt das eigentlich nicht her. Er war schon immer Teil der Machtstruktur. Wir haben uns auch gewundert, dass er sich nicht meldet, obwohl seit Urzeiten festgelegt ist, dass er bei jeder persönlichen und politischen Umstellung eine Eilmeldung absetzt. Quelle Sechs ist ein Familientier, seine erste Sorge gilt immer dem Clan. Wie ist die Lage?«
»Sie sagen, die Rebellen wollen jetzt Sirte ausräuchern, weil der große Sohn der Nation da geboren ist. Gaddafi wird dort von ihnen vermutet. Wir wissen mit Sicherheit, dass er da ist. Ich sehe häufig Kampfjets, sie greifen hier an, aber sie kommen auch vom Mittelmeer rein und stoßen auf Sirte, auf die Raffinerien und Öllager runter. Das sagen die Quellen hier, aber keine ist wirklich gut. Sirte wird die nächste Schweinerei werden, denn die Regulären, die noch bei Gaddafi ausharren, haben nichts zu verlieren, und sie glauben fest daran, dass sie ehrenhaft sterben. Habe ich endlich die Erlaubnis, die private Villa von Nummer Sechs anzulaufen?«
»Hast du. Wir sollten jetzt Schluss machen«, entschied Sowinski. »Diese Handys sind nach zwei Minuten zu orten. Scheißtechnik. Ich melde mich gegen Abend wieder. Oder, besser noch: Du rufst mich, wenn es bei dir acht Uhr ist. Nur über Festnetz. Und geh keine Risiken ein.«
»Haha«, sagte Müller höhnisch. »Sie Scherzbold!« Dann kappte er die Verbindung.
In etwa zweihundert Metern Entfernung sah er so etwas wie einen großen grünen Fleck, eine Oase, die in der Hitze flirrte. Niedrige grüne Bäume oder Büsche. Das war genau das, was er brauchte: auf dem Rasen liegen und Erde riechen.
Er hatte in der letzten Garage sechs Tote im Zustand fortgeschrittener Verwesung vorgefunden. Als er eine der Leichen umgedreht hatte, um ihr Gesicht sehen zu können, sorgten die entweichenden Fäulnisgase dafür, dass er sich auf der Stelle übergeben musste.
»Ich stinke wie ein Schwein«, sagte er laut und machte sich auf den Weg.
Das Grün war eine Illusion, das mickrige Gras unter den Büschen voller Glasscherben und Holzsplitter. Jemand hatte sehr viele alte, blutige Verbände liegen lassen. Das Blut war braun. Da lag eine menschliche Hand, abgerissen im Gelenk. Hier ein riesiger beigefarbener Ledersessel, neu, durchaus elegant und mit Sicherheit teuer, vollkommen in Streifen aufgeschlitzt, als habe man Gaddafi verdächtigt, ein paar Dollarscheine in dem Möbel versteckt zu haben.
Verblüfft stellte er fest, dass er plötzlich Hunger und Sehnsucht nach einer Tasse Kaffee hatte, aber er konnte unmöglich in diesen verdreckten und stinkenden Kleidern in sein Hotel in der Innenstadt zurück. Er konnte sich so nicht einmal in ein Taxi setzen. Es war schon absurd: Hier hockte er in Gaddafis Palast in Tripolis auf einem miesen Stück besudelten Rasens und machte sich Gedanken über sein Outfit. Dann begann er leise zu lachen, weil er sich vorstellte, wie er in diesem Palast etwas zum Anziehen auftrieb. Am besten eine dieser größenwahnsinnigen Uniformen, die Gaddafi für sich hatte erfinden lassen.
Karl Müller, designed by Gaddafi.
Langsam machte er sich auf den Weg, um eine Straße mit viel Verkehr zu suchen. Er musste unbedingt einen Laden finden, in dem er ein paar einfache Klamotten kaufen konnte.
