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2Der Kopf lag zwischen den Mangoldblättern. Er wirkte erstaunlich groß, was wohl eine Täuschung war, die darauf zurückgeführt werden konnte, dass man normalerweise ein menschliches Haupt immer im Verhältnis zu seinem Körper zu sehen bekam und damit die Proportionen eindeutiger zuordnen konnte. Seine Haut strahlte förmlich im Schein der Halogenlampe, weiß, stumpf und großporig mit einer kleinen Narbe an der linken Schläfe. Im starken Kontrast dazu standen die auffälligen blauschwarzen Augenringe, die sich über die nicht weniger voluminösen Tränensäcke zogen und dem menschlichen Antlitz, das dieses einzelne Körperteil erstaunlicherweise noch immer besaß, etwas Krankes und Schwaches verliehen. Der Mann, dessen Kopf wie weggeworfen im Gemüsebeet lag, musste um die sechzig Jahre alt sein. Und er war nicht im Mangold gestorben. Der in direkter Nähe fehlende Körper und das nicht vorhandene Blut sprachen dafür. Noch dazu hatte er auffällige Blessuren an seinem linken Ohr und mit feiner Erde überzogene Haare, die eher darauf schließen ließen, dass er anderweitig zwischen die dicken Stängel der Pflanze geraten war.
Giulia senkte die Taschenlampe in Richtung Boden. »Wo liegt sein Körper?«, fragte sie nahezu tonlos. Der Adressat dieser Frage war nicht näher als unbedingt notwendig herangetreten, weshalb sie aufgrund der Dunkelheit nur seine schemenhaften Umrisse ausmachen konnte. Es handelte sich um den Abt Benedetto der Abtei von Piona, der die Leiche gefunden hatte und mitten in der Nacht persönlich nach Abbadia Lariana gefahren war, um Giulia zu Hilfe zu holen.
»Ich weiß es nicht«, entgegnete er mit sanfter Stimme, die keinerlei Aufregung erkennen ließ. »Ich habe es vorgezogen, nicht danach zu suchen.« Er schwieg einen Moment. »Ich wüsste es zu schätzen, wenn Sie das tun.«
Giulia nickte schweigend, ohne dabei zu bemerken, dass ihr Gegenüber es nicht sehen konnte.
»Herr, allmächtiger Gott ., ich bitte dich durch das kostbare Blut .« Er seufzte schwer und murmelte vor sich hin, nur unterbrochen von gelegentlichem Schnäuzen. »Jesus, erbarme dich unser Jesus, befreie die Seelen aus dem Fegefeuer .«
Das Schlagen der Kirchturmuhr verschluckte die letzten Worte. Die Glocke hallte zweimal in die Nacht. Giulia schaute hinauf in den sternenklaren Himmel. Die Sonne ließ noch ein wenig auf sich warten, aber wenn sie am Himmel stand, würde hier oben nichts mehr sein, wie es gestern noch gewesen war.
»Herr im Himmel .«, hob er erneut an.
»Filipo, bitte«, sagte der Abt streng. »Nicht jetzt. Alles hat seine Zeit.«
Das Murmeln verstummte umgehend. Prete Filipo, der Priester aus Giulias Gemeinde und in dieser Angelegenheit quasi der Mittelsmann, hatte es sich nicht nehmen lassen, den Abt und Giulia zu begleiten, aber wie so oft überwog seine Angst am Ende seine Neugier, und er hatte es vorgezogen, am Eingang zum Klostergarten zurückzubleiben und die Dinge aus der Ferne zu verfolgen. Giulia war das ganz recht, denn Filipo neigte ein wenig zur Schwätzerei, auch sein dünnes Nervenkostüm war einer solchen Barbarbei eindeutig nicht gewachsen.
»Wissen Sie, wer der Mann ist?«, fragte Giulia, ohne sich von der Stelle zu bewegen.
