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Kapitel 1
Lasst London brennen.
Die Straßen stehen in Flammen. Dass eine Stadt so brennen kann, eine Stadt aus Glas und Stein.
Dass Glas so brennen kann. Es schmilzt vor meinen Augen. Dieser grauenhafte, brüchige Ort.
Ich höre Schreie.
Lasst sie alle brennen.
*
Kämpfe enden nie mit einem Schrei. Sie enden mit einem Wimmern. Meine Gegnerin presst den Arm gegen meine Kehle, drückt mich hinunter. Sie ist klein und schmal, aber ihre Hände sind ebenso nackt wie meine. Um ihren Oberkörper ist ein violettes Seidenband gewickelt. Aus der Nähe kann ich die goldenen Flecken in ihren braunen Augen sehen. Ihre Nase ist wie gemeißelt, Locken hängen ihr ins Gesicht. Und in meines. Weich wie in der Werbung.
Sie zerquetscht mir die Kehle, und ich muss würgen.
Warum konnte ich es nicht sein lassen?
Weil diese Arena einfach fantastisch ist. Natürlich sind Kämpfe dieser Art hier ebenso illegal wie dort, wo ich herkomme, aber das scheint niemanden zu interessieren. Mein Gehirn registriert den Sauerstoffmangel, und plötzlich fühle ich mich ganz leicht. Der dichte Zigarettenqualm, die glitzernden Kleider, Anzüge und Hüte des Publikums, der Geruch von Champagner . Es kommt mir so vor, als würde ich schweben. Fliegen. Absolut berauschend.
Und natürlich ihr Geist. Mit meinem Bewusstsein in ihn einzutauchen lässt mich noch höher fliegen. Er besteht aus bunten Glasperlen, die wie funkelnde Sterne vom Himmel fallen, auf glänzenden Steinfliesen landen. Sie rollen durch meinen Geist, sodass ich auf ihnen ausrutsche. Es ist eine Falle. Sie ist ein Schnüffler, und Fallen sind deren Spezialität. Immer wenn ich glaube, sicheren Boden unter den Füßen zu haben, trete ich auf eine neue Lage grüner Perlen, die unbemerkt herangerollt sind. Sie wogen hin und her wie das Meer, wie ein großes wildes Lebewesen. Sie lassen mir keine Chance zur Flucht, lassen mich nicht gehen. Mir schwirrt der Kopf. Die Welt vor meinen Augen verdunkelt sich. Ich höre nur noch mein eigenes Wimmern, mein verzweifeltes Ringen um Luft. Und das leise Klicken der Glasperlen, klick, klick, klick .
Und dann: Applaus.
Sie lässt mich los. Hustend und würgend setze ich mich auf. Meine Brust krampft, meine Lunge zieht sich zusammen, dehnt sich wieder aus. Sauerstoff schießt in meine Adern. Eine heftige Bruchlandung beendet meinen Höhenrausch - ohne abzubremsen, ohne sanften Sinkflug. Es ist eher so, als würde Blanc mir einen Schlag ins Gesicht verpassen. Und mir dann in den Bauch treten. Während ich bereits am Boden liege. Ich spüre den dunklen Teppich des Rings unter mir, sämtliche Nerven schicken Schmerzsignale durch meinen Körper. Ich spüre die Prellungen in meinem Geist. Die Kratzwunden. Mein rechter Ellbogen wird nicht gebrochen sein, aber es fühlt sich so an. Als bohrten sich die gesplitterten Knochen von innen in das Fleisch meines Oberarmes. Und mir platzt gleich der Schädel.
Das war es wert.
