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Kapitel 2
Die Königin
Die Königin von England hält das aus.
Ihr Leben lang wurde ihr beigebracht, dabei zu sein, mitzuerleben, wie andere über sie entscheiden, und sich zu fügen. Man hat sie gelehrt, zuzusehen und zu schweigen, immer zu schweigen, egal, was sie sieht, egal, was sie davon hält. Königinnen sind nicht glücklich, Maria, hat ihre Mutter die Kaiserin ihr gesagt und ihr gezeigt, wie man sich in die Schatten zurückzieht und selbst in den gläsernen Räumen und Fluren des Buckingham Palace feine Netze aus Intrigen spinnt, um zu bekommen, was man will. Man fragt nicht. Man fordert nicht. Und niemals, unter keinen Umständen, bettelt man darum.
Nun ist die Königin von England zum ersten Mal in ihrem Leben nicht sicher, ob sie das noch länger aushält.
Ob sie weiter schweigend danebenstehen, vom Gläsernen Turm im Herzen des Buckingham Palace aus zusehen kann, wie die Ritter des Königs ihre Waffen auf ein Häufchen Demonstranten richten, naive Gutmenschen, die glauben, man könne die Welt verändern, indem man sich auf der Straße zusammenrottet, Banner schwenkt und rote Seidenbänder im Wind flattern lässt.
Wenn nur nicht ihr Sohn einer von ihnen wäre. Wenn sie doch nur nicht wüsste, dass diese Waffen auch auf den Kronprinzen gerichtet sind und auf die Zwillinge. Ihre Kinder.
Robin. Victoria und William.
Stumm steht die Königin vor den Gemächern ihres Ehemannes, ganz oben im Gläsernen Turm, und blickt auf die Constitution Hill hinab, auf die vielen Ritter, die auf der breiten Straße angetreten sind. Auf die Widerständler in Hyde Park Corner. Von Tag zu Tag werden es mehr, schon jetzt besetzen sie beinahe den gesamten Park. Bald werden es so viele sein, dass nicht einmal der König von England sie einfach alle erschießen lassen kann. Schon jetzt ist die Unterstützung durch den Adel recht brüchig geworden. Viele wenden sich von ihm ab, befürchten, vom Zorn des Volkes hinweggerafft zu werden. Selbst unter den Rittern regen sich erste Zweifel, wenn man ihnen befiehlt, Gewehre und Schwerter auf jenen Mann zu richten, den zu schützen man sie stets angewiesen hat - ihren Kronprinzen. Und Sir George, seines Zeichens Lord of Buckingham und ihr Captain, tut nichts, um diese Zweifel zu zerstreuen.
Ein entschlossener König hätte die Sache vielleicht selbst in die Hand genommen, hätte seine Männer mit einer leidenschaftlichen Ansprache zum Mord angestachelt. Aber der Weiße König verkriecht sich seit drei Tagen in seinen Gemächern, und wenn er sie einmal verlässt, wirkt er regelrecht gepeinigt. Wann immer Sir George ihn nach neuen Befehlen fragte, saß der König reglos da und starrte auf seine Füße. Irgendwann stand er auf, sah sich teilnahmslos um. »Sie hat mein Leben verschont.« Mehr war ihm nicht zu entlocken, bevor er wieder in seine Gemächer zurückkehrte und noch einen Tag ohne Entscheidung verstreichen ließ.
So geht das nun seit drei Nächten und vier Tagen. Doch gestern Abend wurde der Königin von ihrem treuen Fähnrich das Gerücht zugetragen, der König wolle im Morgengrauen neue Befehle ausgeben.
Nun bricht der Morgen an. Die Sonne steigt über den Horizont, während die Königin die kleinen schwarzen Punkte auf der Straße und überall in Hyde Park Corner mustert. In der vergangenen Nacht hat sie ihren Ehemann aufgesucht. Hat ihn gebeten, ihr ihren Wunsch zu erfüllen. Hat darum gebettelt.
Keinen Schießbefehl. Erteile keinen Schießbefehl.
Unten auf der Straße heben die Ritter ihre Waffen. Rot gleiten die Sonnenstrahlen über die Dächer der Stadt, lassen das Glas des Palasts funkeln. Rotes Licht und rote Seide in den Bäumen, an den Hauswänden. Rot wie Blut.
Die Königin hält den Atem an.
Sie hat gebettelt, ihn angefleht. Nie mehr hat sie ihren Mann um irgendetwas gebeten, nie mehr seit jenem einen Mal, als sie ihrem Erstgeborenen die Schmach ersparen wollte, von einem Schnüffler betatscht zu werden, kaum dass sie ihn geboren hatte.
Damals schwang der König höchstpersönlich die Peitsche, mit der ihre Strafe vollzogen wurde. Sie hat ihre Lektion gelernt: Du darfst nicht betteln. Niemals.
Zumindest ist die Königin nicht allein. Neben der Tür steht eine zweite Frau, eine Frau, auf die sie sich in diesen Tagen mehr und mehr verlässt. Eine Frau mit einer silbernen Maske. Die Königin nennt sie Madame Hiver und stellt nicht allzu viele Fragen.
Eine Zeit lang verharren die Ritter in ihrer Stellung. Sie haben sie schon öfter eingenommen, haben mit ihren Waffen gedroht, um die Demonstranten zu vertreiben. Die Feuerschwestern, wie sie jetzt schon genannt werden.
Doch es sieht so aus, als ließen sich die Feuerschwestern nicht vertreiben.
Vielleicht ist das Gehabe der Ritter wieder nur eine leere Drohung, überlegt die Königin, während sie die Männer durch das zierliche Opernglas in ihrer Hand beobachtet. Sie werden nicht schießen.
