Kapitel 2
Von dem fröhlichen Geplapper zu Beginn ihrer Wanderung war nun nichts mehr zu hören. Die Stimmung unter den Kindern war gedrückt, die unerwartete Begegnung mit dem Tod hatte niemanden kaltgelassen. Pia, die den Toten gefunden hatte, weinte leise, ihre Augen waren gerötet. Darius hatte die Mütze abgenommen und fuhr sich ständig mit den Fingern durch die Haare.
Sie hatte Cornelius auf dem Handy angerufen, deshalb war es nicht verwunderlich, dass der Streifenwagen schon nach zehn Minuten eintraf. Erstaunlich war allerdings die Tatsache, dass er, ohne anzuhalten, den matschigen Fußweg entlang des Homberger Bachs befuhr und genau an der Abzweigung des steilen Pfades hielt, wo Katja mit der Gruppe wartete. Blum stieg aus. Ihr Freund war in Begleitung eines jüngeren Kollegen, den Katja noch nicht kannte.
»Ich bin Polizeikommissar Dierke«, stellte er sich vor. »Was ist passiert?«
Blum kam ebenfalls heran und nickte ihr beiläufig zu. »Hallo Katja.«
Im Dienst verzichtete er aus Prinzip auf eine private Begrüßung, das wusste Katja, und das war ihr nur recht. Ihr lag nichts daran, ihre Beziehung öffentlich auszuleben, und schon gar nicht vor den Kindern, für die sie die Verantwortung hatte.
Mit kurzen Worten setzte sie Blum und Dierke ins Bild. Anschließend kletterte sie vor den beiden Polizisten den steilen Hang hoch und wies auf das niedrige Gebüsch, in dem das Fahrrad lag.
»Hier ist es.«
Dierke bedeutete ihr zurückzubleiben. Er stieg den Weg weiter hoch und sah sich um. Blum näherte sich dem Toten und ging neben ihm in die Hocke.
»Hast du etwas angefasst?«, fragte er.
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Katja. »Ich habe nur nach seinem Puls getastet.«
»Verzeih, ich muss das fragen.« Er lächelte ihr zu, aber seine Augen blieben ernst. Er zog das Handy aus der Tasche. »Ich rufe den Notarzt und die Kollegen von der Spurensicherung«, erklärte er. »Du wartest am besten mit den Kindern unten beim Wagen.«
»Ich fürchte, die Spurensicherung wird nicht mehr viel finden«, meinte Katja und wies auf den schmalen Pfad. »Die Kinder sind hier hin und her gelaufen, als wir die Bäume ausgemessen haben.«
Blum zog die Augenbrauen hoch. »Bäume ausgemessen?«
»Das ist meine Bio-AG, du weißt doch.« Katja zog die Paketschnur aus der Tasche und deutete auf die Bäume oberhalb des Weges. »Ich habe den Kindern gezeigt, wie man das Alter von Buchen bestimmt, indem man den Umfang misst.«
»Ach so.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich werde es den Kollegen von der Spurensicherung sagen.«
Katja nickte und machte sich an den Abstieg. Sie versammelte die Kinder um sich und erklärte ihnen, dass sie noch bleiben mussten. Im Talgrund war es kühl, die blasse Wintersonne verschwand gerade hinter dem Hügel. Katja ging mit der Gruppe ein paar Schritte den Bach entlang, um die Blutzirkulation in ihren Beinen wieder in Gang zu setzen.
»Wie lange wird das dauern?«, fragte Fabian. »Meine Mutter holt mich in einer halben Stunde ab.«
»Am besten sagt ihr zu Hause Bescheid, dass es später wird«, schlug Katja vor.
Normalerweise erlaubte sie den Kindern die Benutzung ihrer Handys während der AG-Stunden nicht, doch das war schließlich ein Notfall. Sie schickte selbst eine WhatsApp an Lena, die sich sonst bestimmt wunderte, wenn sie von der Schule nach Hause kam und niemand da war.
Der junge Polizist kam mehr rutschend als gehend den Hang herunter. Er ging zum Streifenwagen, holte Absperrband und eine Kamera heraus und verschwand wieder nach oben. Katja wickelte sich fester in ihre Jacke. Die Kälte wurde langsam unangenehm.
Es dauerte weitere fünfzehn Minuten, dann sah sie, wie sich ein Kleinbus näherte, gefolgt von einem Pkw. Der Bus hielt in etwa sechzig Metern Entfernung, wo ein kleiner Bach, mehr ein Rinnsal, den Weg kreuzte und den Untergrund in eine schlammige Pfütze verwandelt hatte. Offenbar wollte der Fahrer das Risiko nicht eingehen, in der sumpfigen Walderde stecken zu bleiben. Drei Männer kletterten heraus und luden einiges an Equipment aus.
Aus dem hinteren Wagen stiegen zwei Männer. Den Größeren der beiden kannte Katja, es war Kriminalhauptkommissar Friedemann von der Düsseldorfer Kriminalwache. Er näherte sich mit schnellen Schritten. Sie ging ihm entgegen, und er begrüßte sie mit Handschlag.
»Frau Dr. Maus, Sie schon wieder«, sagte er und grinste schief.
»Ich suche mir das nicht aus«, gab Katja zurück. Ihr war nicht nach Witzen zumute.
»Verzeihung, natürlich nicht«, murmelte Friedemann. »Wo liegt er?«, fragte er und sah sich suchend um.
In dem Augenblick tauchte Blum oben an dem Trampelpfad auf. »Hier oben«, rief er und winkte.
Friedemann nickte ihr noch einmal zu und machte sich an den Aufstieg, gefolgt von seinem Kollegen, der Katja und die Kinder nicht weiter beachtete.