Ich bekomme nur ganz am Rande mit, dass der Ringsprecher meine Gegnerin zum Sieger erklärt. Das Publikum skandiert ihren Namen. Silberpfeil nennt sie sich. Als sie mir auf die Beine hilft, trägt sie bereits wieder Handschuhe. Der Schiedsrichter reicht mir mein Paar. Silberpfeil lächelt, und ich erwidere es gerne, als wir uns die Hände reichen - trotz der Schmerzen. Das Adrenalin rauscht noch durch meine Adern. Mein Geist dehnt sich genüsslich. Auch wenn ich verloren habe: Ihr Geist war die reinste Wonne. Hätte ich gewusst, dass es so etwas gibt, wäre ich schon viel früher nach Berlin gekommen.
Kampfarenen für Magdalenen.
Hier spielt es keine Rolle, wie man aussieht. Muskelmasse, Größe, Gewicht, alles unwichtig. Hier zählt nur dein Geist.
Die Menge bejubelt uns. Langsam bekommen die verwaschenen Konturen wieder Schärfe. Das Publikum sitzt an kleinen Tischen, die rings um den Ring aufgestellt sind. Man raucht Zigaretten im Halter, trägt Perlen und Federn. Direkt vor mir ist eine Frau in Schwarz gerade dabei, in aller Ruhe die obersten drei Hemdknöpfe ihres Begleiters zu öffnen. Sie legt ihm eine Hand auf die nackte Brust. Ihr Gesicht ist weiß geschminkt, seines ebenfalls. Augen und Lippen sind blau. Er trägt einen schwarzen Hut und ein leuchtend blaues Einstecktuch. Gelassen schiebt er ihr einen Träger ihres Kleides von der Schulter. Dann küsst er ihren Hals. Ganz langsam legt sie den Kopf in den Nacken. Die beiden beobachten mich, auch jetzt noch. Ihr Tisch war der einzige, an dem auf mich gesetzt wurde.
Silberpfeil und ich bedanken uns für den Kampf, dann taumele ich aus dem Ring. Der Schweißgeruch lässt nach, wird verdrängt von Zigarettenrauch und einem Potpourri aus scharfem Rasierwasser und feinen Parfüms. Hier drin gibt es neben dem Parkett noch zwei Ränge: Auf dem ersten trägt man statt Weste Jackett, auf dem zweiten komplette Dreiteiler. Die Band setzt wieder ein, Klavier, Saxofon und Schlagzeug vereinen sich zu wilden Jazzklängen. Schaumwein fließt, Feuerzeuge zischen, der schwere Duft von gebratener Ente zieht vorbei. Ich nicke dem Pärchen am Tisch zu, als ich an ihnen vorbeigehe. Sie streckt die Hand aus, stützt mich. Erst da wird mir klar, dass ich torkele.
»Schön langsam«, sagt sie mit leichtem Akzent. Ihr Begleiter hat die Füße auf den letzten freien Stuhl am Tisch gelegt. »Das schien nicht gerade vergnüglich zu sein.«
Ich mustere die Frau. Im ersten Moment nehme ich nur ihre schimmernden Perlen wahr. Wie die Glasperlen. In dem Aschenbecher auf ihrem Tisch liegen drei Zigarettenstummel. Ich habe gar nicht bemerkt, dass sie geraucht hätten. Allerdings war ich auch ziemlich beschäftigt.
»Nein, es war großartig.«
Als ich an die Bar trete, hat mir die Barfrau bereits Champagner eingeschenkt. »Kämpfer kriegen einen aufs Haus«, erklärt sie mir. Ihre Haare sind ebenso dunkel wie ihre Haut. Mir gefällt die Art, wie sie sich bewegt, so geschmeidig. Und routiniert. Sie schenkt ein, mixt Cocktails. Bei einem sehe ich genauer hin: Wermut, Gin, eine klare grüne Flüssigkeit, ein Blatt Minze. Ganz zum Schluss lässt sie eine Perle hineinfallen. Offenbar ist sie essbar. Ich bin wie gebannt.
»Was ist das für ein Drink?«, frage ich.
»Wir nennen ihn den Fascinator«, erklärt sie grinsend. »Ziemlich wilder Kampf war das. Du lässt dich doch hoffentlich verarzten, wenn du nach Hause kommst, oder?«
Dass sie mich ausgerechnet jetzt daran erinnern muss.
