Schweitzer Fachinformationen
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Judita betrachtet ihr Spiegelbild im Fenster nicht - im Moment vermeidet sie überhaupt alle Spiegelbilder. Stattdessen konzentriert sie sich auf die Menschen vier Stockwerke unter ihr. Ein paar Leute, die in ihrer Mittagspause barfuß über die Playa de los Pocitos schlendern, die Schuhe in der Hand. Sie gehen an einem alten Mann vorbei, der am Ufer steht und seine Angelschnur auswirft. Das Licht fängt sich in der Schnur, und sie bildet einen silbernen Bogen wie ein Schwert aus Draht, bevor sie wieder im kakaobraunen Wasser versinkt.
Juditas Arme sind braungebrannt von zu viel Sonne, doch eine Gänsehaut überzieht sie, weil sie die Klimaanlage zu kalt eingestellt hat. Die Kühle fühlt sich luxuriös an. Judita betrachtet das weiße Ledersofa mit den Seidenkissen und fragt sich, wie es wohl wäre, ein bisschen darauf zu schlafen. In letzter Zeit schläft sie nicht viel, und wenn, dann ist es kein erholsamer Schlaf. Doch sie hat keine Zeit für ein Nickerchen, sie hat noch viel zu viel zu tun.
Gleich beginnt die Party. Der Esstisch hinter ihr - eine schwere dunkle Holzplatte mit Beinen so dick wie die von Elefanten - ist mit einem Dutzend Porzellantellern gedeckt, um die jeweils achtteilige Silberbestecke liegen. Eine ganze Reihe von Speisewärmern steht auf einer Anrichte, und das Zimmer duftet köstlich nach fremdartigen Gerichten.
«Ach, da bist du!», ruft eine Frau auf Englisch. Ihrem Blick nach ist sie wütend auf Judita, weil sie den Eingangsbereich verlassen hat, wo sie hätte warten sollen. Die Frau lächelt trotzdem, denn sie ist Amerikanerin, und Amerikaner lächeln nun einmal, selbst wenn sie wütend sind. Der Ausweis eines Limonadenproduzenten baumelt an einem Band um ihren Hals. Sie kramt in ihrer Tasche und holt ein paar 500-Peso-Scheine heraus, mit denen sie noch nicht einmal die Rechnung begleichen kann, von Trinkgeld ganz zu schweigen. «Ihr habt nicht genug Salat geliefert. Verstehst du, Schätzchen?»
Judita blinzelt sie an. «Sorry», sagt sie mit Mühe. «Mein Englisch, nur wenig.»
«Te olvidó ensalada.» Die Frau verzieht das Gesicht, als würden die spanischen Worte ihr Zahnschmerzen verursachen. «In zwei Stunden kommen die Gäste. Also, wem soll ich jetzt Salat geben und wem nicht? Das würde ich gern mal wissen.»
Judita versucht ihr zu folgen, dann zuckt sie die Achseln.
Die Frau seufzt und reicht Judita das Geld. «Ich bezahle nicht für etwas, das ich nicht bekommen habe. Aber das hier reicht für alles andere.» Sie kneift sich in den Nasenrücken und presst die Augen zusammen, weil ihr die ganze Welt heute so zusetzt.
Judita schaut auf das Geld, dann zu der Frau.
«Beim nächsten Mal überprüft ihr vielleicht mal die Bestellung.» Die Amerikanerin deutet zur Tür. «Ehrlich, das ist so typisch für euch.»
Judita radelt den Boulevard an der Rio de la Plata zurück zur Altstadt. Sie ist viel schneller ohne die Bestellung der Frau, die vorher an ihrer Lenkstange baumelte und mit jeder Umdrehung der Pedale gegen ihre Knie gestoßen hat. Wenn sie sich beeilt, kann sie in dreißig Minuten zurück im Restaurant sein. Aber es ist ein heißer Februarnachmittag, das Ende des Sommers, und die Luftfeuchtigkeit ist so hoch, dass sie sie förmlich sehen kann. Darum fährt sie lieber langsam.
Es herrscht viel Verkehr, doch Judita schlängelt sich wendig zwischen den zerbeulten Fiat hindurch und zwischen den neuen Geely in hellem Orange und Grün, die aussehen wie Spielzeugautos. Ein Laster stöhnt auf und schießt vorwärts, er hüllt Judita in eine schwarze Dieselwolke ein. Sie packt den Griff an der Rückseite und lässt sich eine Weile vom Laster mitziehen, dann löst sie die Hand und biegt nach Norden in Richtung der Plaza Independencia ab.
Es ist Touristensaison, und die Altstadt ist voller rosa Haut, Sandalen und teurer Kameras, die an Hälsen baumeln. Nach den Gesprächsfetzen zu urteilen, die sie im Vorbeifahren aufschnappt, sind es heute hauptsächlich Briten, und zwar ältere. Sie knipsen Bilder von einheimischen Kindern, die für die Kameras posieren und danach die Hand aufhalten. Die Touristen wollen typische Bilder der Armut, und welch ein Glück, dass sie sie direkt zwischen den hübschen Gebäuden der Altstadt finden, gerade mal zehn Minuten vom Bootsanleger entfernt. Wenn ein gutes Schiff am Hafen liegt, verdienen die mutigsten Kinder hundert Peso am Tag.
Um die Menschenmenge zu umgehen, biegt Judita links ab in eine Gasse, die so schmal ist, dass sie die Gebäude zu beiden Seiten mit ausgestreckten Armen berühren könnte. In der Hitze stinkt die Gasse nach Urin und gebratenem Fleisch.