»Man kann es trotz seines Zustandes noch sehr gut sehen«, gab der Abt zurück. »Es handelt sich um Pater Donato, den Zweitjüngsten unserer Gemeinschaft.« Die Wehmut, die im letzten Teil des Satzes mitschwang, war unüberhörbar.
Obwohl der Abt bemüht leise sprach, verdeutlichten der schrille Aufschrei und das Wimmern von Prete Filipo, dass er die Worte vernommen hatte. Die Tatsache, dass es ein Mann Gottes war, den man gerichtet hatte, schien ihn an den Rand eines Nervenzusammenbruches zu führen.
»Ein Mönch«, murmelte Giulia von einem leichten Entsetzen erfasst.
Prete Filipo entfuhr ein erneuter Klagelaut, wobei er sich umgehend wieder unter Kontrolle zu haben schien. Zumindest war ab diesem Moment nur noch sein hastiges Luftholen vernehmbar.
Der Abt antwortete nicht. Stattdessen wandte er sich an den Prete. »Filipo, wärst du bitte so gut, mir meine Jacke zu holen? Um diese Zeit ist es hier oben bei uns doch unangenehm frisch. Auch du selbst solltest dir etwas überwerfen. Die Brise, die der Lago heraufbringt, ist nicht zu unterschätzen.«
Giulia, die ein kurzärmeliges T-Shirt trug und keinerlei Frösteln verspürte, verstand, dass der Abt es für angemessener hielt, den Prete nicht in alles einzuweihen. Filipos schwere Schritte über den Kiesweg ließen Giulia zufrieden ausatmen. »Wie war sein richtiger Name?«, fragte sie den Abt.
»Er war Augusto Ogliari«, entgegnete er leise. »Donato ist ein ungewöhnlicher Name für einen Mönch, aber der Pater war auch ein ungewöhnlicher Mann«, fügte er noch an.
»Was bedeutet das?«, fragte Giulia nach.
Der Abt wirkte abwesend. »Was meinen Sie bitte?«
»Sie sagten, Pater Donato war ein ungewöhnlicher Mann«, wiederholte Giulia.
»Ja, das war er«, antwortete der Abt. »Er war ein Mann von einem Schlag, wie man ihn heutzutage nur noch selten findet.«
Giulia beschloss, später noch einmal darauf zurückzukommen. »Wieso waren Sie um diese späte Stunde hier draußen?«, wollte sie wissen.
»Ich bin ein Mensch, der mit wenig Schlaf auskommt. In Nächten wie diesen zieht es mich hier hinaus. Es ist eine ganz besondere Erfahrung, ein anderer Weg zu Gottes Schöpfung. Den Augen bleiben die Dinge verborgen, aber den Ohren und vor allem der Nase eröffnet sich eine ganz neue, wunderbare Welt. Den intensiven Duft dessen aufzunehmen, was Gott uns tagtäglich schenkt, ist etwas Unvergleichliches«, schwärmte er.
»Mhm. Ich verstehe. Aber so ganz ohne Licht .«, sagte Giulia. Sie schaute sich unschlüssig um. Das Kloster stand auf der Spitze der kleinen Halbinsel Olgiasca, umgeben von dichtem Wald und Obstbäumen. Die Anlage war von einer beachtlichen Größe. Sie war alt und verwinkelt, und es gab diverse Wirtschaftsgebäude. Nachts war das hier nicht gerade ein Ort, an dem man spazieren gehen wollte. Nicht einmal die Lichter des nächsten Hauses waren zu erkennen. Bis dorthin, also nach Colico, durften es gut und gern fünf Kilometer sein.
»Ich lebe seit über sechzig Jahren hier. Dann findet man, ohne zu sehen«, erwiderte der Abt.
Aber nicht mitten in der Nacht einen abgeschlagenen menschlichen Kopf zwischen fettem Mangold, dachte Giulia bei sich und wollte den Abt gerade danach fragen, als er ihr zuvorkam.