Nach weiteren zwanzig Minuten wurde es Katja zu bunt. Sie bat die Kinder, auf sie zu warten, und kletterte erneut den steilen Pfad nach oben.
Die Fundstelle des Toten war mittlerweile großräumig abgesperrt. Sie erblickte Blum im Gespräch mit Friedemann und einem weiteren Mann, der eine rote Jacke trug. Als er sich von den beiden abwandte und den schmalen Pfad weiter hochstieg, sah sie die Aufschrift »Notarzt« auf seinem Rücken. Er musste von oben gekommen sein, sie hatte kein weiteres Auto gesehen.
Katja hob die Hand und winkte, Blum wurde auf sie aufmerksam und kam ihr entgegen.
»Entschuldige, Katja, ich habe gar nicht mehr an dich und die Kinder gedacht«, sagte er. »Aber du siehst ja, was hier los ist.«
Seine Worte versetzten Katja einen Stich, doch gleichzeitig schalt sie sich dafür. Das hier war schließlich seine Arbeit, und die ging beim Fund eines Toten definitiv vor. Trotzdem, die Kinder waren immerhin Zeugen, die noch befragt werden mussten, und seit die Sonne hinter dem Hang verschwunden war, wurde es immer kälter.
»Mir ist kalt, und die Kinder müssen irgendwann nach Hause«, sagte sie. »Wie lange, denkst du, wird das noch dauern?«
Blum sah sich um. »Dierke, kommst du mal?«, rief er. »Nimm doch schon mal die Personalien der Kinder auf.«
Der junge Kollege tauchte hinter der dicken Buche auf, die die Leiche verbarg. »In Ordnung«, antwortete er.
Katja folgte ihm nach unten und blieb etwas abseits stehen, während Dierke ein Kind nach dem anderen nach seinem Namen, seiner Adresse und der Telefonnummer fragte. Zuletzt blieb nur noch sie übrig. Sie war in Versuchung, ihm zu sagen, dass Blum ihre Daten schon längst kannte, aber sie verkniff es sich und beantwortete seine Fragen: Name Katja Maus, Adresse Kopernikusring 25, Alter 42, Beruf Tierärztin.
Endlich waren sie fertig. Die Kinder sprangen auf und ab und stampften mit den Füßen. Die Stimmung war mindestens so unterkühlt wie ihre Zehen. Hoffentlich erkältete sich niemand, schoss es Katja durch den Kopf.
»Können wir jetzt gehen?«, fragte sie in eisigem Tonfall.
»Ich denke schon«, erwiderte der junge Polizist. »Aber ich frage zur Sicherheit noch mal nach.«
Er machte sich wieder auf den Weg nach oben, und Katja sah, wie er mit Friedemann einige Worte wechselte. Der schüttelte erst den Kopf, dann nickte er und machte eine zustimmende Geste in ihre Richtung.
Katja wartete die Rückkehr von Dierke nicht ab. Sie winkte die Kinder heran und machte sich auf den Rückweg.
Cornelius kam nicht um zehn und auch nicht um halb elf. Kurz vor elf überlegte Katja erneut und diesmal ernsthaft, schlafen zu gehen, da hörte sie Schritte auf dem Bürgersteig vor dem Haus. Jemand klopfte leise unten an die Tür. Das musste Cornelius sein, er würde so spät nicht mehr klingeln, um Lena nicht zu wecken. Sie eilte nach unten und schloss ihm auf.
Er nahm sie in die Arme und drückte sie an sich. »Entschuldige bitte«, flüsterte er in ihr Haar. »Ich hatte bis eben auf der Wache zu tun.«
Sein großer Deutscher Schäferhund drängte sich hinter ihm durch die Tür, wobei sein Schwanz klopfend gegen das Treppengeländer wedelte. Katja beugte sich zu ihm hinunter, um ihn zu streicheln.
»Du hast Pitter mitgebracht«, stellte sie fest.
»Ich musste ja mit ihm noch raus«, antwortete Cornelius. »Er war heute praktisch den ganzen Tag alleine, deshalb dachte ich, ich bringe ihn mit. Stört es dich?«
»Aber nein.« Pitter war ein netter Hund, natürlich störte er sie nicht.
Katja unterdrückte ein Gähnen, der lange anstrengende Tag forderte seinen Tribut. Bis sie die Kinder zurückgebracht und den Eltern alles erklärt hatte, war es nach sechs gewesen. Sie hatte ein schnelles Abendessen für Lena zubereitet, Schinken-Käse-Toasts, von denen sie selbst fast nichts herunterbekam, und ihrer Tochter zugehört, die ihrem Ärger über Thieme, den Mathematiklehrer, lautstark Luft machte. Doch Katja war nicht recht bei der Sache gewesen. Immer wieder tauchte vor ihrem inneren Auge der Anblick des toten Radfahrers auf. Am liebsten wäre sie früh schlafen gegangen, hätte sich die Decke über den Kopf gezogen und an nichts mehr gedacht. Aber das ging nicht, denn sie musste ja auf Cornelius warten, und gleichzeitig hasste sie sich dafür, dass sie auf ihn wartete und ihm nicht einfach abgesagt hatte.
Sie wandte sich ab und stieg vor ihm die Treppe hoch. Pitter folgte ihnen, seine großen Pfoten schabten über das Holz. Nicht zum ersten Mal nahm sie sich vor, einen Treppenschutz anzubringen, bevor er mit seinen Krallen den Lack zerkratzte und sie Ärger mit ihrem Vermieter bekam.
Oben angekommen, ergriff Cornelius ihre Schulter und drehte sie zu sich. »Was ist los, Katja?«, fragte er und sah ihr ins Gesicht.
Sie schlug die Augen...