Schweitzer Fachinformationen
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Es war Hochsommer. Maria Theresia Sanoner1 trat durch das Aufgangstor zum Kloster. In den kühlen Gassen des mittelalterlichen Städtchens hatte sie sich ausgeruht und war nun für den letzten Anstieg bereit.
Der Treppenaufgang bis über die Dächer der Stadt, mit den unregelmäßig hohen Steinstufen, machte ihr zu schaffen. Auch wenn sie noch jung war, spürte sie nach dem stundenlangen Fußmarsch von Wolkenstein über St. Ulrich, St. Peter, Lajen und Albions bis nach Klausen Müdigkeit in den Beinen. Doch sobald sie sich wieder warmgelaufen hatte, fiel ihr das Gehen - auf dem Schotterweg an der Burgruine Branzoll, dem alten Hauptmannsschloss, vorbei und den ersten Stationen des Kreuzweges entlang - wieder leichter. Die Sonne brannte trotz fortgeschrittener Stunde immer noch unerbittlich auf ihr kleines Bündel, das sie am Rücken trug.
Als sie nach der ersten Kehre an der IV. Station den Bischofshof, den einzigen Hof entlang des Weges, erreicht hatte, drehte sie sich um und überblickte gegen Süden das Tal mit dem Eisack, der im Abendlicht wie eine glitzernde Ringelnatter dahinkroch. Auf der gegenüberliegenden Talseite türmten sich über dem dichten Wald von Ciani gewaltige Wolken auf. Zu Hause wird es wohl schon gewittern, dachte sie. Das Grödental lag hinter der Waldkuppe und man konnte es von Säben aus nicht sehen.
Der Weg wurde nun etwas steiler und war mit groben Natursteinen gepflastert. Sie spürte die Hitze am Hinterkopf und zog ihr Halstuch über den Kopf. Ein Kopftuch hatte sie auch zu Hause bei der Arbeit im Stall und auf dem Feld getragen. Die Haube würde für sie keine Umstellung sein. Der Anstieg endete an der VI. Station; dort war sie bereits am hinteren Rand des Dioritfelsens angelangt. Bei Gesteinen kannte sie sich aus, schon seit ihren Grödner Kindheitstagen.
Erschöpft setzte sie sich auf einen großen Stein und sah mit gemischten Gefühlen ins Tal hinunter. Würde sie jemals wieder zurückkehren? Sie wehrte sich gegen diesen Gedanken, wollte ihn nicht weiterspinnen und setzte ihren Weg entlang der Rebmauer fort. Hier raschelte und knisterte es laut im Gebüsch oberhalb des Weges. Eidechsen huschten aufgeregt umher, Vögel flatterten ängstlich davon. Und plötzlich sah sie ein kleines eigenartiges Tierchen, das ihr gänzlich unbekannt war. Erstaunt beobachtete sie, wie es gemächlich an einem Grashalm hochkletterte. Es war weder ein Schmetterling noch eine Heuschrecke. Die gab es auch in ihrem Tal, und sie kannte sie genau. Das Tier sah einer Heuschrecke zwar ähnlich, doch war es größer, grasgrün, hatte Flügel und sechs lange Beine, wobei die Vorderbeine sich wie zwei Zangenarme bewegten. Maria Theresia beobachtete gespannt die langsamen Bewegungen des Tieres, da drehte es seinen dreieckigen Kopf in ihre Richtung und sah ihr mit seinen grünen Facettenaugen direkt ins Gesicht. Da Maria Theresia ihm zu nahe getreten war, hielt es ängstlich inne, hob die vorderen angewinkelten Zangenarme wie zwei gefaltete Hände gegen den Himmel, wobei auf der Brust die Zeichnung eines vorgetäuschten schwarz-weißen Augenpaares sichtbar wurde, das zur Abschreckung diente, wie sie später von der Äbtissin erfuhr. Sie war einer Gottesanbeterin, Mantis religiosa, einer religiösen Seherin, begegnet. Etwas verwirrt und doch zuversichtlich ging Maria Theresia weiter, bis sie nach der letzten Kehre die VIII. Station erreichte. Dort öffnete sich das Rundbogentor der unteren Klausurmauer des Klosters.
Als sie durch das Tor trat, sah sie zu ihrer Rechten die hohe Wehrmauer mit den Schwalbenschwanzzinnen, den Schießscharten und dem großen baufälligen Mäuseturm, in dem sich - wie man im Städtchen erzählte - Geister tummelten. Er wurde auch Herrenturm genannt, denn er diente seit jeher dem Beichtvater, dem Kaplan und von Zeit zu Zeit den Zimmermännern, dem Müller oder dem Altardiener als Herberge, bis eine der ersten Äbtissinnen von Säben, M. Agnes Thekla Zeiller, um das Jahr 1740 das Paterhaus auf der Hinterseite des Klosterkomplexes erbauen ließ. Doch Maria Theresia wusste noch nichts von alledem und betrachtete erstaunt das gewaltige, abbröckelnde Mauerwerk des Säbener Wehrturms, an dem die Steine wie ein Damoklesschwert über den vorübergehenden Pilgern zu hängen schienen. Gleich dahinter erblickte sie die Liebfrauenkirche.