»Er lag vor meinen Füßen, also .« Er stockte. »Ich bin, na ja, die Spitze meines Schuhs muss ihn touchiert haben. Zunächst habe ich gedacht, einer der Mönche hätte einen Korb auf dem Weg vergessen, aber als ich mich danach bückte, wusste ich, dass es nicht so war. Bedauerlicherweise. Ich hätte meine Brüder lieber am heutigen Morgen zu mehr Sorgsamkeit gemahnt.« Er sagte dies mit so viel Fürsorge, dass Giulia nicht an seinen Worten zweifeln konnte.
»Wann haben Sie den Pater das letzte Mal gesehen?«, wollte sie wissen.
»Wir versammeln uns samstags immer zu einem Abendgebet«, erklärte er. »Das begehen wir um einundzwanzig Uhr im Chiostro.« Er schaute Giulia prüfend an und redete dann zügig weiter. »Es ist ungewöhnlich, den Sonntag mit einem gemeinsamen Gebet im Kreuzgang einzuleiten. Das ist mir bewusst. Aber mein Vorgänger, Abt Luciano, sowie auch dessen Vorgänger«, er hielt versonnen inne, »und wiederum der davor haben es bereits so gehalten. Der Kreuzgang ist das Herzstück unseres Klosters und ein überaus spiritueller Ort.«
»Und was war danach?«, wollte Giulia wissen. Sie wusste nicht, wo man für gewöhnlich betete oder wie ansonsten der Tagesablauf in einem Kloster aussah, und ehrlicherweise hatte sie sich als Ungläubige noch niemals Gedanken darüber gemacht. Die Abtei von Piona hingegen war ihr ein Begriff. Die kannte jedes Kind am See, nicht zuletzt weil man ihre dicken, felsigen Mauern weithin sehen konnte. Zudem wurden die Mönche für ihren Kräuterlikör und auch diverse andere Genussmittel an dieser Seite des Larios überaus geschätzt.
»Für gewöhnlich ziehen wir uns für die Nacht zurück. Ich gehe davon aus, dass es Pater Donato ebenfalls so gehalten hat. Ich habe ihn jedenfalls nicht noch einmal gesehen«, antwortete der Abt. »In einem Kloster gibt es Regeln. Das ist wichtig für die Gemeinschaft und um sich auf das Wesentliche, die Verbindung zu Gott, konzentrieren zu können.
»Was könnte der Pater hier so spät gewollt haben?«, fragte Giulia.
»Seine Bienenkörbe stehen hier. Pater Donato war Imker. Er wird noch einmal nach seinen Völkern geschaut haben«, antwortete der Abt.
»Nachts?«
Der Abt schien ihre Skepsis herauszuhören. »Donato war ein sehr feinsinniger, weiser Mensch mit großer Sorgfalt für die Dinge, die ihm anvertraut waren«, erklärte er. »Wir hatten es in letzter Zeit hin und wieder mit Vandalismus zu tun, verirrte Menschen, die ihren Zorn an wehrlosen Geschöpfen auslassen müssen. Donato hat auf diese Weise vier Bienenvölker verloren. Womöglich hatte er etwas gehört und wollte nachsehen .«
»Allein .?« Giulia konnte das kaum glauben, so leichtsinnig erschien ihr ein solches Verhalten.
»Niemand von uns ist jemals allein«, entgegnete der Abt.
Giulia ließ die Antwort so stehen. »Wissen Sie, wer Ihnen etwas Böses wollte?«, fragte sie weiter.
»Wer kann das schon von seinen Feinden genau sagen«, gab der Abt zurück, und Giulia war es, als ob ein feines Schmunzeln in seiner Stimme lag. »Ein paar zufällig vorbeikommende Rowdys, eine arme Seele, die sich von Gott ungerecht behandelt fühlt, ein neidischer, unzufriedener Mensch . Ich weiß es...
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