An Robin. Allein zurückgelassen in unserem Bett, während ich mich rausgeschlichen habe wie eine heimliche Geliebte, wie ein Dieb in der Nacht. Der Gedanke daran löst den nächsten Adrenalinschub aus. Ein albernes Kichern steigt in mir auf. »Es weiß niemand, dass ich hier bin.« Mein Champagnerglas ist schon leer. Wann ist das denn passiert?
»Oh je. Lass mich raten: Rechtschaffener Freund?«
Ich muss schon wieder kichern. Die Barfrau grinst breit. Dann mixt sie einen frischen Fascinator. »Also noch einen Drink aufs Haus.«
Letzten Endes zahle ich auch für einen Drink - nein, zwei, weil ich ihr ebenfalls einen Fascinator spendiere. Als ich mich endlich losreiße, kann ich kaum noch geradeaus laufen. Irgendjemand hilft mir die Treppe hinauf - es könnte Silberpfeil gewesen sein, aber eigentlich auch jeder andere. Im Erdgeschoss sieht alles so aus wie in einem ganz normalen Berliner Stadthaus: eine lang gezogene Eingangshalle mit Mosaikfliesen, grüne Jugendstillampen aus Glas an der Decke. Nichts Ungewöhnliches, mal abgesehen von ein paar Champagnergläsern, die jemand auf den Briefkästen abgestellt hat. Und der Spur aus glitzerndem Konfetti, die sich von der Eingangstür bis zur Kellertreppe zieht. Oder dem Geruch nach Wein, Zigaretten und teurem Parfüm. Ziemlich eindeutige Hinweise, wenn ich so darüber nachdenke.
Draußen hat die Nacht offenbar vergessen, dass sie dunkel sein sollte. Straßenlaternen brennen, Neonreklame blinkt, Schaufenster und Cafés sind hell erleuchtet. Aus jedem offenen Fenster, jeder offenen Tür dringt Musik auf die Straße. Hauptsächlich Elektro-Swing oder Elektro-Jazz. Elektro eben.
Es hat aufgehört zu regnen. Der Duft von Frühling liegt in der Luft, heiß ersehnt nach einem langen Winter. An der ersten Straßenecke, die ich erreiche, steht ein Drehorgelspieler. Da wird mir klar, dass ich in die falsche Richtung laufe, und ich drehe um. In der anderen Richtung stoße ich an einer Kreuzung auf eine Frau mit weißem Kopfhörer, die sich über ein Mischpult beugt. Ihre Musik ist faszinierend, im einen Moment aufputschend, im nächsten melancholisch. Ich schiebe mich durch die Menge der Zuschauer vor ihrem Pult. Die Leute trinken, tanzen, schubsen sich. Lachen und rauchen, sehen schweigend zu. Ich will bleiben, will tanzen, aber ich war schon zu lange hier draußen.
Umgeben von Musik, Gelächter und grellen Lichtern gehe ich zur U-Bahn. Leuchtende Schilder mit einem großen »U« darauf kennzeichnen die Haltestellen. Diese hier heißt Ku'damm. Hüpfend gehe ich die Treppe hinunter. Der Alkohol hat die Schmerzen vertrieben. Jetzt könnte ich wieder fliegen. Wieder in Silberpfeils faszinierenden Geist eintauchen, die klimpernden Glasperlen spüren, Sterne, die vom Himmel fallen. Den Rausch des Kampfes genießen, ohne mich verstecken zu müssen, ohne um mein Leben zu fürchten, jeder Schlag ganz ich selbst. Den Rausch von Schmerz, Adrenalin, Alkohol, Musik, dem Publikum, dem Pärchen, das mich angefeuert hat. Ihre Hand auf seiner Brust, seine Lippen an ihrem Ohr . meine Faust, die gegen Silberpfeils Kiefer kracht. Ihr Geist. Ihre Lippen, so dicht an meinen, als sie...
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