Sie hat ihn angefleht, nicht auf ihre Kinder zu schießen.
Die Königin zwingt sich, die Hände sinken zu lassen, sie ruhig zu halten und nicht herumzuzappeln wie ein beschränkter Bauerntrampel. Sie ist die Tochter mächtiger Herrscherinnen. Sie zappelt nicht herum. Nein, sie wird in ihre Gemächer zurückkehren, wird sich nicht dazu treiben lassen, hier oben zu bleiben und den ganzen Tag auf eine Straße zu starren, auf der nichts passieren wird. Entschlossen wendet sie sich ab.
Drei Schritte weit schafft sie es, will Madame Hiver gerade sagen, dass sie ihr folgen möge, als sie das Geräusch hört.
Ein Schuss.
Sie fährt herum.
Die Ritter haben das Feuer eröffnet.
Starr blickt die Königin die Straße hinunter. Hört die Schreie, sieht, wie die schwarzen Punkte zusammenbrechen, wie sie nach Deckung suchen, wie sie sich panisch zerstreuen. Wie die weiße Straße rot wird. Doch es ist nicht das Morgenlicht, nicht die rote Seide. Es ist Blut. Echtes, bei jedem Schuss aufspritzendes Blut.
Königin Maria hat ihr Leben lang alles ausgehalten.
Damit ist jetzt Schluss.
Ohne zu zögern, dreht sie sich um, fixiert die Tür, hinter der sich ihr Ehemann versteckt. Sie hat schon viel zu lange gewartet. Es wird Zeit, der erbärmlichen Kreatur ein Ende zu machen, die ihr Leben in eine Hölle auf Erden verwandelt hat.
Noch wölbt sich ihr Bauch nicht, aber sie trägt ein Kind unter dem Herzen, das alle für einen Sprössling des Königs halten, sogar Seine Majestät selbst. Er hat ihre Geschichte bestätigt, ebenso teilnahmslos, wie er Sir George weitere Befehle verweigert hat.
Die Königin, eine Erscheinung ganz in Weiß, blass geschminkt, mit weißen Perlen und funkelnden Diamanten behangen, verharrt vor der Tür ihres Mannes. Mit einer Stimme, so schneidend wie eine Klinge, so tödlich wie Gift, zitiert sie Madame Hiver an ihre Seite. Ihr Blut kocht. Sie ist der Engel des Todes, und nun wird sie sich den König holen.
Und ohne es zu ahnen, wird sie das Wunder vollbringen, für das Rea Emris gebetet hat.
Eine Stunde später ist es geschehen. Der König wird in seinen Gemächern aufgefunden, mit einem Strick um den Hals. Den Schießbefehl hat er zuvor zurückgezogen, über Funk. Er schien dabei nicht ganz er selbst zu sein, weshalb Sir George, Lord of Buckingham, beschloss, nach ihm zu sehen.
So hat er ihn gefunden. Der einst so stolze Mann baumelt tot und leblos von der Decke.
Die Königin wird umgehend verständigt. Sie befindet sich in ihren Gemächern, zusammen mit ihrer Mutter, der Kaiserin, und der französischen Diplomatin Madame Hiver. Natürlich wollen sie sich sofort zum König begeben, aber Sir George versichert ihnen, dass Seine Majestät keinen schönen Anblick bietet.
Dann sinkt er vor der Königin auf die Knie. Die Ritter, mit denen er gekommen ist, tun es ihm gleich. Jetzt, wo Seine Majestät nicht mehr ist und seine Erben entweder durch die Straßen marschieren oder noch im Leib der Königin heranwachsen, macht das Gesetz sie zur Regentin des Englischen Reiches. Der Captain der königlichen Rittergarde streckt ihr den Siegelring Seiner Majestät entgegen. Sie warten ab, bis die Königin ihn angelegt hat; er passt auch mit Handschuh nur an ihrem Daumen.
»Eure Majestät«, setzt Sir George an, und die anderen Ritter sprechen ihm nach: »In Zeiten des Lichts und der Dunkelheit schwören wir Euch Ergebenheit. In Zeiten der Freude und Zeiten der Klage gehört Euch unser Leben bis zum letzten Tage. Der Krone aller Könige leisten wir den Eid, empfangen von Gott und der Mutter Heiligkeit.«
Zum ersten Mal in ihrem Leben fällt es der Königin schwer, ihr Lächeln zu verbergen.
»Ich nehme Ihren Schwur an«, sagt sie leise und gestattet ihnen, den Ring zu küssen.
Hinter ihr verbeugt sich Madame Hiver tief. Sie macht sich nicht die Mühe, ihr Lächeln zu verbergen.
»Was soll mit den Demonstranten geschehen, Eure Majestät, nachdem nun nicht mehr geschossen wird?«, fragt Sir George, als seine Ritter sich wieder erhoben haben.
»Wie viele Tote?«
Sir George zögert. Der Puls der Königin schießt in die Höhe. Sie bemüht sich, tief durchzuatmen. »Sir George? Wie viele Tote gab es? Wie viele Verletzte?«
»Wir wissen es nicht, Eure Majestät«, antwortet er leise.
»Was ist mit meinen Kindern?«
»Und mit Miss Emris?«, fragt Madame Hiver, was die Königin doch sehr überrascht. Sicher, sie sind sich in Paris ein paar Mal begegnet, aber abgesehen davon wüsste sie nicht, was für eine Verbindung zwischen den beiden bestehen könnte.
Allerdings ist Madame Hiver eine kluge Frau und hat sicher...
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