Vor ihr wird eine Frau mit aufgetürmten blonden Locken von zwei elf- oder zwölfjährigen Jungen bedrängt. Sie streiten mit ihr auf Spanisch, sie antwortet auf Englisch. Sie blockieren die schmale Straße, und Judita schwingt ein Bein über das Fahrrad und rollt mit einem Fuß auf dem Pedal weiter.
Die Frau presst ihre Brieftasche fest an ihre Brust, doch die Jungs lassen sich nicht abwimmeln. Einer von ihnen greift nach ihrem Ohrring, und als sie seine Hand wegschlägt, reißt der andere ihr die Brieftasche aus der Hand. Die beiden rennen in Juditas Richtung, das Geschrei der Frau hallt von den Mauern wider.
Judita steigt vom Fahrrad, und als der Junge mit der Brieftasche vorbeilaufen will, streckt sie ihr Bein aus. Der Junge landet auf dem Kopfsteinpflaster, und die Brieftasche fliegt ihm aus der Hand. Der andere will sie fangen, doch Juditas Reflexe sind schneller, und sie schnappt sie ihm vor der Nase weg. Der Junge starrt sie an, und der andere Junge auf dem Boden sagt irgendwas über ein aufgeschlagenes Knie und dass sie lieber aufpassen soll. Dann rennen sie die Gasse hinab und verschwinden um die Ecke.
Die Touristin ist noch wie gelähmt vor Schreck, als Judita ihr die Brieftasche hinhält, und sie braucht volle zehn Sekunden, um zu begreifen, dass sie doch nicht gestohlen wurde. Als sie die Brieftasche an sich nimmt, tut sie es so vorsichtig, als sei sie vergiftet.
«Danke», sagt sie. Dann: «Gracias.» In ihren Augen kann Judita ihr Spiegelbild sehen: fleckiges T-Shirt, verschwitzte, schmutzige Haut. Die Frau öffnet die Brieftasche, nimmt einen 20-Peso-Schein und reicht ihn Judita, wobei sie darauf achtet, dass ihre Hände sich nicht berühren.
Judita schiebt ihr Fahrrad durch die Hintertür und in die Küche des Restaurants. Sie lehnt es an die Wand neben dem großen Kühlschrank, in dem die Steaks, Lammfleisch und Gemüse aufbewahrt werden - das beste Essen in ganz Uruguay, wie Judita den Schiffstouristen erzählt, die nur ein paar Blocks weiter anlegen. Emmanuel steht am Grill und wirft Judita einen Blick zu. Er weiß, dass er ihr zu wenig Salat mitgegeben hat, denn in diesem Jahr sind Tomaten und Gurken teuer, und er hofft, dass sie deswegen nicht rumzickt. Aber Judita zickt nicht rum, denn sie ist dankbar für den Job. Emmanuel schläft mit Mariela, der Besitzerin, und seine Meinung über das Personal zählt.
Judita bindet sich eine Schürze um und will durch die Küchentür hinausgehen, aber Mariela hält sie auf. Mariela ist groß und dick und trägt zu viel Make-up, und die Kunden finden sie unglaublich sexy. Sie schiebt sich ihre roten Haare hinter die Ohren und lächelt auf ihre besondere Weise. «Du bist dreckig», sagt sie. «Wasch dich erst mal.»
Judita nickt und überreicht Mariela das Geld von der Lieferung. Obwohl es zu wenig ist, gibt ihr Mariela eine Handvoll Peso als Trinkgeld. «Amerikaner», sagt sie. «Die wollen der Welt immer eine Lektion erteilen.»
In dem kleinen Bad, wo die Köche manchmal Gras rauchen, schrubbt sich Judita die Hände und Arme und das Gesicht mit der groben Scheuerseife. Sie vermeidet den Blick in den Spiegel so lange wie möglich. Ihr Gesicht ist schmal und hart - «abweisend» hat man es schon genannt. Der Blick aus ihren braunen Augen ist so durchdringend, dass jeder wegschaut. Sie solle mehr an ihrem Lächeln arbeiten, sagen die anderen Kellner, dann würde sie auch mehr Trinkgeld bekommen. Da sie keine Bürste hat, kämmt sie ihr tintenschwarzes Haar mit den Fingern und bindet es mit einem Gummiband zu einem kurzen Pferdeschwanz. Die Frisur hält ihr die Haare aus den Augen, sodass sie besser sehen kann. Und Judita muss alles sehen. Sie muss stets wachsam sein.
Das Restaurant ist laut und voller hungriger, grobschlächtiger britischer Touristen, die sich fast rohe Rinder- und Lammsteaks in den Mund schieben und brüllen: «He, Mädel! Mehr Wein, por favor.»
Judita hat diesen Job bekommen wegen den paar Brocken Alltagsenglisch, die sie beherrscht. Sie behält diesen Job, weil sie schnell ist und die Tabletts mit Essen auf einer Hand balancieren kann. Und weil sie niemals Nein zu Mariela oder den anderen sagt. Sie ist immer bereit, ihre Schichten mit jemandem zu tauschen, Erbrochenes vom Badezimmerfußboden aufzuwischen oder Bestellungen am anderen Ende der Stadt auszuliefern.
Von vier Uhr nachmittags bis ein Uhr morgens ist sie auf den Beinen - sie schwitzt, aber sie...
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