Er sah eine kleine Gruppe von Männern mit Kalaschnikows schnell auf ein Gebäude zugehen. Er hoffte, dass sie ihn nicht bemerkt hatten, aber die Hoffnung zerstob in Sekunden.
Eine schmale Gestalt löste sich aus der Gruppe und kam auf ihn zu. In schnellem Lauf nahm der Junge die Kalaschnikow erst quer vor den Bauch, dann seitlich und schrie auf ihn ein: »Stehen bleiben! Bleib gefälligst stehen!«
»Immer mit der Ruhe«, sagte Müller laut auf Arabisch. »Ich bin ein Freund, Mann. Beruhige dich.«
»Was willst du hier?«, fragte der Junge. Er war vielleicht sechzehn Jahre alt. Seine Stimme war zittrig und klang leicht hysterisch. »Hast du etwa den großen Schweinehund gestützt?«
»Ich schaue mich hier nur um, ich bin neugierig, ich war noch nie hier«, sagte Müller. Dann nahm er die Plastikkarte, die vor seinem Bauch baumelte, und hielt sie dem Jungen hin. »Du kannst nachsehen, alles okay.«
Der Junge schaute auf die Plastikkarte und sagte: »Überall die gleiche Scheiße. Jeder hat so eine Karte. Was soll das? Woher hast du diesen Ausweis?«
Müller sah ihn mit festem Blick an: »Deine Leute haben mir den Ausweis gegeben. Ich bin nicht dein Feind.«
»Wer mein Feind ist, bestimme ich«, bellte der Junge zornig. Aber seine Wut war gebrochen, er konnte Müller schon nicht mehr in die Augen schauen und wandte sich ab, weil er im Grunde hilflos war. Dann setzte er sich in Trab, um seine Gruppe wieder einzuholen.
Müller atmete ein paarmal tief durch. Man konnte in dieser Stadt sehr schnell sterben, einfach so, ganz ohne Grund.
Er war unter einer der ständigen Legenden unterwegs, die für solche Zwecke gedacht waren: Dr. Kai Dieckmann, Sicherheitsberater der Bundesrepublik Deutschland. Das stand auch auf dem Plastikschildchen, das er an einem langen schmalen Baumwollband um den Hals trug, gestempelt von der vorläufigen Verwaltung der Rebellen. Er hatte eine ausreichende Menge an US-Dollar in seinem Gürtel und trug im Rückenfach seiner beigefarbenen Anglerweste aus Sicherheitsgründen einen 38er Colt Special, obwohl er diese Waffe nicht mochte: Sie war zu klein, und es war nicht einfach, damit sicher zu treffen.
Er ging im Palastbereich von Gaddafi über schier endlose schmale Asphaltpisten, vorbei an kleinen und großen Gebäuden, Ummantelungen von Klimaanlagen und offen stehenden Einstiegen in das Bunkersystem des Palastes bis zu einem großen schmiedeeisernen Tor, das entweder durch Beschuss oder aber von einem aufgebrachten Mob aus den Angeln gerissen worden war. Dann stand er auf einem Gehsteig, vor sich eine Straße, auf der dichter Verkehr brauste. Er hielt einfach den rechten Daumen nach oben.
Beinahe augenblicklich stoppte ein Taxi, der Fahrer öffnete die Tür und sagte irgendetwas Unverständliches, wahrscheinlich in irgendeinem Dialekt dieser Stadt.
Müller beugte sich zu ihm hinunter und erklärte auf Arabisch, er sei dreckig und stinke nach Tod, und der Mann möge das nicht übel nehmen. Ob er ihm wohl neue, einfache Kleidung besorgen könne. Der sehr junge Fahrer nahm die angebotene Hundertdollarscheine und antwortete mit steinernem Gesicht, er würde das gerne tun und ob Müller so freundlich sein wolle, hier zu warten.
Mit Sicherheit würde er unterwegs anhalten und die Banknote einer genauen Betrachtung unterziehen. Echt oder nicht echt?
»And I need underwear!«, erklärte Müller mit...
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