Als sie im offenen Vorhof der Kirche stand, hatte sie nach ihrem langen, beschwerlichen Marsch endlich das Gefühl, angekommen zu sein. Sie betrat die sommers bis am späten Nachmittag offene Kirche. Die Nachmittagssonne, die durch die Fenster strahlte, hatte die Deckenmalerei zu einem hellen Aufleuchten geweckt. Etwas so Schönes hatte Maria Theresia noch nie gesehen. Sie konnte ihren Blick nicht mehr von den prächtigen Bildern und Farben lösen.
Die acht birnenförmigen Freskomalereien der Kuppel2 stellten das Leben Marias von der Geburt bis zur Krönung dar, und Maria Theresia erinnerte sich an einzelne Erzählungen aus ihrer Kindheit, die Expositus Dominikus Trocker3 in den Predigten erzählt hatte. Die dutrina, der Unterricht in der christlichen Lehre auf Italienisch und Ladinisch, war ihre einzige Bildungserfahrung in der Jugend gewesen, denn sie war bereits 15 Jahre alt, als Kaiserin Maria Theresia in Tirol die Schulpflicht einführte. Aber da der Landesfürst Ferdinand II. schon im 16. Jahrhundert das Schulwesen in Tirol gefördert hatte, um der Ausbreitung des Luthertums und der Täuferbewegung entgegenzuwirken, hatten etliche Schulmeister und Geistliche auch in kleineren Dörfern die Glaubenslehre sowie Lesen und Schreiben gelehrt. In Tirol hatten vor allem der Bündner Jörg Cajacob aus Bonaduz, der in Gufidaun wirkte und 1529 in Klausen als Ketzer verbrannt wurde, und der Pustertaler Jakob Hutter aus Moos, der 1538 in Innsbruck hingerichtet wurde, großen Anklang gefunden. Zur Zeit der Gegenreformation wurde der Kirche die Wirksamkeit der Schulbildung zur Bekämpfung der neuen Lehre bewusst, und so hatte auch Maria Theresia Sanoner bei Expositus Trocker durch den Religionsunterricht Lesen und Schreiben gelernt.
Jetzt konnte sie es kaum erwarten, das Kloster zu erreichen. Gegenüber dem Mäuseturm stand in der inneren Klausurmauer ein großes Tor offen. Es war der Pilgerweg, der, an den letzten Stationen entlang einer etwas niedrigeren Mauer, durch den Klostergarten hinauf zum Kloster führte. Von dort gelangte man durch einen Torturm und über Stufen in die Klosterkirche. Ein bischöfliches Dekret verlangte, dass die Klosterkirche, die Heilig-Kreuz-Kirche und die Gnadenkapelle bei der Liebfrauenkirche den Pilgern tagsüber immer zugänglich blieben.
Maria Theresia nahm diesen Weg durch den Garten und begegnete höchstwahrscheinlich mehreren Pilgern. Wir stellen uns jedoch vor, wie sie stattdessen den Kreuzweg, der an der Klausurmauer außen entlang und durch zwei Tunnel führte, hinaufging, der freilich erst 100 Jahre später neu errichtet wurde. Um 1880 waren umfassende Umbauarbeiten am Klostergebäude und der Abbruch des Torturmes vonnöten gewesen. Außerdem drohte am östlichen Gartenrand der Felsen abzurutschen, sodass eine neue Kirchenmauer errichtet werden musste. Bei dieser Gelegenheit wurde der Klosterweg nach außen, der westlichen Klausurmauer entlang, verlegt, wobei die zwei Tunnel in den Felsen gesprengt werden mussten. Dadurch verlor die Anlage weitgehend ihr Aussehen einer mittelalterlichen Festung und gewann die Ausstrahlung eines Monasteriums.
Maria Theresia machte sich also auf, das letzte Wegstück zu gehen. Sie hoffte, keinen Pilgern zu begegnen. Den ganzen Tag über war sie allein unterwegs gewesen und hatte sich gedanklich auf die Aufnahme im Kloster vorbereitet. Nun wollte sie nicht noch zudringliche Fragen beantworten müssen, wie "Woher kommen Sie?" oder "Was haben Sie vor?".
Der Weg führte an der X. Station vorbei und in leichter Steigung an der Zinnenmauer entlang. Hinter dem Bergrücken hatte Maria Theresia nun einen freien Blick auf den Eingang ins Tinnetal und das Dorf Latzfons, das mit seinem Kirchturm wie ein Vogelnest am Hang klebte. Zu ihrer Linken sah sie, dass sie beinahe die Höhe von Schönberg4 und dem Ansitz Gravetsch erreicht hatte. Die zwei kleinen Kapellen der XI. und der XII. Station, an denen sie kurz innehielt, standen in kurzen Abständen an der Talseite des Weges, und Maria Theresia erreichte bald den ersten in den Felsen gebrochenen Tunnel. Sie hatte ein etwas unheimliches Gefühl, als sie durch den dunklen und engen Durchlass ging. Das Wasser rann an den Felsenwänden herab und tropfte auf ihren Kopf, sodass sie den Schritt beschleunigte, um schneller wieder ans Licht am Ausgang des Tunnels zu gelangen. Dort durchbrach ein zweiter kurzer Tunnel die innere Klausurmauer. Dann stand sie auf dem kleinen Vorplatz am Treppenaufgang zu den Kirchen. Links sah sie die XIII. Station, auf der rechten Seite des Platzes war die Empfangspforte mit dem Sprechgitter und der Windenvorrichtung. Sie hatte ihr Ziel erreicht.
Es war das Jahr 1785. Bei Tagesanbruch, als die Sonne hinter dem...
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